Samstag Vormittag, die Uhr zeigt gerade mal zehn Uhr, da klingelt es erbarmungslos an unserer Tür. Wer könnte das sein? Aufmachen wollten wir zuerst nicht, doch die Neugierde Trieb uns aus dem Bett. Vor der Tür stand eine Dame in grauem Faltenrock neben einem langen, schlaksigen post-pubertierenden männlichen Elend (Abel für Arme).
Der sorgenvoll und doch erleuchtete Blick der frühen Gäste verhieß nichts Gutes: So schauen Menschen, die dein Heil wollen. Ohne ihre Begrüßung abzuwarten ließen wir unverblümt durchsickern, dass wir ihre Absicht durchschaut hatten. "Zeugen Jehovas oder Malteser?" wollten wir wissen. Erstaunte Blicke von der Türschwelle "oh, woher wissen sie das denn? Sieht man uns das etwa an?" - "Ja!". Instinktiv war defensive Schutzhaltung bei uns angesagt. Denn ein aggressives Verhalten religiösen Mitbürgern gegenüber können wir uns aufgrund katholischer Erziehung nun auch wieder nicht leisten. Wer, außer uns, greift in einer solchen Situation nicht sofort zum Baseballschläger, um den selbsternannten Zeugen eines rachsüchtigen Gottes in ihre Schranken zu weisen, sprich die Kartoffel vom Hals zu kloppen? Eventuell die JESUS SKINS... aber wir wollen nicht vorgreifen. Schön eins nach dem anderen.
Wir standen also halb im kalten Hausflur und hatten diese höchst engagierten Menschen auf dem Hals. Taktisch klug und nach außen die Bereitschaft suggerierend, sich ein erneutes Mal vielleicht doch noch durch gute Lektüre überzeugen zu lassen, schlugen wir vor, die anstehende Diskussion um das Reich Jahves des Schrecklichen auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen, zu dem wir dann ganz gewiß den neuen Wachtturm und sogar das Erwachet! (man beachte die Analogie in der Interpunktion. Oi!), welches sie uns doch freundlicherweise überlassen sollten, gelesen hätten. Hand drauf. Diesen Bären ließen sich die beiden Vögel gerne aufbinden, und steckten uns mildtätig und verständnisvoll lächelnd die neuesten Ausgaben ihrer Käseblätter zu.
"Haha", lachten wir, nachdem sich die Tür hinter den Zeugen einer besseren Welt geschlossen hatte "Haha. Reingearscht! Die Deppen hätten wir vom Hals". Ja! so dachten wir. Noch!! Denn schon wenige Tage später sollten wir "das Licht erblickt haben" (Maren behauptet, dass sei überhaupt der Spruch, um sich auf ewig von solchen unliebsamen Religions-Hausierern zu befreien- vorausgesetzt, man habe die magische und also wirksame Betonung drauf).
Dann frühstückten wir, und plötzlich fiel das Ei auf den Boden. Und da war sie dann da: die Erleuchtung. Nackt, wie Gott sie einst schuf. Rein, appetitlich und so unendlich. Was waren wir doch für ignorante, verlorene Lämmer ohne Schäfer gewesen! Opfer gar (der Gesellschaft, wie immer). Sparen wir uns die sehr intimen, tiefen Emotionen, die dieser gewaltigen Eingabe folgten. "Ohne Oi! kein Gott - Euer Gott". So flüsterten es uns die Stimmen (möglicherweise aus dem zerplatzten Ei kommend).
Wir dann also ran an den Computer, weil der ist ja modern und so, und da findet man ja die tollsten Sachen in diesem Internet. Und die tollsten Sachen wollten wir unbedingt in den Tiefen unserer sündigen Seelen erforschen. Wo finden wir die Erleuchtung im World Wide Web? Wir gingen mit Suchmaschinen auf die Suche kamen auf direktem Wege zu www.jesus-skins.de, wo wir Bestätigung fanden. Schnell wußten wir, da steckt die Richtigkeit in des Pudels Kern. Wir nahmen Kontakt auf. Kontaktierten wie noch nie jemand zuvor. Und siehe da, sie meldeten sich. Wir sind als Ox-Reporter ja auch nicht gerade unwichtig. "Seid am Sonntag um drei am S-Bahnhof Ochsenzoll", sprach die uns unbekannte Stimme aus dem Hörer. Na gut, ab dafür.
