JOY DIVISION

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Dead Man Walking – Licht und Blindheit

In der Nacht zum 01. April 1876 stieg der philosophische Autodidakt Philipp Mainländer – der zum Nukleus des poetosophischen Pessimismus’ des 19. Jahrhunderts zählte – auf den Dachboden seines Hauses, baute sich aus seinem Opus Magnum (im Wesentlichen die Schriften zur „Philosophie der Erlösung“) ein Podest, um sich zu erhängen. Mainländer hatte sich Zeit seines Lebens mit der Philosophie der Erlösung beschäftigt, eine schwarze Symphonie in seinem Film Noir-Kopfkino, ein mit letztem existentiellen Einsatz betriebenes Gedankenspiel in der Grauzone. Hätten sich Mainländer und Ian Curtis im Winter 1978/79 gemeinsam in jenem Raum ohne Fenster getroffen, von dem Ian Curtis in „Shadowplay“ singt („In a room with no window in the corner I found truth“), wären die Dunkelheit und tiefe Katharsis in allen Songs von JOY DIVISION vermutlich noch manifester zu Tage getreten.

Auch Curtis wählte den Suizid, der stets als finales romantisches Element eines Künstlers in der Rockmusik mystifiziert wurde. Doch Curtis war kein romantischer Held – noch hatten seine Lyrics romantische Visionen: im Gegenteil. Sie drehten sich um Beobachtungen der – seiner – menschlichen Konditionierung in der Welt seiner Zeit: im postindustriellen Nordwesten Englands, wo Armut und Hoffnungslosigkeit mit der industriellen Blütezeit vergangener Tage kontrastierten. Die Texte von Curtis, der sehr interessiert war an der Literatur von William S. Burroughs, J.G. Ballard sowie deutscher und russischer Philosophie, hatten stets etwas von einem stillen Aufschrei: „He was obviously an intelligent, sensitive man trying to make sense of a world he couldn’t understand. His songs, the songs of JOY DIVISION, point out that there is no romance in life. Curtis’ unfortunate, ugly death prints out, that there is no romance in suicide, either“ (S. Grant, Trouser Press, 1982).

Obgleich Curtis niemals ein Geheimnis aus seiner Faszination hinsichtlich jung gestorbener Helden machte (seine Frau Deborah Curtis betont dies mehrfach in ihrer Biografie über Ian Curtis „Touching from the distance“ (1995), was soweit ging, dass er sich eine rote Jacke kaufte, um es James Dean gleich zu tun. Deborah Curtis schrieb später: „He wanted to be that rebel but, like his hero, he didn’t have a cause either.“), war es keine völlig unreflektierte Faszination, wie es in „Isolation“ (vom Album „Unknown Pleasures“) zum Ausdruck kommt: „Mother, I tried please believe me, I’m doing the best that I can, I’m ashamed of things I’ve put through, I’m ashamed of the person I am.“

Rückblende: Vier Jahre vor Curtis’ Tod in Manchester im Sommer 1976. Die SEX PISTOLS spielen während ihrer „Anarchy in the UK“-Tour in der Lesser Free Trade Hall und waren angetreten, die Rockmusik aus ihrer Apathie zu erwecken. Zugegen waren die Schulfreunde Peter Hook („Hooky“) und Bernhard Albrecht (auch B. Dicken und später – zu Zeiten von NEW ORDER – nur noch B. Sumner) und Ian Curtis mit seiner Jugendliebe und Frau Deborah, sowie Tony Wilson, der später Factory Records gründen wird (unter den wohl ca. 40 bis 50 Anwesenden soll auch Morrissey gewesen sein).

Hook und Albrecht beschlossen kurzerhand nach dem Konzert, eine Band zu gründen. Hook kaufte sich einen Bass für 35 Pfund und Albrecht eine Gitarre. Man lernte gemeinsam aus dem „Parma Hughes Book Of Rock’n’Roll“, was den unschätzbaren Vorteil hatte, dass durch die beigelegten Aufkleber für den Gitarrenhals das Spielen erleichtert wurde: „We got on page 27 and decided to bring in a singer“ (Peter Hook, Brash #6, 1998).

