IN THE NURSERY (ITN) wurden 1981 von den Zwillingsbrüdern Klive und Nigel Humberstone gegründet – anfangs mit einer klassischen Rock-Besetzung. Als drittes Mitglied fungierte zunächst Anthony Bennet, der die Band 1985 verließ. Geprägt war ihr Sound von einem tiefen dunklen Pathos, treibenden und wuchtigen Synthie-Sounds, kombiniert mit verschiedenen Drum-Sounds und einem schweren Rhythmusfundament. 1983 erschien mit „When Cherished Dreams Come True“ ihr Debütalbum. Kurz danach kam der Kontakt zu DEATH IN JUNE zustande, die ITN gemeinsam mit anderen stilprägenden Genrebands wie CURRENT 93 und CLAIR OBSCUR auf einem Sampler ihres eigenen Labels New European Recordings, „From Torture To Conscience“, einem breiteren Publikum zugänglich machten. Viele der frühen Songs von ITN befinden sich einem gekonnten Spannungsfeld zwischen JOY DIVISION und AND ALSO THE TREES. Neben DEAD CAN DANCE zählen sie zu den Bands, die sich erstmals bei Stilelementen aus der Klassik bedienten und wurden mit ihren Sounds – die später auch von LAIBACH aufgegriffen wurden – zu den Vorreitern des Martial Industrial.
Markenzeichen der Formation war von Beginn an die Verwendung einer Militärtrommel. 1986 erschien mit „Twins“ ihr erstes richtiges Album, das die zuvor stilistisch beschrittenen Wege miteinander vereinte, bevor 1987 mit dem Album „Stormhorse“ der vollständige Wechsel zu einem klassisch geprägten Stil erfolgte. Es gilt mit seinem filmmusikalischen Ambiente als ein für die Neoklassik wegweisendes Werk. Parallel zur Studioarbeit haben IN THE NURSERY die letzen zwölf Jahre damit verbracht, ihre „Optical Music Series“ zu entwickeln, bei der sie klassische Stummfilme mit ihren Sounds neu vertonten – dabei nicht selten Assoziationen zu Philip Glass weckten – und diese auch weltweit aufführten. Die Serie umfasst unter anderem die Klassiker „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Asphalt“, „Der Mann mit der Kamera“ sowie „Die Passion der Jeanne D’Arc“ und viele weitere. Klive Humberstone stand für einige Fragen zur Verfügung.
Ihr seid Zeitgenossen von JOY DIVISION gewesen und habt euch anfangs mit eurem Sound stark an Post-Punk orientiert. JOY DIVISION sind gefragter denn je. Wie hat euch die Band beeinflusst und hattet ihr Kontakt?
Natürlich werden wir regelmäßig nach dem Einfluss von JOY DIVISION auf unsere eigene Entwicklung gefragt. Sie gehörten zu den Bands, die wir damals mit Spannung verfolgten, als sich Post-Punk so richtig entwickelte. Ihre Musik war enorm inspirierend für uns. Wir haben JOY DIVISION einige Male live gesehen, unter anderem im Nashville Room in London im August 1979. Ich würde nicht sagen, dass dieses Konzert unmittelbar eine Initialzündung bei uns ausgelöst hat, wie das zu dieser Zeit bei einigen Musikern der Fall gewesen war, die sofort nach einem JOY DIVISION-Konzert eine Band gründeten, aber wir mussten sie einfach auf der Bühne sehen. Zu diesem Zeitpunkt hatten mein Bruder Nigel und ich bereits die legendäre „An Ideal For Living“-EP, den Factory-Sampler und „Unknown Pleasures“ gekauft und diese Sachen liefen bei uns zu Hause rauf und runter. Die Stimmung auf diesen Platten faszinierte uns sofort und zog uns immer stärker in ihren Bann. Und letztlich waren es dann doch auch JOY DIVISION, die uns veranlassten, eine eigene Band zu gründen. Post-Punk war damals ein Lebensgefühl für uns und ich finde es gut, dass man diesen Einfluss heute noch bei vielen Bands hört.
