1979 nahm Jürgen Engler mit seiner Band MALE die Platte „Zensur & Zensur“ auf, die heutzutage vielen Menschen als Blaupause des deutschsprachigen Punk gilt. Später widmete er sich dem Industrial-Rock und erlangte mit DIE KRUPPS internationale Popularität. Mittlerweile lebt er in den USA und arbeitet als Produzent für das kalifornische Label Cleopatra Records. Jürgen Englers Weg von Düsseldorf aus in die weite Welt des Musikbusiness könnte abwechslungsreicher kaum sein. Das macht ihn per se zu einem interessanten Gesprächspartner. Und als die Anfrage nach einem Interview per Skype zwischen Deutschland und den USA an ihn rausging, war er auch sofort bereit. Es entwickelte sich ein Gespräch über Captain Kirk, Corona, hellseherische Fähigkeiten, den ultimativen wie geheimen Anti-Pandemie-Plan, die „Rock City No. 1“ Solingen, Szeneverrat und die Unsicherheit der Rampensau Campino, wenn der mit MALE auf der Bühne steht.
Jürgen, viele Grüße in die USA. Schön, dass du Zeit hast.
Kein Problem! Sag mal, das Ox ist doch ein Hamburger Magazin, oder?
Nein. Tatsächlich kommt es aus Solingen. Der selbst erklärten „Rock City No. 1“. Ich gebe zu, ich weiß bis heute nicht, warum die Stadt diese Bezeichnung hat.
Das kann ich dir sagen. Wahrscheinlich aus zwei Gründen. Erstens: ACCEPT kommen daher. Und direkt neben denen haben früher immer unsere Kumpels S.Y.P.H. geprobt. Und die sind ja so sehr Solingen, wie es nur geht. Die Storys von Harry Rag und Thomas Schwebel, die sich früher ständig mit ACCEPT und deren Lärm herumschlagen mussten, habe ich noch gut in Erinnerung, haha. Außerdem war ich vor Jahren häufiger mal in diesem Musikladen, City Musik, um Instrumente zu kaufen. Ich kenne Solingen also durchaus.
Hast du mit deinen Bands MALE oder DIE KRUPPS je dort gespielt?
Nein, nicht dass ich wüsste. Aber das hat einen einfach Grund und nichts mit einer Abneigung gegen die Stadt oder so zu tun. Das Problem, wenn wir DIE KRUPPS als Beispiel nehmen, ist, so ein Konzert hat ja überall die gleichen Produktionskosten. Egal ob in Köln oder eben Solingen. Aber in Köln kommen dann eben mehr Leute. Darum haben wir bislang – und vor Corona – immer nur in den, wenn du so willst, Metropolen gespielt. Auch in NRW. Köln, Oberhausen, Düsseldorf beispielsweise. Wobei Düsseldorf ja keine richtige Metropole ist, haha.
Aber deine Geburtsstadt. Verbindest du noch Heimatgedanken mit Düsseldorf?
Nicht so sehr mit Düsseldorf, sondern eher mit dem Stadtteil Bilk, in dem ich aufgewachsen bin. Das war und ist so mein Eckchen. Da hänge ich nach wie vor dran. Wenn ich in Düsseldorf bin, dann steige ich dort immer ab. Da gehe ich dann sogar ins Hotel, schaue mir den großen Flohmarkt an und besuche viele der Läden und Restaurants, die ich noch von früher kenne. Und meist treffe ich dann auch meinen alten Englisch- und Musiklehrer vom Geschwister-Scholl-Gymnasium, der dort lebt. Der ist sehr glücklich über meine Entwicklung. Der hat sogar mal im Unterricht DIE KRUPPS durchgenommen und kann jetzt sagen: „Der Typ, der früher beim ersten MALE-Konzert in der Schulaula die Deutschlandfahne verbrannt und bei mir Englisch gelernt hat, singt jetzt englische Texte in einer international erfolgreichen Band!“ Haha.
Wenn du gerade von deinem ehemaligen Lehrer sprichst: Hast du schon mal geschaut, ob du auf der Wikipedia-Seite deiner alten Schule als „Persönlichkeit“ geführt wirst?