Curtis kam über einen Aushang im lokalen Plattenladen zur Band – er war der siebte Aspirant –, und erschien stilgerecht zum ersten Treffen mit dem großen Schriftzug „HATE“ auf der Jacke. Zunächst nannte man sich STIFF KITTENS – der Vorschlag stammte von Pete Shelley von den BUZZCOCKS –, spielte ein Konzert im Vorprogramm von besagten BUZZCOCKS und PENETRATION, verschliss drei Schlagzeuger und benannte sich unterdessen in WARSAW um – nach dem Song „Warszawa“ von David Bowie vom „Low“-Album. Curtis war großer Fan von Bowie, insbesondere von dessen Version des Jacques Brel-Songs „My death“: „My death waits like a bible truth, at the funeral of my youth“. Und schließlich kam Stephen Morris als finaler Schlagzeuger zur Band. Um Verwechslungen mit der Londoner Punkband WARSAW PAKT zu vermeiden, wählte man den Namen JOY DIVISION – entlehnt einem Buch von Karol Cetinsky, „House Of Dolls“ (Ka-Tzentik 125663), in dem der Name für einen Bereich im Konzentrationslager stand, in dem jüdische Frauen für deutsche Offiziere zwangsprostituiert wurden.

Um es kurz zu machen: die obligaten Faschismusverweise wurden zusätzlich dadurch genährt, dass die Band als Bühnenoutfit eine sehr schlichte, an die dreißiger Jahre erinnernde, primär schwarze Bekleidung wählte, das ausgeprägte Interesse von Curtis an Deutschland und schließlich auch der etwas unglückliche Aufschrei von Curtis „You all forget Rudolf Heß“ zu Beginn des Stückes „At a later date“ von WARSAW (auf dem Sampler „Short Circuit: Live At The Electric Circus“, Oktober 1977). Auch das von Albrecht – selbst Grafiker – (wenn auch nur provokativ) gewählte Motiv eines Hitlerjungen für die „An Ideal For Living“-EP tat sein Übriges. Diese Vorwürfe verstummten aber relativ schnell wieder, obgleich die Band sich keine Mühe gab, diese in den seltenen Interviews auszuräumen, sondern es vorzog, über Manchester United zu sprechen – ohnehin verspürte Curtis wenig Motivation, über seine Songs zu reden, die, so seine Auffassung, für sich selbst sprachen.

Im April 1978 spielte JOY DIVISION in einem Wettbewerb in Manchester mit 16 anderen Bands – danach sollte sich vieles ändern: Bei diesem Konzert waren der Punk-Enthusiast Tony Wilson (im Hauptberuf Fernsehjournalist bei Granada TV), der zunächst den Club Factory – in Anlehnung an die Factory von Andy Warhol – und kurze Zeit danach das gleichnamige Plattenlabel gründete, sowie der lokale DJ Rob Gretton anwesend. Beide waren derart von der Band begeistert, dass man sich entschloss, sie unter Vertrag zu nehmen. Wilson kooperierte bereits mit Alan Erasmus, dem Manager von DURUTTI COLUMN – der erste Act auf Factory Records –, und gemeinsam organisierten sie Konzerte im Russel Club (der späteren Factory). Rob Gretton wurde Manager von JOY DIVISION und seine Freundschaft zu Tony Wilson ermöglichte der Band einen Plattenvertrag bei Factory Records. Obgleich die erste Begegnung von Curtis mit Tony Wilson nicht zwingend Sympathie erzeugender Natur war: „Wilson, you cunt! You bastard! You put THE BUZZCOCKS and THE SEX PISTOLS and all those others on the telly, what about us?“ (nachdem Wilson die SEX PISTOLS im Sommer 1976 live sah, lud er sie in seine Sendung „So It Goes“ auf Granada TV ein). Die Sessions für RCA aus dem Frühjahr 1978 wurden nicht veröffentlicht; zwei Stücke daraus finden sich später auf dem Debüt „Unknown Pleasures“, andere wie „Ice age“ auf dem Album „Still“, welches posthum im Oktober 1981 erschien. Erst die 98er Werkschau „Heart & Soul“ präsentierte die kompletten WARSAW-Sessions.

