KRIS NEEDS

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There was punk before you were punk

Kris Needs, Jahrgang 1954, übernahm 1977 das bereits 1969 gegründete britische ZigZag-Magazin und machte es zu einer der wichtigsten Publikationen in Sachen Punkrock. 1982 war Punkrock dann kaum noch ein Thema – und das ZigZag stellte sein Erscheinen ein, doch Kris blieb dem Musikjournalismus treu. Bis heute schreibt er unter anderem für Mojo und Record Collector, und auch diverse Musikerbiografien hat er verfasst, etwa über Keith Richards, Joe Strummer und PRIMAL SCREAM. Letztere wiederum begleitete er in den Neunzigern vielfach Platten auflegend auf deren Touren, und auch als Musiker war und ist der Mann aktiv, der derzeit an der Neuauflage seiner Autobiografie arbeitet, die bereits 1999 erschienen war.

Sein aktuelles Projekt ist eine Kombination aus Buch und CD über die Geschichte der Musik von New York – eine CD für jedes Jahrzehnt seit den Vierzigern. Grund für mein Interview war allerdings die mit einem dicken Booklet versehenene Doppel-CD-Compilation „Dirty Water – The Birth Of Punk Attitude“, die sich mit offensichtlichen Bands wie MC5, THE STOOGES, NEW YORK DOLLS, ROCKET FROM THE TOMBS und SUICIDE dem widmet, was gerne als „Protopunk“ bezeichnet wird. Kris Needs geht aber noch etwas weiter, spannt den Bogen von THE STANDELLS und THE SEEDS über THE DEVIANTS und PINK FAIRIES bis zu Gene Vincent, aber auch FLAMIN’ GROOVIES, T. REX, THE MONKS, ZOLAR X, Sun Ra, DEATH, THE SENSATIONAL ALEX HARVEY BAND und DR. FEELGOOD, CAN, RED KRAYOLA, THE DICTATORS, THE HOLLYWOOD BRATS und THE SAINTS sind mit dabei. Ich ließ mir von Kris erzählen, was das alles mit Punk zu tun hat.

Kris, was verbindet die Musik, die dich interessiert?

Ich mag Musik, die Seele hat, der man anhört, dass die Musiker da ihre ganze Persönlichkeit reingelegt haben, dass sie mit Leidenschaft bei der Sache sind. Ich hasse überproduzierte Platten, die nichts mehr vom Künstler erkennen lassen, wo die Stimme mit AutoTune glattgebügelt wurde. Es scheint aber so, dass heutzutage jede Platte in den Charts mit AutoTune auf dem Gesang behandelt wurde. Ich denke, das ist einfach Faulheit: Anstatt an seiner Stimme, arbeitet man an den Aufnahmen, und von der eigentlichen Stimme des Musiker bleibt nichts mehr. Das passt wieder zu meiner Beobachtung, dass Musik heute sehr automatisiert erzeugt wird, was ihr wiederum die Seele nimmt. Musik kann man meiner Meinung nach nicht von ihrem Entstehungsort trennen. So ist viel gute Musik ist in New York entstanden, doch wenn du heute nach New York kommst, dann findest du eine saubere, aufgeräumte Stadt, und die Menschen, die dort schon lange leben, finden, die Stadt habe ihren „funk“ verloren. Es fehlen scharfe, klare Konturen, es ist nichts mehr gefährlich da, es wird nichts Neues mehr ausprobiert. Gute Musik transportiert immer auch einen gewissen Spirit, und den finde ich heute nur bei wenigen Bands.

Ist das nur die Meinung eines alten Mannes, der schon viele Bands hat kommen und gehen sehen, sieht jemand, der heute jung ist, das nicht anders?

Ich habe Töchter im Teenager-Alter, und die Bands, die sie mögen, wie MY CHEMICAL ROMANCE, sind Bands für Mädchen in ihrem Alter. Zum Glück interessieren die sich auch für ein paar der Bands, die ich mag, aber man sollte nicht erwarten, dass sie sich für die ROLLING STONES begeistern. Für die sind das nur ein paar alte Männer, auch wenn die heutigen Bands, die meine Töchter lieben, ohne die Stones nicht existieren würden, denn die haben ganz zu Beginn des Rock’n’Roll die harte Arbeit gemacht.

Jene Bands, die ganz zu Beginn harte Arbeit geleistet haben, finden sich auch auf deiner Compilation-CD. Warum ist die notwendig?