Nein, noch nicht. Ich war aber mal bei „Stay Friends“ registriert. Dort können die User ja ehemalige Schulkameraden suchen und online mit ihnen in Kontakt treten. Und da gab es eine Funktion, mit der man jeden Teilnehmer irgendwie beschreiben konnte – etwa als „Sportskanone“ oder „Streber“ oder so was. Und bei mir haben seltsamerweise fast alle „Revoluzzer“ angeklickt, haha. Das scheint sich eingebrannt zu haben!
Ich schaue gerade mal nach. Du stehst tatsächlich als der Revoluzzer dort in der Liste.
Ach, komm! Hör auf!
Doch, doch. In einer Reihe mit Hugo Henkel, dem Erfinder des Waschmittels „Persil“.
Das gibt’s doch nicht, haha. Aber schön ist es!
Wie war denn damals das Verhältnis des Revoluzzers Engler zu den Lehrern?
Der erwähnte Musik- und Englischlehrer war der einzige, den ich wirklich mochte. Denn den anderen schielte noch die NS-Zeit aus dem Knopfloch. Die Schule ist zwar nach den Geschwistern Scholl benannt, aber da liefen wirklich viele alte Nazi-Schergen im Kollegium rum. Er war der einzige, der anders war. Ein guter Typ. Ein gebürtiger Schotte. Und der einzige, bei dem mir das Lernen Spaß machte. Wie gesagt, wir haben immer noch Kontakt und begegnen uns häufig. Ich habe schon mal bei ihm übernachtet. Er gibt selber ab und an Konzerte und lädt mich immer dazu ein. Und er findet es richtig cool, dass ich in den USA lebe. Er hat uns damals immer schon erzählt, wie er vor seiner Lehrerzeit eine große Amerikareise gemacht und alle möglichen Arten von Musik in den USA gehört hat.
Apropos USA, du lebst in Austin, Texas. Diese Stadt wird nicht „Rock City Number 1“ genannt, sondern „Live Music Capital Of The World“.
Tja, jetzt gerade zwar nicht ...
Aber außerhalb der Corona-Pandemie.
Genauso ist es. Das ist vergleichbar mit Düsseldorf, du hast in Austin auch einen Quadratkilometer als Altstadt. Aber da ist dann kein Woolworth oder Kaufhof dazwischen. Da ist nur ein Club neben dem anderen. Und in jedem einzelnen davon spielen von nachmittags bis nachts Live-Bands. Jeden Tag. Keine Partys. Sondern Konzerte. So viel Live-Musik wie hier gibt es wirklich nirgendwo. Der absolute Overkill. Für jede Sparte. Es gibt Clubs, da gibt es 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Reggae. Andere haben Rockabilly im Angebot, Industrial, Country, Blues, Rap, Jazz ... Da fehlt nichts. Und so was habe ich wirklich noch nirgendwo anders erlebt.
Austin ist somit von Corona wahrscheinlich besonders hart betroffen, oder?
Ich war jetzt, eben wegen Corona, schon länger nicht mehr wirklich draußen – seit Februar tatsächlich! Und ich lebe auch eher am Stadtrand von Austin. Sprich: ich bin nicht direkt dort, wo die Clubs sind. Aber ich weiß, die meisten Läden sind derzeit dicht oder zumindest nicht für jeden uneingeschränkt geöffnet.
Konntest du seit dem Beginn der Pandemie überhaupt irgendetwas Musikalisches machen?
Ich habe ja als Produzent bei Cleopatra Records quasi jeden Tag mit Musik zu tun. Ich habe nur länger nicht mehr auf einer Bühne gestanden. Und das wird auch so bald nicht passieren, wenn die Leute nicht bald aufwachen und langsam lernen, mit ihrem Arsch zu Hause zu bleiben. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass – je mehr Zeit sie draußen verbringen und je mehr sie diese Scheiße weiter streuen – es so weitergehen wird. Ich kann es absolut nicht verstehen, warum die Leute keinen gesunden Menschenverstand haben. Ich kann nicht verstehen, dass man ihnen wirklich erklären muss, was sie zu tun haben. Ich sehe ja auch hier in den USA, wie sie in Berlin oder München zu Tausenden Party machen und demonstrieren. Es ist unfassbar, wie blöd die Menschen sind. Aber sie werden irgendwann merken, dass sie sich selber ins Knie schießen damit. Ich sehe nicht, dass vor Mai nächsten Jahres irgendetwas stattfindet. Eigentlich sehe ich überhaupt noch kein Ende dieser Misere. Wir selber haben mit DIE KRUPPS ja auch immer wieder Konzerte verschoben.
