John K. Samson, Frontmann der kanadischen WEAKERTHANS und Mitte der Neunziger Bassist bei PROPAGANDHI, veröffentlichte Ende Januar sein erstes Soloalbum „Provincial“ auf dem Hamburger Label Grand Hotel van Cleef. Wir, Anne und Jürgen von Rookie Records, verabredeten uns mit John auf Skype.
„Provincial“ ist dein erstes richtiges Soloalbum, wenn wir die Kassette aus dem Jahr 1993 aussparen. Warum gab es eine solch lange Pause?
Ich wollte eigentlich nie ein Solokünstler sein, sondern Teil einer Band, und bin es ja auch. Dieses Album entwickelte sich aus Songs, die den Nachforschungen zu meiner Konzeptidee entsprangen: vier Straßen in meiner Heimatprovinz Manitoba, über die ich in einer bestimmten Weise schreiben wollte. Über etwas Historisches, etwas Zeitgenössisches, einen wahren Charakter sowie einen erfundenen. Daraus entstand eine Art „Lieder-Straßenkarte“ der Gegend. Ich dachte, dies wäre kein gutes Bandprojekt, da ich bestimmte Ideen für die Instrumentierung im Kopf hatte und es wenig Raum für weitere Bandmitglieder gegeben hätte. Außerdem machte es großen Spaß, mal mit anderen Musikern zu spielen, die mich auch zusätzlich inspirierten.
Hast du zuerst das Konzept entwickelt, also die Idee zur „Straßenkarte“, oder hast du nach dem Schreiben erster Songs gemerkt, dass genau dieses Konzept umgesetzt werden wollte?
In diesem Fall war es tatsächlich eine konkrete Idee, die ich umsetzen wollte. Ich hatte dafür Geld von der Kulturförderung bekommen und da musste das Konzept vorher vorliegen. Dieses Konzept wurde eine Art Leitfaden für das Album. Das ist aber nicht der übliche Weg, wie ich an Songs herangehe, das funktioniert normalerweise organischer.
Noch mal zum Aspekt der Straßenkarte: „City Route 85“ und „Provincial Road 222“ erschienen vorab als Single. Folgt eine weitere Single oder schließt das Album mit den Songs „Highway 1 East/West“ den „Straßen-Zyklus“ ab?
Es wird keine weiteren Singles geben. Für die beiden 7“s habe ich die Stücke neu aufgenommen. Zudem taucht der Highway 23 in den Songs „When I write my master’s thesis“ und „Letter in Icelandic from the Ninette San“ auf. „Highway 1 East/West” wiederum fungieren als Opener beziehungsweise Abschluss der Straßenserie. Im letzten Stück geht es um mein Haus. Ich fand, es wäre ein schöner Weg, das Album mit einem Song abzurunden, in dem es um das Thema Ortsgebundenheit, also etwas nicht Bewegliches geht. Diese Lied behandelt die persönliche Reflexion: woher kommen wir, was ist uns das Wichtigste? Den Song „Taps reversed“ habe ich mit meiner Frau Christine Fellows in unserem Wohnzimmer aufgenommen und er fungiert als eine Art Coda, wie eine Zusammenfassung zum Ausklang
Es gibt einen Song auf deinem Album, „Stop error“, der mich schon beim ersten Hören an ein Kirchenlied erinnerte und zwar an: „O Haupt, voll Blut und Wunden“.
Genau, das Lied ist von Bach und heißt im Englischen „O sacred head, now wounded“. Die Idee ist, über den Einfluss des Internets auf Kleinstädte zu singen: zum einen ist es hilfreich, was Alltägliches angeht, zum anderen hinderlich, was Eigeninitiative angeht. Auch geht es um Chöre in Kleinstädten, die dort eine wichtige zwischenmenschliche Funktion haben. Und um Videospiele, die gemeinsam in weltweit vernetzten Teams gespielt werden, und wie die sich stetig wiederholende Spiel-Erkennungsmelodie fast wie der Refrain eines Kirchenlied erscheint. Ich dachte, es wäre passend, das Stück von Bach, da ja beinahe Volksliedcharakter hat, mit einem modernen Thema zu füllen, und ich habe es neu arrangiert für das Album.