Wenn mal wieder ein Punk-Jubiläum ansteht und eines der großen Musikmagazine eine Punk-Sonderausgabe macht und eine CD mit den „essentiellen“ Bands beilegt, finden sich da die immer gleichen, wie STOOGES, MC5 und NEW YORK DOLLS. Okay, die habe ich auch, aber sie gehören einfach zur Geschichte dazu, und außerdem habe ich andere Tracks als die üblichen. Jeder einzelne Song auf der Compilation befindet sich da aus einem bestimmten Grund, denn meiner Meinung nach machte sich der Spirit des Punk nicht erstmalig 1976 bemerkbar, sondern schon früher. Und die Idee hinter der Compilation war die, dass der Punk-Spirit schon viel länger existierte, in verschiedenen musikalischen Ausprägungen. Ich arbeite derzeit an Volume 2, und die Bands sind noch weiter weg vom normalen Punk angesiedelt als die auf Volume 1.

Was ist es, das die Bands auf deiner Compilation verbindet?

Man muss sich bei jedem einzelnen Track vergegenwärtigen, in welcher gesellschaftlichen Situation, unter welchen Umständen diese Musik entstand. Deshalb habe ich auch zu jedem einzelnen Song ausführliche Linernotes verfasst, in denen ich erkläre, was der Hintergrund ist. Als diese Bands existierten, schrieben sie einfache, kurze Songs, etwa DR. FEELGOOD, und das zu einer Zeit, als andere Bands mit 20-minütigen Drumsoli und Drei-Stunden-Alben aufwarteten, als Rockmusik nur noch in Stadien stattfand und den Kontakt zu den Wurzeln des Rock’n’Roll, dem Einfachen und Primitiven verloren gegangen war – aus diesem Grund habe ich übrigens den Song von Gene Vincent mit drauf, denn der verkörpert das wie kein anderer. Jim Morrison bezog sich auf Gene Vincent, und Iggy Pop wiederum auf Jim Morrison. Das ist eine Kette, und die Verbindung zwischen diesen Musikern ist ihre Energie, ihr Wunsch nach Veränderung, der Versuch, so individuell zu sein, dass man aus der Masse herausragt, nachgeahmt wird und im Handumdrehen einen Trend begründet hat. Genau aus diesem Grund hätte auch Bo Diddley gut gepasst, und als MC5 damals aktiv waren, sorgten die richtig für Ärger, während andere 1967 den „Summer of Love“ feierten.

Der war dann auch bald zu Ende, und MC5, STOOGES und Co. zeigten, wie lahmarschig die Hippies waren.

Es war der Beginn einer sehr aufregenden Zeit. In New York etwa fingen die SILVER APPLES an, Musik zu machen, die bauten ihre eigenen Keyboards, und die D.I.Y.-Idee fing an sich zu verbreiten, eine Idee, die man auch mit dem Free Jazz und Leuten wie Albert Ayler in Verbindung bringen kann – der war in gewisser Weise auch ein Punk. Je weniger man sich um musikalische Eingrenzungen kümmert, desto mehr solche Musiker und Bands findet man. Da kann man dann auch bis zum Bebop der Vierziger oder zu Miles Davis zurückgehen – was Davis mit dem Jazz anstellte, brachte damals auch die alte Musikergarde gegen ihn auf. Ich habe mich über genau dieses Thema lange mit Martin Rev von SUICIDE unterhalten, der einst bei Lennie Tristano studierte, einem Free-Jazz-Musiker, der in Sachen Kompositionslehre als Pionier gilt. Seine Art mit Musik umzugehen, war wirklich fundamental neu. Entsprechend versuchten auch SUICIDE später, Wege zu beschreiten, die vor ihnen noch nie jemand gegangen war. Und aus dem „Summer of Love“ war mit Bands wie VELVET UNDERGROUND ein „Summer of Hate“ geworden, haha.

Wie hast du dann die Geburt des englischen Punkrocks erlebt, gab es da ein Schlüsselerlebnis?

Ich stand damals THE CLASH recht nahe, und als sie die Bühne betraten, waren sie eigentlich nur eine Rock’n’Roll-Band – was sie auch Zeit ihres Bestehens blieben –, doch sie waren lauter und schneller als die anderen Bands, und sie hatten was zu sagen, was sie auch klar unterschied. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Veränderung, welche die Band und Joe Strummer mitmachten: 1976 war Joe ein eifriger Verfechter der Stunde-Null-Idee, er wollte nichts an Musik vor diesem Zeitpunkt mehr akzeptieren. Und später dann mit „London Calling“ fingen sie nach ihrem USA-Besuch an, Einflüsse aus der Zeit vor 1976 zu verarbeiten, und Joe gab später mir gegenüber zu, dass er immer ein großer Fan von CAPTAIN BEEFHEART gewesen sei – und von Woodie Guthrie, dem er ja seinen Namen verdankt. Oder nimm Mick Jones, der immer schon ein großer Fan von MOTT THE HOOPLE und der ROLLING STONES war. John Lydon brachte es mal auf den Punkt, worum es bei Punk geht: „It’s what you are that counts, not what you wear.“ Und diese Attitüde vertrat ich auch immer, als ich das ZigZag-Magazin machte: Eine Uniform bleibt eine Uniform, auch wenn sie aus einer schwarzen Lederjacke, Stachelfrisur, drei Akkorden und Texten über Arbeitslosigkeit besteht. Bands, die gegen diese „Regel“ verstießen, stießen aber nicht selten auf feindselige Reaktionen, dabei war Punk doch eigentlich nur das Tun von unkonventionellen Menschen unter einem neuen Namen.

