Hardcorebands in Deutschland – gibt es dieeigentlich noch? Kein Punkrock, kein Emo-Core, kein Schwedenrock – Hardcore! Die Luft wird dünn, insgesamt betrachtet. Vor Ort wird das sicherlich anders aussehen, doch welche Truppen z.B. in Dresden oder Augsburg am Start sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht ist dieser Sound inzwischen zu unpopulär, als dass er über eigene Grenzen hinaus bekannt werden könnte ... Ich habe das Glück, dass vor meiner Haustür seit geraumer Zeit eine Truppe, die sich I DEFY nennt, ihr (Un-)Wesen treibt. Letztes Jahr ergatterte ich die EP „The First Strike“ und war völlig von den Socken. Knallhart und auf eine bestimmte Art absolut eigenständig, war die Platte für mich so etwas wie ein Silberstreif am Horizont.
Und spätestens seit dem Erscheinen des 1. Longplayers „The Firing Line“ wird klar, dass hier eine Band existiert, die es von der Niedersachsenmetropole aus geschafft hat, sich im Osten oder Süden der Republik Gehör zu verschaffen. Wer das letzte Heft aufmerksam gelesen hat, wird außerdem die Platte im Soundcheck entdeckt haben. Insgesamt also Gründe genug, um ein Interview zu führen. Dies tat ich mit Sänger Raoul, der schon seit einigen Jahren in der Szene aktiv ist, im hauseigenen Chat-Room.
Zu eurer letzten Platte „The Firing Line“: Sie hat Biss, ist aber im Vergleich zu eurer 6-Song-EP nicht ganz so heftig und brachial, und sehr viel melodischer. Ist das so etwas wie eine „Weiterentwicklung“ in euren Augen oder was hat zu diesem veränderten Sound geführt?
Das ist auf jeden Fall eine Weiterentwicklung. Ich wollte einfach etwas mehr singen. Meine Stimme kann auf Dauer ganz schön nerven und deswegen wollte ich da etwas mehr Variation. Für mich war wichtig, dass die Platte das repräsentiert, was Hardcore für mich sowohl musikalisch als auch inhaltlich bedeutet. Einen punkrockigen Hardcore, ohne unnötige Metal-Mosh-Core-Tendenzen. Viel dazu beigetragen hat auch die Tatsache, dass wir alle aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Flo war mit mir zusammen bei VEIL, Frank kommt aus der klassischen Old School-Ecke, er war bei MIOZÄN, und Eze hat einen Melodic-Punkrock-Background. Diese Kombination ist, glaube ich, das Wichtigste bei der Musik. Ich persönlich würde in Zukunft gerne noch mehr in Richtung Melodic-Hardcore gehen, wir arbeiten auch schon an neuen Songs.
Heißt das, dass ihr bei der EP noch auf der Suche nach eurem Sound wart?
Auf der EP waren unsere ersten Songs und die gingen alle eher in eine Richtung. Bei einem kompletten Album ist das Ganze schwieriger, denn schließlich will man bei mehr als 30 Minuten Spielzeit ja auch mehr bieten als immer nur das Übliche. Das wird vielleicht HC-Puristen vor den Kopf stoßen, aber ich habe auch einen gewissen Anspruch an die Musik, die ich mache. Wir wollten einfach die besten Elemente aus Hardcore und Punk verbinden – eine Platte machen, die viel zu bieten hat.
Die softeren Parts erinnern mich oft an SHELTER, auch der Sound passt ja streckenweise. Ist das ein Einfluss für dich gewesen?
Ja, auf jeden Fall! Für mich war und ist Ray Cappo einer der besten Sänger überhaupt, auch textlich wurde ich immer sehr von ihm beeinflusst. Für mich ist es auch eine Ehre, wenn Leute da eine Parallele sehen, auch wenn ich SHELTER als melodischer empfinde. Aber klar, DAG NASTY, SHELTER, usw. sind natürlich Favoriten. Was die Texte betrifft, versuche ich auch immer persönliche Eindrücke zu verarbeiten anstatt irgendwelche dogmatischen politischen Parolen rauszuhauen – das ist einfach nicht mein Ding. Auch als ich noch straight-edge war, habe ich nie versucht, die Leute durch meine Musik bei VEIL zu bekehren.