IN THE NURSERY zählen zusammen mit Bands wie CABARET VOLTAIRE und THE HUMAN LEAGUE zu den Pionieren des legendären Sheffield Electro-Sounds in den frühen 80er Jahren. Das muss eine sehr prägende und beeindruckende Zeit für euch gewesen sein.
In den späten Siebzigern und den frühen Achtzigern war es sehr aufregend in Sheffield, in einer Band zu spielen. Ich hatte mich gerade am Art College eingeschrieben und war schon vom Post-Punk-Ethos erfasst. Obwohl Sheffield eine wirklich unwirtliche und kalte, von der Stahlproduktion geprägte Industriestadt war, hat sie eine überaus lebendige und aktive Musikszene. Die Energie schien sich aus der alles beherrschenden Stahlindustrie direkt auf den Pulsschlag der lokalen Musikszenen zu übertragen. Überall lag diese Spannung in der Luft. CABARET VOLTAIRE waren die Vorreiter und lieferten die Blaupause, andere folgten, wie VICE VERSA, ARTERY, CLOCK DVA, THE HUMAN LEAGUE, HEAVEN 17 und I’M SO HOLLOW. Die Sounds waren sehr düster und experimentell. Und die Musik war eine völlige andere als die, die ich zu dieser Zeit von Bands aus London, High Wycombe und Reading kannte. Das war nicht New Wave oder das nächste Post-Punk-Ding. Die Musik hatte eine viele dunklere Attitüde, einen dunklen Herzschlag, wenn du so willst. Jeden Abend spielten Bands in Pubs wie dem Beehive, das quasi die Heimat von CABARET VOLTAIRE war, und das lediglich einige Minuten zu Fuß von ihrem Studio Western Works entfernt war. Man hatte fast ein Problem, sich für ein Konzert am selben Abend zu entscheiden, das entweder an der Universität, in einem Club oder im Pub stattfand. Und das Publikum selbst bestand größtenteils aus Musikern, entweder um zu beobachten, was die „Konkurrenz“ so machte, oder eben um die Band zu unterstützen.
Gibt es bestimmte Ereignisse, die dir ganz besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Ich kann mich noch sehr gut an einige Konzerte von I’M SO HOLLOW erinnern, die dem Sound von CLOCK DVA nicht unähnlich waren, die in einem kleinen Zimmer über einer Kneipe spielten, oder an ARTERY, die während einer Besetzung der Universität durch die Studenten völlig nackt in einem Gang im Art College spielten. Ich habe im The Prince of Wales YMCA in Sheffield an einem Abend THROBBING GRISTLE und REMA REMA gesehen, und im Publikum waren Robert Smith und Steven Severin. Also, das waren schon aufregende Abende und Nächte in Sheffield.
Später habt ihr mit als die Ersten die fast genreprägenden Militärtrommeln in euren Songs verwendet, was dann in sehr viel intensiveren Umfang beispielsweise bei DEATH IN JUNE fortgeführt wurde. Ihr wart somit fast die „Gründungsväter“ des Post-Industrial-Genres.