Für mich hat dein Album etwas Beruhigendes, beinahe Spirituelles. Bist du ein religiöser oder auf andere Art gläubiger Mensch?
Ich bin kein spiritueller Mensch im klassischen Sinn und praktiziere keine Religion, aber ich habe Respekt vor denen, die es tun, und ich bin sehr interessiert daran. Ich wurde als Christ erzogen bis zum Alter von 14, 15 Jahren und kam durch das Singen in der Kirche zum ersten Mal mit Musik in Berührung. Ich denke, meine Art zu singen hat ihren Ursprung in der lutherischen Liturgie. Das hat sich auf meine Songs ausgewirkt und ja, da ist auch ein spirituelles Element in meinem Schreiben. Ich bin jedoch nicht sicher, was es bedeutet und woher es kommt.
Du singst gerne über besondere Menschen, und das führt mich zur nächsten Frage. Aus einer Petition für Reggie Leach, ein Eishockeyspieler in den Siebzigern, wurde der Text eines deiner Lieder. Wie kam es dazu? Hast du eine persönliche Beziehung zu Reggie, spielte er in deinem Lieblingsclub oder aus welchem Grund fandest du die Vertonung der Petition wichtig oder spannend?
Reggie, Spitzname „Riverton Rifle“, ein indigener Kanadier, der in großer Armut aufwuchs, ist sicher die bekannteste Persönlichkeit aus Riverton, das liegt ca. 130 Kilometer nördlich von Winnipeg. Er entwickelte sich zu einem großartigen Eishockeyspieler, dem jeder Fan gerne zuschaute, obwohl er lange Zeit mit dem Alkoholismus kämpfte. Ich überlegte, wie ich über den Ort Riverton – von dort stammt auch ein Teil meiner Familie – etwas schreiben könnte. Und über Reggie natürlich. Einer wie er würde es nur aufgrund der reinen Fakten wie Tore oder Vorlagen nie in die Hall of Fame der NHL schaffen, zumal seine Krankheit seine Karriere verkürzte. Aber der Ansatz der Petition ist ein anderer: Sein Verdienst ist es eher, dass sich Riverton seiner Geschichte bewusst wurde und dass sich die Stadt mit dem Thema Rassismus gegenüber den Ureinwohnern auseinandersetzen musste.
Hast du Reggie jemals getroffen?
Auf einer großen Eishockeyveranstaltung in Whitehorse, Yukon spielte ich den Song mit meiner Band, es war der „National Hockey Day“. Sie zeigten einen kurzen Film über Reggie und ich wurde zurück auf die Bühne gerufen und hatte keine Ahnung, warum. Und dann stand Reggie aus dem Publikum auf, kam auf die Bühne und schüttelte mir die Hand. Es war sehr aufregend und ich war unglaublich überrascht, weil die Veranstalter es wochenlang vor mir geheim gehalten hatten. Einer dieser großen Momente im Leben eben.
Du warst nie ein großer Fan der Flyers, Reggies Club, mit dem er seine größten Erfolge feierte, sondern interessierst dich mehr für kanadisches Eishockey. Ich las, dass die Atlanta Thrashers quasi inklusive NHL-Lizenz an eine Investorengruppe in Winnipeg zurückverkauft wurden. Für einen europäischen Sportfan ein eher ungewohntes Szenario. Wie waren deine Gefühle?
Die Stadt stand Kopf und auch ich konnte mich dem nicht ganz entziehen, endlich hatte die Stadt wieder einen NHL-Verein. Nur das neue Trikot mit den Jets gefällt mir aus pazifistischen Gründen nicht, aber es gibt jetzt wieder ein Thema, zu dem alle etwas zu sagen haben, die Taxifahrer, die Barkeeper, die normalen Menschen.