Was kann man als Musiker derzeit tun?
Ich habe ein Konzept entwickelt, das ich den Konzertveranstaltern bald unterbreiten möchte. Es gibt meines Erachtens nach nur einen Weg, um wieder Konzerte stattfinden lassen zu können. Diesen Weg.
Klingt spannend. Welcher Weg ist das?
Das kann ich noch nicht verraten. Nur so viel: es geht auf jeden Fall um Masken.
Das ist nun ziemlich wage ...
Ja, es mag sich wage und seltsam anhören, aber ich möchte noch nichts verraten. Ich kann nur sagen, ich habe das alles vorausgesehen.
Spielst du damit auf das DIE KRUPPS-Album „Vision 2020 Vision“ vom vergangenen Jahr an?
Ja, auch. Da war ich auf Europatour schon der Einzige der ganzen Crew, der eine Maske getragen hat. Damals haben mich alle gefragt: „Warum machst du das? Was soll das?“ Meine Antwort: „Weil ich mich nicht anstecken möchte.“ Ich hatte bereits eine Vision, dass da irgendwas in der Luft ist. Ganz abgesehen davon, dass um diese Zeit – Herbst und Winter – ja in Europa immer die Grippe rumgeht. Und die wollte ich mir nicht einfangen. Habe ich auch nicht. Ich war der Einzige, der gesund blieb.
Bitte schildere doch noch mal genauer die Sache mit der Vision. Wuhan und Corona waren zum damaligen Zeitpunkt ja noch gar nicht Gesprächsthema.
Das nicht. Aber ich hatte sie einfach plötzlich, diese Vision. Dieses Gefühl. Wirklich. Hört sich verrückt an. Ist aber so.
Kam das bei dir, als du die Songs geschrieben hast?
Exakt. Ich habe einfach auf eine seltsame Art gespürt, dass sich da etwas entwickeln könnte. Weißt du, ich schaue jeden Tag immer und überall Nachrichten. Von morgens bis abends. CNN. Deutsche Nachrichten. Alles. Und das hat natürlich Einfluss darauf, was ich mache, tue, wahrnehme. Das hat Einfluss auf meine Arbeit, meine Texte. Und ich wusste, wir werden Probleme bekommen. Weltweit. Und das alles fand Eingang auf „Vision 2020 Vision“.
Kommen wir einmal auf deine Produzententätigkeit für Cleopatra-Records zu sprechen. Dieses Label aus Los Angeles bringt ja durchaus auch skurrile Sachen raus. Das Album von David Hasselhoff mit all den Cover-Songs zum Beispiel. Oder die Platte von William Shatner, dem Captain Kirk aus „Star Trek“.
Die habe ich gemacht! Und das Interessante an dieser Tätigkeit, ist, die Zusammenarbeit ist immer unterschiedlich. Captain Kirk ist zum Beispiel ein ganz anderer Typ als David Hasselhoff. Hasselhoff hat mich vor ein paar Tagen erst noch angerufen: „Hey, Jurgen, buddy! How are you doing? I just listened to ECHO & THE BUNNYMEN. Do you know them? Great band!“ Er ist ein sehr lauter Kerl, der den Kontakt hält und sich immer wieder meldet, seitdem wir zusammen seine Coverversionen von THE JESUS AND MARY CHAIN oder LORDS OF THE NEW CHURCH aufnahmen. William Shatner dagegen ist ein sehr straighter Typ. Die Gespräche mit ihm sind immer sehr kurz, prägnant, auf den Punkt und sehr nett. Er will häufig technische – auch gesangtechnische – Tipps haben. Ob er die Vocals lauter machen solle oder so. Er ist sehr fokussiert. Andere Musiker, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren Nik Turner von HAWKWIND, Mitch Ryder, die PINK FAIRIES.
Dann gib uns doch mal bitte einen noch genauen Einblick in den Label-Alltag. Wie läuft deine Arbeit ab?