Eine Beschreibung, mit der du dich auch wohl fühlst?

Ja! In den Neunzigern war ich sehr als DJ aktiv, legte in Techno-Clubs auf, und viele der Leute, die mich dort ansprachen, kannten mich aus meiner Punk-Zeit, waren selbst alte Punks. Techno war damals der neue Punk, mit dieser riesigen Partyszene, gegen die die Polizei massiv vorging – nur der Beat war ein anderer.

Zudem warst du damals als Tour-DJ von PRIMAL SCREAM unterwegs.

Ja, ich habe vor dem Konzert der Band meine Platten aufgelegt, um die Leute „vorzuwärmen“. PRIMAL SCREAM waren damals bei der „Screamadelica“-Tour eine der ersten Bands, die einen eigenen DJ mit auf Tour nahmen, andere Bands griffen diese Idee auf, etwa THE PRODIGY.

Was legtest du damals auf?

So ziemlich alles. Ich verstand mich deshalb so gut mit PRIMAL SCREAM, weil wir alle einen sehr breit gefächerten Musikgeschmack hatten. Wir beschränkten uns nicht auf einen Stil, oder um es mit John Peel zu sagen: „Music should not be put in boxes.“ Und so fing ich mit Reggae an, machte mit Southern Soul weiter, dann etwas Dance und schließlich Punk.

Nun hat deine Compilation ja auch einen unbestreitbaren nostalgischen Aspekt. Stehst du dazu?

Ich hasse es, immer nur in nostalgischen Gefühlen zu schwelgen. Andererseits habe ich aber auch großen Spaß daran, „neue“ alte Bands zu entdecken, beispielsweise DEATH, eine schwarze Rock-Band aus Detroit aus den frühen Siebzigern, die etwas an MC5 erinnert. Auf die bin ich erst letztes Jahr gestoßen und war beeindruckt, wie großartig die waren.

Deren Song „Politicians in my eyes“ findet sich auf der Compilation. Welche anderen Stücke darauf sind für dich herausragend und besonders dazu angetan zu verdeutlichen, weshalb es Punk schon vor 1976 gab?

Aus ganz persönlichen Gründen finde ich, dass man die Bedeutung von MOTT THE HOOPLE niemals unterschätzen darf. 1969 gab es einfach keine andere Band wie sie, sie waren die Wildesten. Sie machten so viel Lärm wie Jerry Lee Lewis, und das Publikum zerlegte im Saal die Sitze. Es war völlig zügellose Musik, etwas ganz anderes als der sonst übliche Blues-Rock, sie waren extrem. Sie waren die Band, die mich mit dem Musik-Business in Verbindung brachte, denn ich kümmerte mich um ihren Fan-Club, und sie zeigten mir, was Rock’n’Roll mit dir anstellen kann. Eine andere unglaubliche Band sind SUICIDE. Die waren so einzigartig, die gingen immer ganz stur ihren Weg, ganz gleich was ihnen an Ablehnung entgegenschlug, etwa als Vorband von THE CLASH, als sie bespuckt und mit allem beworfen wurden, was zur Hand war. Ich stand da neben der Bühne, und SUICIDE dachten nicht daran zurückzuweichen. Sie waren der wahre Sound der Gosse von New York. Auch Detroit hat mich immer beeindruckt, John Sinclair und MC5, oder die unterschätzten THE UP, THE STOOGES ... die Musik dieser Stadt war einzigartig, die Bands von dort erkennt man sofort. Mancher mag verwirrt sein, dass mit den SILHOUETTES auch ein Doo-wop-Track enthalten ist, aber Punk wird immer mit D.I.Y. in Verbindung gebracht, und dazu passen Doo-wop-Bands – die waren so D.I.Y. und so arm, die hatten nicht mal Instrumente, die konnten dafür aber auch überall und jederzeit auftreten. Oder nimm CAN, die so unglaublich einflussreich waren, die bewegten sich ebenfalls in ihrem ganz eigenen Universum. Oder Sun Ra, der war so independent, der presste sogar seine Platten selbst – es sind solche Aspekte, die die Bands auszeichnen, die ich ausgesucht habe, und natürlich kommt noch der persönliche Faktor ins Spiel, denn viele der Bands habe ich live gesehen. Ich erinnere mich noch genau, wie sehr mich DR. FEELGOOD 1974 beeindruckten – vor Punkrock gab es in England den Pubrock, der aber leider auch bald sehr stereotyp wurde.