Du hast letztens an einem Filmprojekt mitgewirkt. Worum genau hat es sich da gehandelt?
Das Filmprojekt mit Daniel Cockburn fand im letzten Sommer statt und war wirklich interessant. Je drei Musiker und ein Filmemacher wurden für eine Woche in einem von mehreren Nationalparks mit Camping-, Musik- und Filmequipment „ausgesetzt“. Wir nahmen unsere Songs im Park auf und Daniel machte einen Film darüber, das Ganze nannte sich „National Parks Project“.
Du betreibst neben deiner Musik auch einen Buchverlag. Hat der Name deines Verlages, nämlich Arbeiterring Publishing, jüdische Wurzeln?
Ja, er wurde nach einer deutsch-jüdischen Organisation benannt, die im frühen 20. Jahrhunderts in Winnipeg existierte. Eine Art Dachverband für verschiedene linksgerichtete Projekte, der die Ziele von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten bündelte und nach außen vertrat. Wir dachten, es wäre ein schöner Querverweis, denn auch wir veröffentlichen linke Literatur, Fiction und Non-Fiction, aber auch Gedichte.
Auf der ARP-Homepage sah ich, dass du 2012 auch selbst ein Buch veröffentlichst. Bringst du es auf der Tour mit?
Ja, ich werde das Buch dabeihaben. Ich erinnere mich an Punk-Shows in Jugendjahren, wo Bands ihre ausgedruckten Texte verteilten. Ich finde, das ist eine gute Alternative, anstatt ein T-Shirt mit meinem Namen anzubieten.
Eine letzte Frage zur Zweisprachigkeit: Deine Frau Christine singt auf ihrer aktuellen Platte in Englisch und Französisch. Bist du auch bilingual aufgewachsen?
Leider nicht, und heute finde es sehr schade. Ich wäre froh, wenn ich eine weitere Sprache könnte. Ich lebe in einer Stadt, die durch die Sprachen Englisch und Französisch quasi geteilt ist, dazu kommen die Sprachen der Minderheiten, Cree und Métis, das ist französisch für Mestizen. Ich komme nun seit 20 Jahren regelmäßig nach Deutschland, kann aber im Gegensatz zu Stephen, dem Gitarristen der WEAKERTHANS, kein Gespräch führen oder eine Bestellung im Restaurant aufgeben. Ich bin ein bisschen neidisch darauf, aber ich bin auch nicht besonders begabt zum Sprachenlernen. Dabei denke ich, dass eine fremde Sprache dir auch eine andere Perspektive auf deine eigene gewährt.
Ein interessanter Punkt, denn für mich ist es schwierig, die Poesie in deinen Texten in Gänze zu verstehen. Wie fändest du die Vorstellung, dass jemand deine Texte übersetzen würde?
Das würde mir definitiv sehr gut gefallen! Mit der richtigen Unterstützung könnte das ein sehr interessantes Projekt werden.
Deine Hass-Liebe zu Winnipeg ist einer der Grundpfeiler deines Schreibens. Könntest du dir vorstellen, woanders zu leben?
Meine Herkunft ist mein zentrales Thema und wird es auch immer bleiben. Das heißt aber nicht, dass ich immer hier leben muss. Denn Winnipeg ist auch so in mein Hirn eingebrannt – vielleicht sogar ein Winnipeg, das so gar nicht existiert. Reisen ist ein wichtiger Teil meines Lebens, die Begegnung mit Menschen, die an anderen Orten verwurzelt sind. Das ist Teil des Prozesses: ich fahre weg, um immer wieder nach Hause zu kommen.
Ein schönes Schlusswort, John. Wir danken dir für das Gespräch.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #100 Februar/März 2012 und Jürgen Rookie & Anne
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #129 Dezember16/Januar17 2016 und Wolfram Hanke
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #88 Februar/März 2010 und Myron Tsakas
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #100 Februar/März 2012 und Jürgen Schattner
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #128 Oktober/November 2016 und Wolfram Hanke