So standen wir an einem heiter bis wolkigen Nachmittag mehr schlecht als recht an besagter Haltestation. Ein weißer Kleinbus fuhr vor und zwei in Leinentücher gehüllte Gestalten sprangen heraus. Eh wir uns versahen, wurden unsere Augen verbunden, und wir fanden uns auf der Rückbank eines nach Kot, Urin und Bier stinkendem Wagens wieder - ohne etwas sehen zu können. Aus den Boxen dröhnte laute, wilde Oi!-Musik (die Musik der Skinhead-Bewegung). Nach einer rund zehnstündigen Irrfahrt in diesem Höllenmobil stoppten wir. Wir hatten das Ziel erreicht. "Mitkommen!" lautete der knappe, barsche Befehl. Immer noch durften wir die Augenbinden nicht entfernen. Der Gang war höchstens 1,10 Meter hoch und modrig. Ab und an streiften uns Uhu-Schwingen und Fledermauskrallen. Ja, einmal meinten wir sogar das Trappeln eines wütenden Ebers und die Hitze seiner schnaubenden Nüstern hinter uns zu fühlen, aber das kann auch an der Angst gelegen haben, die wir damals empfanden.
Und dann konnten wir sehen und siehe: es war gut! Vor uns saßen fünf Skinheads aus dem Bilderbuch und schauten uns mit erwartungsvollen Augen an. Ihr bürgerlichen Namen wollten sie uns nicht preisgeben, die würden nicht interessieren. Statt dessen stellten sie sich mit den Namen der Apostel des Neuen Testamentes vor. "Das ist zwar nicht unser erstes Interview, die Titanic und Polylux waren schon vor euch da, aber einem Punk-Fanzine standen wir noch nicht Rede und Antwort." Das war uns egal. Wir wollten jetzt die Wahrheit wissen. Deshalb waren wir hier. JESUS SKINS: ein billiger Sommer-Hype oder eine ernstzunehmende neue Jugendbewegung? Nach musikalischen Kostproben ihres Könnens setzten wir uns zwischen Bierdosen, Kot und Urin zu einem Gespräch zusammen.
Eine Langspielplatte wollen sie machen, ist das erste was wir zu hören bekommen. Und zwar bei Impact Records. Das seien die einzigen, die ein ordentliches Angebot unterbreitet hätten. Zwar würden sämtliche Spatzen von den Dächern flöten, dass die JESUS SKINS sich vor Plattendeals nicht retten könnten, doch ganz so stimmt das nicht, wie Lukas zu berichten weiß: "Eigentlich sind Impact die einzigen, die uns bisher ein konkretes Angebot unterbreitet haben. Also greifen wir zu. Eigentlich sollten wir für drei LPs unterschreiben, wir wollen aber definitiv nur eine machen."
Eine Single gibt es bereits, in Eigenregie. Da hat sich nun bereits die zweite Auflage abverkauft. Kein Wunder, denn mit "77 heißt Grüß Gott und 88 Nazischrott" befindet sich nicht nur ein lyrischer Höhepunkt sondergleichen auf dem Tonträger, sondern klammheimlich auch ein echter Hit. Überhaupt legt man viel Wert auf durchdachte Texte. Wie bei Skinheadbands in der Regel üblich wird versucht, die Message in Parolenform zu vermitteln. Doch verstricken sich die JESUS SKINS nicht in platte Phrasen, sondern kommen stets direkt auf den Punkt. "Oi Oi Amen, singen wir im Chor", heißt es da zum Beispiel.
Außerdem laufen sie unter der S.H.A.R.P.-Fahne aus dem Hafen aus, wobei die Abkürzung diesmal für "Skinheads Against Religous Prejudice" steht. Ein Grund dafür gibt es auch. Das Thema Rassismus sei in der Skinhead-Szene inzwischen durch. "Das hat doch der letzt Depp gerafft, dass Skinhead-sein nichts mit Rassismus zu tun hat. Und Religionsfreiheit ist da nicht gerade verbreitet." Johannes spricht gar von Religionsfeindlichkeit in der Skinhead-Szene, aber genau um die geht es: man ist gerne Skinhead, das hat Priorität. Doch irgendwann hat man sich die Frage gestellt: wo kommen wir her, wo gehen wir hin. Die JESUS SKINS glauben an Gott. Und wollen sich dafür genau so wenig schämen müssen, wie für ihre Arbeiterklasse. Aus dieser Motivation heraus entstand die Bewegung. Lukas erklärt: "Die Bewegung ist die Skinhead-Bewegung, klarer Fall. JESUS SKINS an sich ist ja eine Bewegung. JESUS SKINS ist ja nicht nur eine Band. Die ist daraus entstanden." Und Matthäus fügt hinzu: "Die Jesus Skin Bewegung sieht sich als Teil der Skinhead-Szene."