VEIL hat sich aber als Band total erledigt?
Ja, VEIL ist tot, leider auch ohne ein Abschiedskonzert. Irgendwie hatte sich zum Schluss alles sehr verlaufen, wir haben nicht mehr geprobt und irgendwann existierte die Band nicht mehr. Ich bin aber nicht unglücklich darüber, denn wir hatten eine gute Zeit und haben mit ungefähr 360 Shows und neun Touren quer durch Europa wirklich Einiges gesehen und sind auch sehr dankbar für diese Erfahrungen.
Und wie ist das mit I DEFY? Seid ihr auch so oft auf Tour? Gibt es viel Resonanz?
Mit I DEFY läuft es eher geschmeidig an, wir haben auch nicht mehr das Bedürfnis, jedes Wochenende zu spielen, sondern wollen mehr selektieren, um wirklich sinnvolle Sachen zu machen. Ein ganz großer Schritt nach vorne ist jetzt die Zusammenarbeit mit der Agentur Muttis Booking. Im August spielen wir mit ANTI-FLAG, außerdem kommt im Oktober noch ein Festival mit TERROR und THE HOPE CONSPIRACY, im November dann ein großes Festival namens European Hardcore Party mit SOIA oder HATEBREED. Lange Touren sind aus Zeitgründen einfach nicht mehr drin, von daher versuchen wir zur Zeit längere Wochenenden zu checken, um da gute Shows zu kriegen. Die Resonanz ist bis jetzt gut, auch wenn viele Leute live mit uns teilweise nicht ganz zurechtkommen, da wir leider immer etwas zu schnell sind. Unsere Musik klappt auch besser in kleinen Clubs mit niedriger Bühne, als in großen Hallen. Das hatten wir jetzt ein paar Mal und das hat irgendwie nie so richtig Bock gemacht.
Spielt ihr öfter im Ausland? Ich habe auch was von England gehört?
Wir spielen sehr viel im Ausland, vor allem in Holland und Belgien. In England waren wir im Februar 2003 mit THE HOPE CONSPIRACY auf Tour. Das war sehr cool, die Szene scheint sich dort gerade gut zu entwickeln, was sich auch an den sehr gut besuchten Shows von AMERICAN NIGHTMARE, CONVERGE oder BANE zeigt. In London waren bei uns über 400 Leute, und das ist für England schon sehr gut, wenn man das mit früheren Jahren vergleicht. Auch die Verpflegung und Unterbringung klappte gut, so dass wir planen, auf jeden Fall noch mal rüber zu gehen.
Hat euer Label Reflections etwas damit zu tun? Wie kam der Kontakt eigentlich zustande?
Reflections sitzt ja in Holland und wurde ursprünglich 1996 oder so als Fanzine gestartet. Ich habe die Leute damals kennen gelernt, da wir in einer der ersten Ausgaben interviewt wurden. Johan und Suzanne waren uns von Anfang an sehr wohlgesonnen – bereits zu VEIL-Zeiten –, und so standen wir eigentlich immer in Kontakt. Als wir mit I DEFY unsere erste Single machen wollten, fragten wir auch Reflections, die zu der Zeit schon einiges rausgebracht hatten und sie waren die Einzigen, die sofort Interesse hatten. Uns war ein Kontakt zu Leuten wichtig, mit denen uns etwas verbindet. Von daher war Reflections einfach genial. Sie haben das auch mit der englischen Booking-Agentur klargemacht.
Meine Song-Favoriten auf der letzten Platte sind „Reminisce“ und „Sad Story“, die sind eben sehr abwechslungsreich. In beiden Liedern geht es um eine irgendeine Form von Rückblick. Kannst du was dazu sagen?