Wir haben diese „krachige“ kleine Militärtrommel bereits 1980 in unser Instrumentensortiment mit aufgenommen. Wir haben uns damals gegen ein konventionelles Schlagzeug oder einen Schlagzeuger entschieden und haben eher zufällig in einem Second-Hand-Laden diese Militärtrommel gefunden. Darüber hinaus haben wir mit speziellen Bassdrums wie die Timpani Drums, auch als Kettledrums bekannt, gearbeitet, wie sie auch in großen Orchestern verwendet werden. Ursprünglich war das ein Militärschlagzeug, das später Eingang in große klassische Orchester gefunden hat. Die Trommeln sind dabei auf einem Gerüst aus Holz montiert und man versuchte auf diese Weise, den Sound und die Spielweise von japanischen Kodo-Trommlern zu imitieren. Deshalb würde ich sagen, dass unsere Konzerte und die Art und Weise, wie wir im Studio gearbeitet haben, nicht das ist, was du normalerweise als „Post-Industrial“ bezeichnen wirst. Wie immer war das eher eine Erfindung von Musikjournalisten wie dem NME oder dem Melody Maker, die, nachdem sie zahlreiche Bands in Sheffield live gesehen hatten und Interviews mit ihnen führten, nach einer kategorisierenden Schublade für diesen Sound suchten, um Bands wie HULA, THEY MUST BE RUSSIANS und CHAKK oder speziell 23 SKIDOO oder LAIBACH ein prägendes Label zu geben. Als wir im Juni 1983 ein Konzert in Hackney, London, spielten, trafen wir zum ersten Mal Douglas P. und Tony Wakeford von DEATH IN JUNE, die im Publikum waren. Wir unterhielten uns eine Weile, vereinbarten, in Kontakt zu bleiben, um einige gemeinsame Konzerte auf die Beine zu stellen. Das war eine aufregende Zeit für uns und wir hatten zu diesem Zeitpunkt keinen Plattenvertrag. Als wir unsere Songs samt dem selbst gestalteten Artwork an Douglas P. schickten, erklärte er sich bereit, IN THE NURSERY auf dem DEATH IN JUNE-Label New European Recordings zu veröffentlichen.
Peter Christopherson, Mitbegründer von THROBBING GRISTLE und COIL, verstarb letztes Jahr. Er arbeitete in seinen letzten aktiven Jahren viel mit Dark-Ambient-Sounds. Sind das in etwa auch eure Einflüsse, speziell bei den Songs, die ihr in den Neunzigern veröffentlicht habt?
Ich habe mir eigentlich nie wirklich die Mühe gemacht, unsere Musik bezüglich ihrer Dark-Ambient-Roots zu analysieren. Dieses Genre Ambient Industrial brachte in den frühen Achtzigern einige wirklich interessante Bands und Projekte hervor, wie eben die von dir zitierten COIL, aber auch LUSTMORD und ZOVIET FRANCE. Ich erinnere mich aber auch, dass ich genau in dieser Zeit anfing, mich intensiv mit klassischer Musik zu beschäftigen und viele klassische Komponisten hörte wie Gustav Mahler, Béla Bartók oder Dimitri Schostakowitsch. Obgleich ich einerseits von diesem harten Percussion-Sound und den Tympani Drums fasziniert war, war ich andererseits auch sehr angetan von diesen eher ruhigeren, fast kontemplativen und atmosphärischen Klängen der klassischen Komponisten. Mitte der Achtziger war die Technologie dann soweit, dass Bands durch Sampling und viele technologische Erweiterungen in der Lage waren, fast orchestrale und symphonische Sounds und Klangstrukturen zu kreieren. Aus dem Prozess des experimentellen Arbeitens und der ständigen elektronischen Weiterentwicklung hat sich dann das ergeben, was wir heute als Dark Ambient bezeichnen. Und wir haben in dieser Zeit bereits angefangen Musik zu schreiben, die vermutlich in die Richtung ging, die man als Soundtrack-Musik kategorisieren könnte.
Soundtrack ist ein gutes Stichwort. In den Neunziger Jahren habt ihr angefangen, Soundtracks zu schreiben, unter anderem für den Clint Eastwood-Film „Gran Torino“ und in den letzten Jahren Musik für Aufführungen von Stummfilmen wie „The Passion of Joan of Arc“ und „The Cabinet of Dr. Caligari“, die in London, New York und Mexiko zu sehen waren. Das muss einerseits ein großartiges Erlebnis sein, aber auch eine komplett anderer Arbeitsweise, als konventionelle Alben einzuspielen.
