Nachdem ich JESU im Vorprogramm von ISIS endlich einmal live erleben konnte, war mich klar, dass ich Justin, Mastermind und Spokesman von JESU, irgendwie sprechen musste. Um dem geneigten Leser jedoch auch noch einmal das Sound-Universum eines Justin Broadrick näher zu bringen, sollte an dieser Stelle einmal gesagt sein, dass er 1984 mit NAPALM DEATH anfing, 1990 GODFLESH gründete und 2002 wieder auflöste, um im selben Jahr ein neues Baby namens JESU in die Welt zu setzen.
Was ist die Idee, die hinter JESU steckt? Und warum gehen deine Bandnamen oft in die religiöse Richtung?
„Ich mag die zweideutige Schönheit und die Kraft, die in solchen Worten wie Gott oder Jesus stecken. Es gibt ja auch eine Art universelle Sprache der Religion, und es gibt Dinge, die unser Leben diktieren und umgeben und ständig begleiten. Es hat mich schon immer fasziniert, dass Leute so blind an ihr System glauben, in dem sie leben, dass sie auf gewisse Dinge schwören und all so was. Es war für mich auch schon fast eine natürliche Sache, dass nach dem Namen GODFLESH ein JESU folgte. Darin steckt die Idee und das Bild eines Märtyrers. Ich kann gar nicht genau sagen, warum mich solche Begriffe und Bilder faszinieren. Ich könnte auch nicht behaupten, ein Christ zu sein. Ich bin aber auch kein Satanist oder so was. Ich bin eher ein spiritueller Mensch, der von religiösen Ikonen, Symbolen und Bildern und Metaphern begeistert ist.“
Wann war der Tag, an dem du entschieden hast, dass GODFLESH Vergangenheit sei und warum?
„Das war im April 2002. Es kam aus verschiedenen Gründen zum Ende der Band, zum Teil auch aus persönlichen Gründen. Als unser Bassist die Band verließ, war das schon ein heftiger Einschlag. Ich habe mit ihm zwölf Jahre lang GODFLESH gemacht, und in den letzten zwei Jahren, in denen GODFLESH noch existierten, hatte ich schon einige Zweifel, ob das alles noch Sinn macht und ob wir das Thema GODFLESH nicht ausreizen. Ich glaube, dass die Band über die Jahre hinweg ihren Hass und ihren Zorn verloren hat, zum Teil auch, weil wir als Bandmitglieder einfach älter und reifer geworden sind. Wenn du die ‚Streetcleaner‘-Platte anhörst, dann erkennst du, dass sie eine sehr hasserfüllte, zornige und sogar nihilistische Platte ist. Ich schrieb das Material, als ich 19 Jahre alt war. Dieses Jahr werde ich 36 und da passiert es automatisch, dass sich die Musik im Laufe der Jahre ändert. Ich schreibe weniger verzweifelt. Ich will nicht sagen, dass alles sehr beruhigend ist. Meine Musik besitzt immer noch die gleiche Einstellung wie die von GODFLESH, doch mit JESU gehe ich da etwas bedächtiger ans Werk.“
Meiner Meinung nach haben die Songs von JESU viel mehr Positives als die GODFLESH-Songs jemals hatten und ich denke, das ist eine logische Entwicklung, die du in den letzten 15 Jahren durchgemacht hast.
„Ja, das siehst du völlig richtig. Ich bin dessen überdrüssig, die Welt retten zu wollen, und bin dafür auch schon etwas zu alt, glaube ich. Ich denke eher, dass man seine eigene Welt verändern und verbessern kann, jedoch nicht die ganze Welt. Ich bin mittlerweile eher an persönlichen Veränderungen interessiert. Ich habe auf jeden Fall einiges an Hass und Zorn verloren, soviel ist sicher.“
In dem Zusammenhang fällt auch der deutliche Kontrast zwischen den tiefen, fetten Gitarren- und Basswänden und den zarten, eher filigranen Melodien von Gesang und Keyboard auf. Ist das bei JESU ein Hauptaspekt beim Songwriting?