In den achtziger Jahren wurde Factory Records zu einem extrem bedeutenden und innovativen Plattenlabel, unter anderem mit Bands wie A CERTAIN RATIO, CABARET VOLTAIRE, SECTION 25, DURUTTI COLUMN, ORCHESTRAL MANOEUVRES IN THE DARK sowie den HAPPY MONDAYS. Das Label entwickelte unter dem Produzenten Martin „Zero“ Hannett und dem Grafikdesigner Peter Saville (inspiriert durch Jan Tschicholds „Die neue Typografie“ von 1927; Saville bewarb sich nicht mit eigenen Arbeiten bei Factory, sondern überzeugte Wilson, indem er ihm Auszüge aus dem Buch zeigte), der bereits die Flyer für den Factory Club gestaltete, einen unverkennbaren Sound und ein wegweisendes und einmaliges Corporate Design, das bis heute seinesgleichen sucht – vielleicht noch mit den grafischen Arbeiten von Vaughan Oliver aka 23envelope für das Plattenlabel 4AD von Ivo Watts-Russell zu vergleichen. Der Film „24 Hour Party People“ (2002) des Regisseurs Michael Winterbottom dreht sich – neben der Partyszene im Club Hacienda in Manchester – um Factory Records und seine Protagonisten, allerdings aus der nicht unumstrittenen Sicht von Tony Wilson. Hannett – der später auch für MAGAZINE, THE PSYCHEDELIC FURS, NEW ORDER, THE STONE ROSES und die HAPPY MONDAYS produzierte und 1991 nach Jahren intensiver Drogenabhängigkeit an Herzversagen starb (er verließ das Label 1982 im Zuge eines juristischen Streits um die Finanzen) – und Wilson sollten fortan maßgeblich die Geschicke von JOY DIVISION steuern.

Im Oktober 1978 produzierte Hannett zwei Stücke („Digital“ und „Glass“) mit JOY DIVISION, die auf einer Compilation namens „A Factory Sample“ erschienen. In den folgenden Monaten organisierte Gretton diverse Konzerte, die durch die enorme Bühnenpräsenz und das frenetische Auftreten von Ian Curtis überzeugten, die bereits (was allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt war) auch durch die Epilepsie von Curtis geprägt waren. Später verzichtete man auf eine intensive Lightshow, um das Risiko eines Ausbruchs der Krankheit zu verringern, obgleich Curtis immer wieder in apathische und tranceähnliche Zustände auf der Bühne geriet. Letztlich „inspirierte“ ihn seine Krankheit zum Song „She’s lost control“.

Im Januar 1979 – im gleichen Monat wurde die Epilepsie bei Curtis diagnostiziert – lud John Peel die Band zu einer BBC Radio 1-Session ein und sie spielte u.a. „Insight“, „Transmission“ und „She’s lost control“ (im November des gleichen Jahres gab es eine zweite Radiosession bei John Peel). Allerdings wurden diese Aufnahmen, sieht man von den Mitschnitten bei den jeweiligen Sendeterminen ab, der breiten Öffentlichkeit erst via Strange Fruit (einem Label, auf dem die John Peel-Radioshows veröffentlicht wurden) in den Jahren 1986 und 1987 zugänglich. Anfang des Jahres 1979 – Ian Curtis war zum ersten Mal auf dem Titelblatt des New Musical Express – begannen die Aufnahmen zum Debütalbum „Unknown Pleasures“ unter der Ägide von Martin Hannett. 15 Stücke wurde produziert, von denen es 10 auf das Album schafften – „Transmission“ wurde bewusst, quasi als Coup de Grace, ausgeklammert und erschien im November 1979 als Single.
Hannett prägte ganz maßgeblich den Sound der Band und wurde nicht selten als fünftes Bandmitglied gehandelt, teilweise spielte er die Synthesizer-Passagen mit ein. Doch es war Ian Curtis, der die Band von seiner Begeisterung für KRAFTWERK überzeugen wollte und sich sehr dieser für ihn neuen und aufregenden Musik öffnete. Hannett war ein Perfektionist und Soundverrückter. Sein „Markenzeichen“ war unter anderem ein sehr spärlicher und unheimlich wirkender reduzierter, fast metallener Echodrum-Sound, den er durch eine Loop-Technik mit Echobildung erzeugte. Er besorgte das gesamte Equipment, um diesen einzigartigen Klang zu perfektionieren. Allerdings war die Arbeit mit ihm nicht leicht. Seine Obsession wurde erst dann befriedigt, wenn der Sound in seinem Kopf mit dem Schlagzeug von Stephen Morris übereinstimmte – die Legende kursiert, dass Hannett während einer nächtlichen Session Morris dazu überredete, sein Schlagzeug komplett auseinander zu nehmen, um es im Anschluss mit Teilen der Studiotoilette wieder zusammenzusetzen. Doch schaffte er einen unverkennbar dichten und komplexen Echosound, der insbesondere in „Atrocity“ und „She’s lost control“ deutlich wird. Die Musik – selbst ohne die Stimme und Texte von Ian Curtis – erzeugt eine enorme körperliche Präsenz, ist dunkel und klaustrophobisch. Dennoch merkte man (deutlich erkennbar bei den Songs „Novelty“ und „Interzone“), dass JOY DIVISION die erste Welle britischer Punkbands live gesehen hatte oder mit ihnen auf der Bühne stand.