Manche Musiker kommen zu mir nach Austin. Andere schicken ihre Files. Das ist ganz unterschiedlich. Und manchmal passieren echt verrückte Sachen. Nimm Iggy Pop. Für ihn habe ich einige Songs gemacht. Er hat mir immer nur Mails geschickt und sich darin als sein eigener Manager, als Spencer Weissberg, ausgegeben – was natürlich schnell auffiel, denn sein richtiger Name ist ja James Osterberg. Und der stand in der Adresszeile. Sly Stone wiederum hat seine Songdemos in einem Van auf einem Kassettenrekorder aufgenommen – weil er da lebte. Da musste ich einiges an Sound retten, weil diese Aufnahmen so schlecht waren. Geholfen hat mir dabei eine ehemalige Background-Sängerin von David Bowie.
Klingt nach einem „Who’s Who“ des Business. Das alles wäre dir in Düsseldorf wohl nicht passiert ...
Nein. Wenn du, überspitzt gesagt, aus Düsseldorf kommst, dann dümpelst du da mit ein paar Personen rum. Hier aber bin ich in den vergangenen Jahren mit den verrücktesten Typen zusammengekommen. Das ist unglaublich! Wenn ich in Deutschland geblieben wäre, hätte ich als Produzent wahrscheinlich nur ein paar Remixe abgekriegt, haha. Aber hier? Habe ich immer noch jede Menge Zeug auf dem Schreibtisch liegen. Jeden Tag kommt etwas Neues rein.
Cleopatra Records scheinen auf jeden Fall ein Sammelbecken für Außergewöhnliches und Ausgefallenes zu sein.
Ich sage es mal so: Das Label ist extrem breit gefächert. Da brauche ich nur mal einen kurzen Blick in die Liste der Dinge zu werfen, die ich zuletzt über Shatner und die anderen erwähnten Sachen hinaus noch so gemacht habe. Etwa alte MOTÖRHEAD-Songs neu abgemischt, die noch nie veröffentlicht worden waren. Bei THE SWEET war es das Gleiche. Zudem Reggae-Sachen von Yellowman. Eine alte EVERLY BROTHERS-Platte. Ich habe ein Album von Doctor John, einem verstorbenen Blueser, neu abgemischt. Verschiedene Songs von R&B-Artists bearbeitet. Tracks von P.M. DAWN produziert – die machen Rap. Du siehst: da kommt einiges zusammen.
Gibt es bei all diesem Namedropping einen Künstler, mit dem du unbedingt noch mal etwas zusammen machen willst – und der Captain Kirk oder David Hasselhoff vielleicht sogar toppen könnte?
Ja, aber das ist leider nicht mehr möglich ... Weißt du, bei vielen Projekten, die wir machen, sind ja musikalische Gäste dabei. Und schwierig zu finden sind diesbezüglich vor allem gute Keyboarder. Meist ist dann, wenn wir vergeblich einen suchen, mal wieder Rick Wakeman am Start. Vor ein paar Jahren habe ich dann Jimmy Winston von den SMALL FACES kennen gelernt. Der lebte in Austin, wie sich herausstellte. Und wir wollten unbedingt mal etwas zusammen machen. Auch weil ich ein riesiger SMALL FACES-Fan bin. Aber er ist leider in diesem Jahr verstorben. Das ist sehr schade.
Welche junge Band hat dich als Produzent zuletzt richtig gepackt?
In den vergangenen Jahren, ehrlich gesagt, keine. Der erste Grund dafür ist, ich komme einfach nicht mehr so viel raus. Ich komme nicht mehr dazu, mir neue Sachen anzuhören oder neue Bands anzusehen. Der zweite Grund ist, dass das meiste, was ich heutzutage höre, wie Musik klingt, die ich schon kenne. Es gibt keine Entwicklung mehr. Das ist nicht mehr so wie in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern, als du alle drei Jahre eine neue Bewegung hattest. Mittlerweile ist da viel zu vieles glattgebügelt. Und diesen Sound hasse ich! Du hörst den Produktionen nichts Rohes mehr an. Es ist nichts mehr greifbar. Alles nur noch Schrott auf Copy-and-Paste-Basis. Nach dem Motto: Schreibe vier Takte Musik – und kopiere die immer und immer wieder. Und wiederhole die dann bis zum Gehtnichtmehr ...
Man hört dir deine Begeisterung für die Arbeit bei Cleopatra deutlich an. Wie wichtig ist dir im Vergleich zu dieser Tätigkeit die Arbeit mit DIE KRUPPS?