Und diese Szene hat ein Ziel: "Bei Skinheads Vorurteile gegenüber Christen und bei Christen Vorurteile gegenüber Skinheads abbauen." Dadurch sitzen sie zwischen den Stühlen und bekommen so auch viele Anfeindungen. Doch das nehmen sie mit Humor. Markus wird wütend und echauffiert sich: "Man kann auch genauso an Gott glauben, wenn man besoffen ist. Ich versteh die Scheiße nicht."
In Hamburg gibt es inzwischen 50 bis 60 JESUS SKINS, die der Bewegung treu (da juckt´s in den Fingern...) sind. Deutschlandweit sind es aber mittlerweile schon über 300 Adepten. "Es kann jeder mitmachen. Es gibt keinen Mitgliedsausweis. Man muß einfach nur den Arsch hochkriegen und zu seinem Glauben stehen." Besonders schwierig ist es für die JESUS SKINS in den Köpfen der Kirche, die durch die Medien verbreiteten Vorurteile gegenüber Skinheads abzubauen. Trotzdem gehen sie immer wieder zum Gottesdienst, denn zum Glück gibt es auch positive Resonanzen, wie zum Beispiel von einigen Pastoren und anderen jüngeren christlichen Gruppen. Die Möglichkeiten eines intensiven Austauschs mit letztgenannten sind allerdings begrenzt, da diesen der skinheadkulturelle Background fehlt. Auch die Toleranz endet bei der Haarlänge: "Wir haben keinen Bock auf irgend welche Langhaarigen, die neben uns am Tresen stehen."
Von den Nazis grenzen sich die Jesus selbstredend ab. Aber auch vom Papst und dem Vatikan. "Vom Papst halten wir gar nichts", bekräftigt Matthäus. Das liegt an den vielen Dogmen und Vorschriften der katholischen Kirche. Den JESUS SKINS geht es halt um den reinen Glauben an Gott.
Nun war es Zeit zu gehen. Viele Fragen mußten offen, viele Mysterien kryptisch und so manches Rätsel ungelöst bleiben. Aber unsere Audienz war um, da die fünf Männer Jesu noch gedachten, sich ihren subkulturellen Wurzeln zuzuwenden und bei rauhen aber herzlichen Klängen das eine oder andere Bier zu killen. Wieder wurden uns die Äugelein verbunden und alles trug sich genau so zu wie beim ersten Gang. Nur dass uns diesmal um einiges leichter ums Herzelein (ein wenig auch ums Herzjesulein) war: wir hatten eine Erleuchtung erfahren und wir hatten sie auf ihre Realitätstauglichkeit prüfen wollen. Wie auf alle all zu großen Fragen, hatten wir auch dieses mal wieder nur armselige Trostpreise als Antwort erhalten. Da können die Jesus-Skins gar nichts für. Das liegt in der Natur der Dinge. Am Ende bleibt immerhin eine Gewißheit: Gott will nicht nur, dass es den einen Kult gibt, Gott will sogar, dass es viele Kulte gibt, von denen einer eben der Jesus-Skins-Kult ist.
Beten und Balgen, Sündigen und Saufen, Lieben und Hassen, Vergeben und Vergessen: die Bewegung verbindet den Halt einer religiösen Lebensführung mit der Geborgenheit eines subkulturellen Rahmens.
Da findet selbst der schweigsame fünfte Apostel, der sich während der gesamten Diskussion sehr bedeckt gehalten hatte, sein Plätzchen: als wir erneut in den Wagen gestoßen werden (aber diesmal wissen wir: es sind gute Menschen, die das tun), raunt mir der Schweigsame zu: "Diese ganze Religionskacke interessiert mich eigentlich nur am Rande. Worum es mir im Grunde hauptsächlich geht, ist immer noch die Oi!-Musik."
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #43 Juni/Juli/August 2001 und Abel
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