„Unknown Pleasures“ erschien im Juli 1979. Das Cover wurde von Peter Saville gestaltet und zeigt einen Graphen von 100 aufeinander folgenden Pulsarwellen des Pulsars CD 1919 – einem sterbenden Stern: Pulsare sind rotierende Neutronensterne, die als Quelle elektromagnetischer Strahlung messbar sind. Ein Klassiker minimalistischer Coverart: programmatisch, ohne Fotos der Band und die Namen der Bandmitglieder. Die Texte und die Stimme von Curtis wirken bedrückend und geben eine Lektion in tiefer Katharsis eines verzweifelten Menschen – der Zorn, die Angst und Hoffnungslosigkeit sind im Timbre der Stimme und jeder einzelnen Textzeile allgegenwärtig: „Guess your dreams always end, they don’t rise up just descend, but I don’t care anymore, I’ve lost the will to want anymore“ (aus „Insight“). „I guess you were right, when we talked in the heat, there’s no room for the weak“ (aus „Day of the lords“) – oder im Stück „Candidate“: „Corrupted from memory, no longer the power, it’s creeping up slowly, that last fatal hour.“

Curtis ist stets auf der Suche nach einer rettenden Orientierung, einer Perspektive: „I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand, could these sensations make me feel the pleasure of a normal man“ (aus „Disorder“) und zum Ende des Stücks fast ein bittendes und flehendes „feeling, feeling, feeling“, das sich im metallenen Sound des Schlagzeugs auflöst. Das Album ist nicht nur ein Manifest der inneren Zerrissenheit des Menschen Ian Curtis, auch ist es ein „record of place“ (Jon Savage, MM, 1979) einer ganz spezifischen Stadt: Manchester. Ein Album, entstanden im „winter of discontent“, als England unter Labour von Streiks und Ausschreitungen erschüttert wurde und die Tory-Hegemonie unter Thatcher ihren Einzug hielt. Manchester, einst Zentrum industrieller Revolution, lag vielerorts brach: leere Industrieflächen, Arbeitslosigkeit, Trostlosigkeit und Nächte beleuchteter Industrieruinen – „to the centre of the city in the night waiting for you“ (aus „Shadowplay“) – , die Kälte der Stadt muss katalytisch auf den Gemütszustand von Curtis gewirkt haben: „‚Shadowplay‘ is a metallic travelogue – the city at night – with Curtis fleeing internal demons“ (Jon Savage, MM, 1979).

Das Album bekam mehrheitlich gute Kritiken in der Presse, so wurde es als bestes Album seit „L.A. Woman“ von THE DOORS bezeichnet (JOY DIVISION spielten live hin und wieder „Riders on the storm“) –, und verkaufte sich alleine bis Juni 1982 mit über 100.000 Exemplaren unerwartet gut, obgleich die Band so gut wie keine Promotion respektive Marketing betrieb und alle noch Jobs neben JOY DIVISION hatten. Deborah Curtis war zunächst wenig begeistert von dem Album und resümierte später in ihrer Biografie über Ian Curtis: „Initially I disliked ‚Unknown Pleasures‘. As I became familiar with the lyrics, I worried that Ian was retreating to the depression of his teenage years. He had been inordinately kind to me during my pregnancy and yet this lyrics had been written in the same time. ‚But I remember when we were young‘ (on the song ‚Insight‘) – Ian sounded old, as if he had lived a lifetime in his youth.“