Die sind natürlich schon sehr wichtig für mich – auch wenn wir erst mal keine Konzerte spielen können. Aber ich möchte eben die Produzententätigkeit nicht mehr missen.
DIE KRUPPS sind international bekannt. Kennen die Leute in den USA auch MALE?
Nein. Manche wissen, dass ich früher mal in einer Punkband gespielt habe. Aber MALE kennt hier keiner.
Vor zwei Jahren habt ihr im Rahmen des „Lieblingsplatte“-Festivals mit MALE im Düsseldorfer Zakk eure Platte „Zensur & Zensur“ einmal komplett durchgespielt. Ich war auch vor Ort und erinnere mich an eine interessante Anekdote. Irgendwann stand nämlich Campino auf der Bühne – und bekam ein Mikrofon eher am Bühnenrand zugewiesen. Er fragte daraufhin: „Soll ich wirklich hier stehen und hier reinsingen?“ Und das klang für mich wie für viele andere, die da waren, so nach: Ich stehe normalerweise im Zentrum. Im Mittelpunkt. Da geht das hier mit dem Mikro am Rand ja mal gar nicht! Hast du das mitgekriegt?
Ja. Aber ich sage es mal so, es ging ihm sicher nicht darum, dass er mal nicht im Mittelpunkt stand. Er war einfach unsicher. Campino ist ein sehr feinfühliger Mensch und man darf nicht vergessen, wir sind nicht nur schon lange Kumpels – er war vielmehr früher schon ein riesiger MALE-Fan! Er hat ja mit ZK sogar den Support für uns gemacht und wollte damals immer schon auf die Bühne und mit uns singen. Auch wenn er heute mit den Hosen im Stadion spielt, MALE sind einfach etwas Besonderes für ihn. Wir haben nach der Show übrigens noch Stunden zusammengesessen und er hat dabei von früher geschwärmt. Glaube mir, für ihn war dieses Konzert wirklich etwas Spezielles. Und das, obwohl er es mir damals ja total übel genommen hat, als ich aus der Punk-Szene rausgegangen bin, haha.
Warum bist du „rausgegangen“?
Weil die Szene immer asozialer wurde. Die erste Welle von Punks, mit uns und Peter Hein und so, war noch gebildet. Soll heißen, wir haben wirklich noch etwas gemacht außer saufen. Danach, in der zweiten Welle, entdeckte dann aber die Vorstadt den Punk für sich. Da kamen all diese Vorstadtprolls dazu. Und die haben die Szene runtergewirtschaftet. Die wollten nur die Sau rauslassen. Sonst nichts. Und wo sind die alle gelandet? Die sind jetzt wahrscheinlich ganz biedere, normale Hanswürste. Vor denen wollte ich jedenfalls nicht spielen. Ich hatte damals mit Campino einmal eine Diskussion bei einem gemeinsamen Konzert in Cloppenburg. Er war da zu dieser Zeit schon anders gepolt als ich und sagte zu mir: „Aber warum willst du denn nicht mehr vor denen auftreten? Die sind doch auch unser Publikum.“ Ich machte ihm klar: „Nein. Nicht meins. Ich will das nicht. Ich will nicht für einen Haufen Mantafahrer auf die Bühne gehen.“
Also haben dich – überspitzt gesagt – tatsächlich die Mantafahrer und Schnauzbärte zum Szene-Verräter gemacht?
Ja, aber über diese Prolls hinaus hatte ich damals auch noch ein weitere, ein einzelnes Schlüsselerlebnis, das mich in diesem Entschluss bestärkte ...
Nämlich?