„Ja, also ich versuche etwas zu kreieren, das sehr melancholisch, traurig und doch schön ist, dabei aber immer noch heavy und kraftvoll. Aber du hast Recht: Die Melodien sind sehr zart und ich möchte schon fast sagen: naiv. Ich benutze die Melodien aber auf eine sehr brutale Art und Weise, und ich glaube, die Leute wissen anfangs damit nicht so viel anzufangen. Durch die tief gestimmten, schweren Gitarren sind die Melodien für mich aber noch qualvoller und intensiver. Ich meine, ich bin ein großer Fan der Pop- und der Indie-Gitarrenmusik. Aber in meinen Augen gibt es dazwischen immer noch eine große Lücke, und diese Lücke versuche ich zu füllen. Es ist also eine Mischung zwischen schöner Popmusik und dem schwersten und tiefsten Shit, den du dir vorstellen kannst. Ich habe versucht, beides, so gut es geht, zu kombinieren. Das neue Material hingegen wird etwas poppiger und elektronischer werden, aber immer noch mit den schweren Gitarren. Meine Musik wird immer diese schweren, tiefer gestimmten Gitarrenwände haben, doch werden die Melodien und Harmonien noch definierter und ausgefeilter sein.“
Die Aufnahmen zu deinem Debütalbum sind zwischen 2002 und 2004 entstanden. Wieso gab es dafür so eine lange Zeitspanne?
„Ich fing mit dem Schreiben und Aufnehmen von JESU-Songs an, als der Split von GODFLESH noch gar nicht ganz vollzogen war. Nachdem GODFLESH sich aufgelöst hatten, hatte ich schon etwa zwei oder drei fertige Song-Gerüste für das JESU Debütalbum. Als ich das Material ausarbeitete, wusste ich, dass es nichts für GODFLESH sein könne und dass es für etwas anderes sein müsse. Aber ich hielt das alles erst einmal geheim. Ich hatte seinerzeit mit keinem darüber gesprochen. Nach der Auflösung von GODFLESH hatte ich einige finanzielle Probleme zu lösen. Ich hatte die Band vor einer großen Amerikatour aufgegeben und das zog Kosten nach sich, die ich tragen musste, weil so kurzfristig nicht mehr alles gecancelt werden konnte. Das finanzielle Problem zog sich dann etwa sechs bis acht Monate hin und dazu gab es in meinem Privatleben auch noch einige Veränderungen. Ich musste also mein Leben wieder auf den richtigen Weg leiten. Ich nahm daher das Album in sehr kleinen Schritten auf. Ich wollte mir mit dieser Platte aber auch die Zeit nehmen und genau darauf achten, dass alles so werden würde, wie ich mir das vorstellte. Es war ja auch eine neue Band, mein neues Baby, und es sollte mit der Zeit auch wachsen. Heute habe ich genug Material, das ist schon ein Unterschied. Ich weiß heute genau, was ich mit JESU machen will und wohin es gehen soll. Ich nehme mir sehr viel Zeit, um neues Material auszuarbeiten, und habe bestimmt schon Songs zusammen für drei Alben!“
Wie kam es zu dem Kontakt zu Aaron, seinem Label Hydrahead und seiner Band ISIS?
„Dieser Kontakt kam durch NEUROSIS. Steve von Till schrieb mich an, wir sind schon seit Jahren gute Freunde, und er erzählte mir, dass er mit seinem Label ein neues Album von ISIS veröffentlichen wolle und dass ISIS große Fans von GODFLESH seien. Steve fragte mich also, ob ich nicht ein Remix von einem ISIS-Song machen wolle. Ich hatte zu der Zeit noch nichts von ISIS gehört und Steve schickte mir das Album, und ich kann nur sagen: die Band ist verdammt noch mal gut. Ich sagte sofort zu und machte einen Remix von ‚Celestial‘. Steve mochte den Remix und dann meldeten sich auch Aaron und ISIS bei mir, um sich zu bedanken, und um zu sagen, wie sehr sie GODFLESH mögen. Von da an sind wir eigentlich immer in stetigem Kontakt geblieben. Wir haben seitdem eine Freundschaft aufgebaut. Auch als wir gerade GODFLESH aufgelöst hatten, waren Aaron und Hydrahead die ersten, die mir sagten: ‚Das Erste, was du musikalisch veröffentlichen möchtest, würden wir gerne übernehmen‘. Aaron mag ja auch nicht nur die GODFLESH-Sachen, sondern auch meine anderen musikalischen Projekte, und er glaubt an meine Musik. Außerdem sind es nette Jungs, die wissen, wie man ein Label leitet, sie haben eine gute Einstellung. Aaron und ich haben sehr viele Gemeinsamkeiten und wir haben sowohl eine Freundschaft als auch eine musikalische Zusammenarbeit aufgebaut.“
Ich kenne ihn schon seit der Zeit, als er für das kleine Label Second Nature Recordings diverse Plattencover gestaltete. Sie haben COALESCE und damals auch die ersten ISIS-Sachen veröffentlicht.