Im Anschluss an die Veröffentlichung folgten Tourneen mit ECHO & THE BUNNYMEN, O.M.D. und ein Konzert beim Leeds Futura Festival mit den Label-Kollegen CABARET VOLTAIRE, A CERTAIN RATIO sowie PUBLIC IMAGE LIMITED und in Folge eine ausgedehnte UK-Tour im Vorprogramm der BUZZCOCKS (u.a. aus den beiden Konzerten im Apollo in Manchester im Rahmen dieser Tour wurde das Video „Here are the young men“ extrahiert). Beim Konzert in Liverpool verließ der größte Teil des Publikums nach dem Auftritt von JOY DIVISION den Veranstaltungsort in der Gewissheit, dass nichts besseres mehr folgen konnte: zum Leidwesen der BUZZCOCKS. Die zunehmende – im Wesentlichen live erspielte – Popularität drang auch in die Vorstandsetagen großer Musikkonzerne vor. Die Band und Gretton lehnten ein Angebot in Höhe von angeblich einer Million Dollar (welches auch den Dreh mehrerer Videos vorsah) des Vizepräsidenten von Warner Brothers America ab. Das Angebot wurde einige Monate später erneuert, die Band lehnte wiederum ab.

Es folgte eine Europatour durch Frankreich, die Niederlande, Belgien sowie Deutschland – wenn auch immer wieder Konzerte aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes von Curtis abgesagt werden mussten. Ein Mitschnitt des Konzerts im Dezember 1979 in Paris im Les Bains Douches erschien 2001. Bernard Lenoir, eine Art französischer John Peel, unterstützte die Band und lud sie zu seiner Radioshow ein. Wohl auch wegen ihrer großen Popularität in Frankreich erschien im März 1980 auf dem französischen Label Sordide Sentimental die auf 1578 Exemplare limitierte Single „Licht und Blindheit“, aufwendig verpackt in einem Essay von Jean-Pierre Turmel, mit den Stücken „Dead souls“ und „Atmosphere“ (Ende 1980 veröffentlichte Factory den Song und Anton Corbijn, der bereits mehrere Fotos der Band gemacht hatte, drehte ein Video dazu).

Während der Europatour, die auch von der Presse gefeiert wurde („JOY DIVISION convince me that I could spit in the face of god“, Neil Norman, NME), lernte Curtis in einer Tourpause die Belgierin Annik Honoré kennen – es war der erste Vorbote für das Auseinanderbrechen seiner Ehe mit Deborah. Die Vermutung liegt nahe, dass diese innere Zerrissenheit von Curtis zwischen den beiden Frauen ihn zum Song „Love will tear us apart“ bewegte (allerdings wird ebenso die Auffassung vertreten, dass er „lediglich“ einen sehr tiefen, wenn auch unterbewusst autobiografischen Text schreiben wollte). Der Song wurde 2003 im Leserpool des New Musical Express zur besten Single aller Zeiten gewählt (der Rolling Stone wählte ihn kürzlich auf Platz 108 der 500 wichtigsten Singles).

Ende März 1980 begannen die Aufnahmen für das zweite Studioalbum „Closer“ – „Closer to what?“ möchte man im Nachhinein fragen. Die Texte waren mehr denn je Vorwegnahme dessen, was sich abzeichnen sollte: „This is the crisis I knew had to come, destroying the balance I kept, doubting, unsettling and turning around, wondering what will come next“ (aus „Passover“) oder im Song „Colony“: „A worried parent’s glance, a kiss, a last goodbye, hands him the bag she packed, the tears she tries to hide, a cruel wind that bows down to our lunacy, and leaves him standing cold here in the colony.“ Das Cover – erneut von Peter Saville gestaltet (der Anfang 2004 Kreativdirektor von Manchester wurde) – zeigt ein Foto in Schwarzweiß von Bernard Pierre Wolff vom Friedhof Il Staglieno in Genua: ein aufgebahrter Christus mit einem trauernden Engel. Das Konzept des Covers war bereits Monate vor dem Tod von Curtis mit der Band abgestimmt, wenngleich die Veröffentlichung des Albums durch seinen Tod wenige Wochen verschoben wurde.