Wir waren für THE CLASH Support in Düsseldorf und fuhren in unserem kleinen Opel-Kadett vor die Halle. THE CLASH dagegen kamen mit ihrem Sattelschlepper und Nightliner – und zwar Stunden zu spät. Dabei stand noch der Soundcheck an. Erst ihrer. Dann unserer. So war der Plan. Anstatt sich jedoch zu beeilen, spielte Mick Jones erst mal eine halbe Stunde Fußball in der Halle. Dann fingen sie an – und probten gefühlt stundenlang irgendwelche Chuck Berry-Nummern anstelle ihres eigenen Sets. Und es ist nicht schwer zu erraten, dass wir natürlich nicht mehr an die Reihe kamen mit dem Soundcheck. Als man uns sagte „Jetzt könnt ihr raufgehen und proben“, stürmten vielmehr schon die Leute in die Halle. Dumm gelaufen. Und es kam noch schlimmer: Irgendwann kam nämlich der Tontechniker der Band auf uns zu und fragte uns, was wir denn für den Auftritt bekämen. Wir sagten: „200 Mark.“ Die wollte er haben, um uns an die PA anzuschließen – wir hatten ja nur kleine Kofferverstärker. Als wir ihn mit Hinweis darauf, dass wir ja selber auch Kosten zu bestreiten hätten, auf 100 Mark runtergehandelt hatten und loslegten, merkten wir, dass er uns dafür auch nur die Hälfte an Equipment zur Verfügung stellte: Wir bekamen einen einzelnen weißen Strahler. Und die Monitore waren nicht angeschaltet. Und wenn du auf einer Bühne wie der in der Philipshalle damals keinen Monitor hast, dann hörst du kein Stück von dem, was deine Mitmusiker auf der anderen Seite der Bühne spielen. Es war also ein Blindflug. Und danach war für mich klar: „Wir sind alle Punk? Wirklich? Wir sitzen alle im selben Boot? Ist klar!“ Nein. Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Das war es für mich. In diesem Moment war mir klar, ich mache etwas anderes. Ich war zwar noch Punk im Herzen, wollte aber mit diesem Scheiß nichts mehr zu tun haben.
Was gibt dir Punk heutzutage noch?
Viel! Der Grundgedanke, der dahinter steckt, ist ja immer noch toll. Das bleibt. Und die alten Scheiben habe ich bis heute alle aufbewahrt. Aber die für mich interessante Punkmusik hört eben um1980 herum auf. Da war der Punk in England ja auch schon durch. Genauso wie in Deutschland.
Jürgen, du bist kürzlich sechzig geworden ...
Nein. Ich wurde vierzig ...
Okay. Und DIE KRUPPS wurden zwanzig anstatt vierzig, richtig?
Genau, haha. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst. Es ist wirklich unglaublich, wie die Zeit vergeht. Aber ich kann dir sagen, ich fühle mich wie mit zwanzig. Mehr noch, wenn ich auf der Bühne stehe, dann fühle ich mich sogar noch besser als etwa in den Neunziger Jahren. Da war ich nach eineinhalb Stunden fertig und habe nach der Hälfte eines Konzerts jedes Mal gedacht: Himmel! Wie soll ich denn den Rest noch durchstehen? Heute habe ich viel mehr Energie. Bin noch unglaublich mobil. Ich praktiziere nur nicht mehr so viel Headbangen, haha.
Apropos Energie: Wie sieht es denn mit der Schublade daheim aus? Liegt da vielleicht ein neues MALE-Album drin?
Ja, das tut es. Wir haben schon vor Jahren quasi ein komplett neues Album, 17 Songs, aufgenommen. Die haben wir nur nie fertig gemacht. Die Gitarren- und Bassparts fehlen noch. Und die Texte. Aber der Rest steht. Wenn alles klappt, dann könnten wir es vielleicht im Frühjahr 2021 veröffentlichen. Und was DIE KRUPPS angeht: Da arbeiten wir an einem Coveralbum. Mit Songs von MANOWAR, STRANGLERS, DICTATORS, THE 69 EYES – das wird richtig spannend.
Wird David Hasselhoff mitmischen?
Wenn ich ihn fragen würde, wäre er sofort dabei, haha! Wenn du dir mal die Rocknummern von seinem Cleopatra-Album anhörst, die sind alle super gesungen, das würde also passen!