„Ja, jetzt, wo du es sagst, fällt mir das auch wieder ein. Shit! Er hat echt immer gute Ideen für Covergestaltungen. Für die JESU-CD habe ich ihm die Fotos gegeben und er hat die Layouts gemacht. All seine Designvorschläge waren echt perfekt, er hat dafür echt ein Händchen. Ja, ich könnte nicht glücklicher sein mit all den Kontakten zu Hydrahead und all den Leuten, die damit zusammenhängen. Es ist phantastisch und dazu kommt noch, dass all diese Leute etwa zehn Jahre jünger sind als ich. Es ist daher schön zu sehen, dass eine ganze Generation nach mir immer noch so viel Inspiration und Ideen hat und auf dem richtigen Weg ist. Auch das Touren mit ISIS war wunderbar.“
Kommen wir noch mal zurück zu JESU. Da gab es noch die „Heartache“-EP. Wie würdest du die Entwicklung zwischen der EP und dem Longplayer beschreiben?
„Die EP hat wesentlich mehr GODFLESH-Elemente. ‚Heartache‘ bildet in meinen Augen also auch eher die Brücke zwischen GODFLESH und JESU. Ich habe die zwei Songs im Alleingang aufgenommen. Ich hatte nur diese Idee, zwei 20-Minuten-Songs aufzunehmen, ohne vorher genau zu wissen, wohin die Reise gehen sollte. Für mich war es eine Art Herausforderung. Die Songs sind doch sehr metallisch und heavy geworden, obwohl die EP während des Abmischens des Albums aufgenommen wurde. Aber das Material gab es schon vorher. Chronologisch betrachtet kam die EP zuerst und dann das Album. Für mich ist ‚Heartache‘ die Brücke zwischen den beiden Bands und das Debütalbum zeigt dann eine komplett neue Band. Viele Leute behaupten zwar, dass die ‚Heartache‘-EP auch von GODFLESH hätte sein können, aber das denke ich nicht. Da gibt es schon gravierende Unterschiede. Ich meine, ich muss es ja wissen; ich habe die Songs schließlich geschrieben. Aber das neue Material wird den Leuten dann letztendlich zeigen, dass es kein GODFLESH Teil 2 gibt.“
Was sind denn genau deine Zukunftspläne für JESU?
„Als nächstes plane ich erst einmal eine EP, die drei oder vier neue Songs beinhalten wird. Und im Anschluss werde ich dann an dem neuen Album arbeiten. Ich habe bisher zwar wirklich sehr viel Material geschrieben, doch will ich mir die besten zwölf Stücke raussuchen und dann vier Songs für die EP benutzen. Die restlichen acht Songs kommen auf das Album. Zudem werde ich noch eine EP für Relapse Records machen, das wird dann eher so eine Parallel-Platte. Ich habe einige Songs, die wirklich sehr heavy sind. Sicher haben sie auch die typischen Melodien, doch fehlen ihnen diese meditativen Elemente, sie sind eher rockiger und mehr Metal. Daher denke ich, macht es mehr Sinn, sie als EP bei Relapse zu veröffentlichen und sie nicht mit auf das Album zu packen. Wie du siehst, habe ich einige Veröffentlichungen in Planung und das ist gut so. Ich mag es eh nicht, wenn zwischen jedem Release zwei Jahre liegen. Das war bei GODFLESH immer so und daran waren auch Earache Records Schuld, die uns derzeit blockiert hatten. Bei Hydrahead Records läuft das anders. Wir brauchen da auch keine Verträge, wir vertrauen uns gegenseitig und dabei fühle ich mich einfach viel besser. Es ist die alte Punk-Attitüde, bei der keiner den anderen verarscht oder übers Ohr haut. Wir vertrauen uns einfach und das gibt mir auch wiederum die Freiheit, mit anderen Leuten zu arbeiten und woanders ebenfalls Platten zu veröffentlichen. Ich mag es, so viel Musik wie möglich zu veröffentlichen, sofern sie gut ist.“
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