„Now that I’ve realised how it’s all gone wrong, gotta find some therapy, this treatment takes too long, deep in the heart of where sympathy held sway, gotta find my destiny, before it gets too late“ aus „Twenty four hours“. Der Sound schien mehr denn je aus einer anderen Welt zu stammen – die Texte wurden deutlicher, verzweifelter und finaler, Peter Hooks dunkler Bass und das hypnotische Schlagzeug von Stephen Morris wirkten fatalistisch: „The second album ‚Closer‘ appeared two months after Curtis’ death. It displays a dramatically different JOY DIVISION from the one on ‚Unknown Pleasures‘. The sound is emptier, more distant, with emphasis on a strangely out-of-kilter synthesizer. The whole album has a dislocated feel. Curtis is no longer the quiet observer, but an outraged participant in a world that had robbed him of joy and hope“ (S. Grant, Trouser Press, 1982).

JOY DIVISION spielen Anfang April 1980 als Support der STRANGLERS – zum Entsetzen von Tony Wilson, der eine tiefe Abneigung gegen die Band hatte und sich zunächst auch weigerte, einen Beitrag über THE STRANGLERS auf Granada TV zu bringen (später musste er das, auf Veranlassung des Senders). Da auch bei diesem Konzert Curtis die Körperkontrolle verlor und kopfüber in das Schlagzeug fiel, brillierte Wilson angesichts des schlechten Gesundheitszustands von Curtis mit der Idee, eine Art Rotationsprinzip einzuführen, bei dem ein Gastsänger ab und an den Gesangspart von Curtis übernehmen sollte. Eine Idee, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Am frühen Morgen des 18. Mai 1980, wenige Tage vor der geplanten US-Tour mit den BUZZCOCKS, erhängt sich Ian Curtis im Alter von 23 Jahren in der Küche seines Hauses in Macclesfield. Spekulationen über die Ursache gibt es viele: die zunehmende Belastung durch die immer häufiger auftretenden epileptischen Anfälle, die Krise mit Deborah Curtis, der Druck durch die anstehende US-Tour. Es war nicht der erste Suizidversuch von Curtis. Bereits einen Monat zuvor war er mit einer Überdosis Tabletten ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Biografie von Deborah Curtis erweckt mehrfach den Eindruck, dass Ian Curtis den Wunsch hatte, jung zu sterben. Nach einem Streit mit Deborah kehrt Ian Curtis in das Haus zurück, trank offensichtlich viel Kaffee, den Rest aus einer Whiskey-Flasche und schaute sich den Werner Herzog-Film „Stroszek“ an, der von einem aus dem Gefängnis entlassenen Straßenmusiker und Alkoholiker handelt, der sich, nachdem er sich nicht zwischen zwei Liebenden entscheiden kann, umbringt. Im Anschluss legt er von Iggy Pop das Album „The Idiot“ auf und hinterlässt einen langen Abschiedsbrief an seine Frau („At this very moment I just wish I were dead. I just can’t cope anymore“).

Die Nachricht wird kurz darauf von John Peel über das Radio verbreitet: „Bad news, lads. Ian Curtis of JOY DIVISION has died“. Die große Tragödie – so formulierte es später Peter Hook – war, dass Ian Curtis sich den Erfolg von JOY DIVISION sehnlichst gewünscht hatte und nicht mehr erleben durfte. „Closer“ verkaufte allein bis Mitte 1982 über 250.000 Exemplare, obgleich der ökonomische Erfolg zu Lebzeiten von Curtis für die Band überschaubar war, da Factory keinen Vorschuss zahlte, sondern einen „50/50 profit share“ offerierte. „Love will tear us apart“ schaffte es auf Platz 13 der britischen Single-Charts, „Closer“ auf Platz 5 der Album-Charts. Deborah Curtis veranlasste, dass „Love will tear us apart“ als Epitaph auf Curtis Grabstein stand.

Der Schatten von Curtis wich auch nicht vom Folgeprojekt NEW ORDER, denn allen Mitgliedern war von vornherein klar, dass es JOY DIVISION ohne Ian Curtis nicht geben konnte, und Peter Hook äußerte sich nur wenig begeistert, als noch Jahre später NEW ORDER 1993 etwa in Italien aus ersten Reihen des Publikums mit Plakaten konfrontiert wurde, auf denen etwa „Ian Curtis – Rest In Peace“ stand. Allerdings spielen NEW ORDER seit 2000 live wieder Stücke von JOY DIVISION. Und kürzlich wurde Peter Hook nach seinen zehn Lieblingsplatten gefragt, und ad hoc nannte er „Closer“. Das Album „Unknown Pleasures“ hingegen habe er nie verstanden.