In ‚Reminisce‘ geht es um Erinnerungen an Kindheit und Jugend, also eigentlich an eine sorgenfreiere Zeit, die bei mir aber auch mit schmerzhaften Erfahrungen verknüpft ist. Ich wuchs unter teilweise chaotischen Umständen auf und musste schon sehr früh für mich stehen, da ich das Gefühl hatte, meinen Eltern und Erwachsenen allgemein nicht trauen zu können. Dieses Misstrauen ist irgendwie geblieben. ‚Reminisce‘ bedeutet so etwas wie in Erinnerungen schwelgen. Das tue ich sehr oft, vor allem jetzt, wo ich älter werde und merke, wie alles ernster wird. Ich sehe das eher ambivalent, ich weiß nicht, ob es gut ist, zu sehr an der Vergangenheit zu hängen und sich diese Erinnerungen zu bewahren. Vielleicht kann es eine Entwicklung behindern. Das ist ein großes Thema für mich. In ‚Sad Story‘ geht es in erster Linie um eine Freundin meiner Mutter, die sich mit 50 Jahren das Leben genommen hat. Das war sehr tragisch und ich glaube, dass sich meine Mutter große Vorwürfe gemacht hat, niemals die stillen Signale der Verzweifelung gehört zu haben. Es geht darum, aufmerksamer zu sein seinen Freunden gegenüber. Man muss mehr acht geben auf das, was um einen herum passiert und genau hinschauen. In gewisser Weise ist das auch eine Aufforderung an mich, da ich oft dazu neige, mich zurückzuziehen, anstatt das Gespräch zu suchen.
Neben diesen persönlichen Dingen findet sich bei dir auf der anderen Seite oftmals eine ziemliche Wut z.B. auf ignorante Leute. Hier fällt mir der Titelsong auf. Gibt es zu „The Firing Line“ noch ein Statement von dir?
‚The Firing Line‘ ist in gewisser Weise ein Mittelfinger für alle Leute, die sich alles so einfach machen und das Leben, was sie leben, niemals in Frage stellen. ‚I’d rather die than living on my knees‘ – ich versuche meine Träume zu verwirklichen, auch wenn ich scheitern sollte. Versuche, für mich selbst zu stehen, und nicht für eine gesellschaftliche Gruppe, eine Szene oder sonst was. Hardcore und Punk hat für mich immer die zentrale Aussage gehabt, dass man niemals irgendwelche Normen und Gesetze blind akzeptieren sollte. Das bedeutet aber Anstrengung, sich ständig zu hinterfragen, ständig zweifeln zu müssen und neue Entscheidungen zu treffen. Das ist die ‚Feuerlinie‘, wo Auseinandersetzung und Reibung ist. Ursprünglich ist der Titel von dem NO FOR AN ANSWER-Song ‚No Prisoners‘ inspiriert. Dan O’Mahony ist neben Ray Cappo eh ein ganz Großer, die letzte SPEAK-Single und deren Album sind textlich und musikalisch mit die besten Scheiben seit langem. Ich wollte mit dem Song auch etwas provozieren, in unserer ach so alternativen Szene. Es gibt dort sehr konservative Leute, die ungern ihre Festgefahrenheit zugeben würden.
Wessen Idee war es eigentlich, „Disco“ von SLIME für die Platte zu covern?
Wir hatten keinen Bock irgendeinen x-beliebigen HC-Song à la GORILLA BISCUITS oder JUDGE zu covern, dann kam die Idee mit SLIME. Das Ganze haben wir in zehn Minuten eingespielt. War ein Volltreffer ...
Es wird deutlich, dass eine Menge Gedanken und Herzblut für I DEFY stehen. Du hast ja auch das Cover selbst gestaltet.
Das Cover habe ich selbst entworfen und umgesetzt, genau wie die Website. Mir macht es halt sehr viel Spaß, für die Band kreativ zu sein. Dahinter steht auch dieser DIY-Gedanke, sich einfach selber alles beizubringen und dann umzusetzen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #47 Juni/Juli/August 2002 und Dominik Winter
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #68 Oktober/November 2006 und Stephan Zahni Müller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #51 Juni/Juli/August 2003 und Joachim Hiller