Das ist tatsächlich eine völlig andere Arbeitsweise. Der Prozess, wie wir Soundtracks komponieren oder für einen Stummfilm kreieren, ist auch mit einigen Auflagen und Beschränkungen verbunden. Wenn man Musik für einen Stummfilm schreibt, muss man den Gesamtkontext des Films immer im Blick haben sowie die Story, und bei der Wahl der Soundfrequenzen sich immer die spezielle Atmosphäre der Bilder vor Augen führen. Es ist enorm wichtig, die Gesamtstimmung nicht zu verlassen. Insofern ist man nicht völlig frei in seinem Schaffen, etwa wie bei einem regulären Album. Bei „Gran Torino“ war es so, dass die Verantwortlichen unsere Musik ausgewählt haben, wir sie also nicht speziell für den Film geschrieben hatten. Wir sollten für den Film lediglich eine „neue“ Version einspielen. Das läuft oft so, man tritt an uns heran und wählt bestimmte Tracks für einen Film aus, die wir bereits geschrieben hatten. Wir fühlen uns auch sehr geehrt, dass Clint Eastwood unseren Song „Imperfect design“ persönlich für seinen Film ausgesucht hat.
Ihr seid mitten in den Aufnahmen für ein neues Album, das in Kürze erscheinen wird. Was können wir erwarten?
Das Album ist im Wesentlichen fertiggestellt. Wir müssen noch einige Vocalparts aufnehmen und es final abmischen. Es wird „Blind Sound“ heißen und wir werden dabei von einigen Musikern aus unserer Gegend unterstützt, unter anderem von dem Multi-Instrumentalisten Matt Howden aka SIEBEN. „Blind Sound“ hat sich wirklich großartig entwickelt im Entstehungsprozess mit Songs, bei denen schwere und dunkle Drums dominieren, oder Songs, die mehr Raum für den Gesangspart lassen. Und das mehr, als auf irgendeinem Album von IN THE NURSEY zuvor. Nigel und ich singen auf fünf Tracks und Dolores Marguerite C., mit der wir bereits seit 1987 zusammenarbeiten, singt bei drei Songs. Die Musik wird mehr in Richtung unserer Ursprünge in den frühen Achtzigern gehen. Wir haben uns lange mit neuen Schlagzeugtechniken beschäftigt, mit Sounds, die du nicht mit einem konventionellen Schlagzeug erreichst. Wir haben mit vielfältigen Sachen gearbeitet, wie etwa Trommeln, die vor allem bei der Basler Fasnacht verwendet werden.
Ihr spielt dieses Jahr auf einigen Festivals mit großen Namen wie CLAN OF XYMOX, SEX GANG CHILDREN, Gary Numan oder UK DECAY unter anderem in Portugal. Ich denke, auf solchen Events finden sich vor allem viele „Oldschool“-Fans ein.
Wir werden 2011 in ganz Europa spielen, beispielsweise in Köln auf dem Amphi Festival in diesem Sommer. Unsere Live-Sets werden diesmal viel Material aus unseren ganz frühen Tagen enthalten, so zum Beispiel „Mystery“, der zu unseren ersten Songs überhaupt zählt, aber natürlich auch vieles von unserem neuen Album „Blind Sound“. Das von dir angesprochene Pray Silence Festival in Portugal, auf dem wir unter anderem mit CLAN OF XYMOX, PSYCHE, ATTRITION, VENDEMMIAN oder UK DECAY hätten auftreten sollen, ist leider abgesagt worden. Es war ein sehr ambitioniertes Projekt und ist nun leider nicht zustande gekommen. Es wird wohl als das beste Gothic Festival, das niemals stattgefunden hat, in die Musikgeschichte eingehen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #96 Juni/Juli 2011 und Markus Kolodziej
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #96 Juni/Juli 2011 und Markus Kolodziej