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Cleopatra Records
Das Label wurde 1992 in Los Angeles von Brian Perera gegründet. Ursprünglich lag das Hauptaugenmerk auf Industrial-Bands (LEÆTHERSTRIP, THE ELECTRIC HELLFIRE CLUB). Ebenso brachten aber auch THE VIBRATORS, die UK SUBS oder THE DAMNED als Protagonisten des englischen Punkrock ihre Platten bei Cleopatra heraus. Über die Jahre kamen zahlreiche weitere Künstler aller Sparten auf mehreren Sub-Labels hinzu. Von Country und Folk (Willie Nelson, Jackson Browne, Don McLean) über Rap und Progressive Rock (NEKTAR, AMON DÜÜL, YES) bis hin zu Neo-Rockern aus Leidenschaft wie David Hasselhoff. Der sorgte mit seiner Coverplatte „Open Your Eyes“ 2019 für viel Aufsehen, da er hier nicht auf Pop oder „Looking for freedom“-Krawallschlager machte, sondern Songs von LORDS OF THE NEW CHURCH oder THE JESUS AND MARY CHAIN sang – unterstützt unter anderem von THE STOOGES-Gitarrist James Williamson. Auch das aktuelle Album „Vision 2020 Vision“ von DIE KRUPPS kam im vergangenen Jahr auf Cleopatra. Ein Reinfall hingegen war zuletzt „Sings Elvis“ von DANZIG- und MISFITS-Schreihals Glenn Danzig, soundtechnisch übel vom Künstler selbst produziert.
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Jürgen Engler
Düsseldorf ist ja durchaus bekannt für Musiker, die auszogen, um international bekannt zu werden. KRAFTWERK etwa erfanden die Electronic-Musik, bereiteten Techno und Wave den Boden und werden von Superstars wie DEPECHE MODE als Inspirationsquelle genannt. DIE TOTEN HOSEN entwickelten sich von Punks zu Stadionrockern, die ältere Hörer in der eigenen Revoluzzervergangenheit schwelgen lassen und junge Fans in die Punkwelt einzuführen imstande sind. Und Jürgen Engler? Der erfand mit seiner Band MALE und deren Album „Zensur & Zensur“ im Jahre 1979 nach Lesart mancher Beteiligter nicht nur den Punk und prägte die Szene rund um den Ratinger Hof in Düsseldorf. Er entpuppte sich auch als internationaler musikalischer Exportschlager des Rheinlandes und hinterließ am Mikrofon von DIE KRUPPS im Industrial relevante Spuren. Zudem wanderte er in den Neunziger Jahren in die USA aus, ließ sich in Austin, Texas nieder, wurde amerikanischer Staatsbürger und verdingt sich neben seiner Tätigkeit als Musiker mittlerweile auch als Produzent beim Label Cleopatra Records, dessen Sitz in Los Angeles ist. Sein neuester Clou ist die Gründung der Band DIE KLUTE, einer Industrial-Supergroup, in der neben Engler noch Dino Canizares von FEAR FACTORY sowie Claus Laren von LEÆTHERSTRIP mitwirken. Das Debütalbum der Band, „Planet Fear“, erschien 2019, natürlich auf Cleopatra Records. Die aktuelle Platte von DIE KRUPPS wiederum heißt „Vision 2020 Vision“ und kam ebenfalls im vergangenen Jahr heraus. Derzeit arbeitet Engler zudem an einem neuen MALE-Album.
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Diskografie
MALE: „Zensur & Zensur“ (LP, Modell Musik, 1979) • „Die Toten Hosen ihre Party“ (7“, Teenage Rebel, 1991) • DIE KRUPPS: „Stahlwerksynfonie“ (LP, Zickzack, 1981) • „Volle Kraft voraus!“ (LP, WEA, 1982) • „Entering The Arena“ (LP, Statik, 1985) • „I“ (LP, Our Choice/Rough Trade, 1992) • „A Tribute To Metallica“ (CD, Our Choice/Rough Trade, 1992) • „II – The Final Option“ (LP, Our Choice/Equator, 1993) • „III – Odyssey Of The Mind“ (LP, Our Choice, 1995) • „Paradise Now“ (CD, Our Choice, 1997) • „The Machinists Of Joy“ (CD, Synthetic Symphony, 2013) • „V – Metal Machine Music“ (CD, Oblivion/Steamhammer, 2015) • „Stahlwerkrequiem“ (CD, Bureau B, 2016) • „Vision 2020 Vision“ (LP, Oblivion, 2019) • DKAY.COM: „Decaydenz“ (CD, Zomba/Our Choice, 2000) • „Deeper Into The Heart Of Dysfunction“ (CD, Zomba/Our Choice, 2002)• DIE KLUTE: „Planet Fear“ (LP, Cleopatra, 2019)
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1960
Jürgen Engler wird in Düsseldorf geboren, wächst im Stadtteil Bilk auf und besucht das Geschwister-Scholl-Gymnasium, an dem Jahrzehnte später unter anderem auch Koljah Podkowik vom der ANTILOPEN GANG lernen wird.
1976
Gründung von MALE. Während eines Schulkonzerts mit MALE verbrennt Engler auf der Bühne eine Deutschlandfahne – eine bis heute in der Stadt legendäre Aktion.
1979
Veröffentlichung des bislang einzigen Albums „Zensur & Zensur“, das für viele die Blaupause des deutschsprachigen Punkrock darstellt. Es folgen über die nächsten Jahre noch einige Singles, darunter 1991 „Die Toten Hosen ihre Party“, eine Anspielung auf die B-Seiten-Nummer „Jürgen Englers Party“ der ersten Single der DIE TOTEN HOSEN „Wir sind bereit“ (1982).
1980
MALE lösen sich auf, Engler wendet sich enttäuscht von der ihm zu prollig gewordenen Punk-Szene ab – und gründet DIE KRUPPS, die über die Jahre zig Besetzungswechsel erfahren und in Engler die einzige Konstante haben – abgesehen von Ralf Dörper (Samples, Keyboards), der mal weg (etwa bei PROPAGANDA) und irgendwann wieder dabei ist. Bis heute.
1981
Das Debütalbum „Stahlwerksynfonie“ von DIE KRUPPS erscheint. Es gilt bis heute als Meisterwerk des Industrial Metal und als Meilenstein der Band, das internationalen Status erringen soll.
1985
DIE KRUPPS lösen sich erstmals auf.
1987
Engler gründet das Label Atom H, für das er vor allem Speed- und Thrash-Metal-Acts verpflichtet.
1989
DIE KRUPPS kommen wieder zusammen.
1992
DIE KRUPPS bringen das deutlich vom Metal inspirierte Album „T“ heraus, an dem auch Mitglieder von ACCUSER mitwirken. Zudem spielt er ein Tribute-Album an METALLICA ein, was dazu führt, dass Engler sich mit deren Drummer Lars Ulrich anfreundet und mit dessen Hilfe einen Vertrag beim Label Hollywood Records bekommt.
1993
Mit Lee Altus (gt) und Darren Minter (dr) von den Thrashern HEATHEN stoßen zwei Mitglieder zu DIE KRUPPS, die den Sound der Band verändern und – auch wenn sie heute nicht mehr dabei sind – für die Zukunft prägen werden. Mit ihnen wird das Album „II – The Final Option“ eingespielt, das DIE KRUPPS noch einmal eine Popularitätsstufe höher katapultiert – bis hin zum Auftritt beim niederländischen Dynamo Festival.
1997
DIE KRUPPS lösen sich zum zweiten Mal auf – auch weil sie nach dem Erfolg von „II“ musikalisch stagnieren. Er gründet gemeinsam mit Chris van Helsing (Phillip Boa), Julian Beeston (NITZER EBB) und Adam Grossman die Band DKAY.COM, mit der er eher Elektropop spielt und 2000 das Debütalbum „Decaydenz“ sowie 2002 „Deeper Into The Heart Of Dysfunction“ aufnimmt.
2005
DIE KRUPPS kommen zum 25. Geburtstag wieder zusammen. Engler lebt mittlerweile in den USA und arbeitet dort als Produzent für das Label Cleopatra Records.
2006
Die Best-Of-Compilation „Too Much History“ erscheint. Alle Songs sind neu eingespielt. „5 Millionen“ und „The great divide“ sind sogar gänzlich neue Stücke.
2018
Jürgen Engler spielt im Düsseldorfer Zakk mit den seit 2002 wieder aktiven MALE das Album „Zensur & Zensur“ einmal komplett durch. Campino kommt dabei auf die Bühne und singt bei „Die Toten Hosen ihre Party“ mit. Zudem gründet Engler die Supergroup DIE KLUTE.
2019
Nach „The Machinist Of Joy“ (2013) und „V – Metal Machine Music“ (2015) kommt mit „2020 Vision 2020“ ein neues Album heraus, auf dem DIE KRUPPS eine verheerende Bestandsaufnahme der Welt liefern – und tatsächlich das Seuchenjahr 2020 irgendwie vorwegnehmen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #153 Dezember/Januar 2020 und Frank Weiffen