HUMAN ABFALL

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An der Drehtür zur Psychiatrie

„Form und Zweck“ heißt das zweite Album der Band, die immer noch nicht englisch ausgesprochen wird und weiterhin aus der Stadt kommt, deren Namen man nicht aussprechen darf, ohne gleich hippe Medienvertreter anzulocken. Zeitgleich erscheint ein exklusives Stück auf dem „Refugees Welcome“-Sampler. Manches ist anders als bisher, und bevor irgendjemand in Dummheit sterben oder andere Magazine lesen muss, fragen wir lieber selber bei Sänger Flavio Bacon nach.

Mit der letzten Platte habt ihr viele neue Freunde aus Presse, Funk und Fernsehen gewonnen. Wie fühlt es sich an, wenn einem Leute die Hand schütteln wollen, denen man ein Jahr zuvor noch herzlich egal war, obwohl man im Grunde nichts anderes als jetzt gemacht hat?


Anfangs fand ich diese Art Gespräche seltsam. Heute finde ich sie immer noch seltsam, aber man lernt, worum was es in den Gesprächen geht. Worum? Einfach um nichts und eventuell um ein paar Stichworte, damit die Medienmenschen nicht eins zu eins aus dem Promotext oder aus Interviews ihrer Vorgängerpraktikanten abschreiben müssen. Aber es gab auch ein paar Menschen aus der mir sonst so fremden Welt der Medien, wo es mir ein Vergnügen war, sie kennen gelernt zu haben, denn auch auf dem größten Misthaufen können wunderschöne Blumen wachsen.

Seltsamerweise wurde sogar das Stuttgarter Popbüro auf das aufmerksam, was seit nunmehr fünf Jahren in Stuttgart passiert. Es gab sogar Preise, und unter den Ausgezeichneten war neben DIE NERVEN, Micha Schmidt und Peter Goldmarks auch HUMAN ABFALL, die mit dem „MARS“, dem Music Award der Region Stuttgart, als Einzige einen Preis bekommen haben, der nicht nur einstaubt, sondern mit einem Geldbetrag verknüpft war. Wie fühlt es sich an, wenn selbst eine per definitionem halbblinde Institution der Wirtschaftsförderung Stuttgart nicht mehr verleugnen kann, was außer ihnen längst jedem klar war? Und wie geht man mit der Ehrung um, die man gar nicht wirklich will?

Wir haben nichts für den Preis gemacht. Also nichts, was wir sonst nicht auch machen würden. Wir haben uns nicht mal angemeldet oder so. Wir haben nur dagesessen und die üblichen Sachen gemacht. Daher war ich – alleine wegen unserer sehr eindeutigen inhaltlichen Positionierung – ziemlich verwundert, dass uns die Wirtschaftsförderung Baden-Württemberg nicht nur 5.000 Euro schenkt, sondern auch noch auf Freigetränke einlädt. Als der Preis 2013 das letzte Mal vergeben wurde, hat ihn Cro bekommen. Ich hoffe, auch bald nur noch von Tellern mit Goldrand zu essen.

Die 5.000 Euro habt ihr, wie es sich für die Shoeshine Boys der herrschenden Klasse gehört, gleich für Koks ausgegeben, oder?

Wir hätten uns wirklich einen sehr schönen Abend machen können. In love with the coco, gin’n’juice und einfach mal die Korken der Herzen knallen lassen – leider haben wir uns dazu entschieden, den sicheren Weg der Gewinnmaximierung zu gehen. Wir sind für unser zweites Album zwei Monate zu Ralf Milberg ins Studio gegangen. Dort mussten wir feststellen: In der Situation maximalen Gewinns entsprechen die Grenzkosten dem Grenzerlös.

5.000 Euro sind ein überdurchschnittliches Budget in Zeiten von Homerecording-Sessions, die mittels ProTools aufgepimpt werden.

Wenn man Pizza, Antipasti und Fiori di Zucca einrechnet, sind die 5.000 Euro weg. Ich bin kein großer Fanboy von Homerecording. Klar hat man da heute sehr viele Möglichkeiten und D.I.Y. ist eine tolle Sache, aber die Ergebnisse sind meist austauschbar. Ralf mit seinen Milberg Studios in Stuttgart-Süd hat uns genau gefragt, was wir wollen, wie das Album klingen soll, wo die Songs hin sollen, und wir haben zusammen daran gearbeitet – so was kann kein ProTool leisten. Als wir ins Studio gegangen sind, hatten wir erst drei Songs fertig, den Rest haben wir dort entwickelt. Klar, Ideen und die Texte waren da, aber noch nichts, was mit Songs zu tun hatte. Die zwei Monate haben uns die Möglichkeit gegeben, sehr viel auszuprobieren, und ja, man hört es raus. Jeder, der schon mal im Studio war, hätte sich hundertprozentig Extrazeit für Details und so weiter gewünscht. Wir hatten das Glück, genau das mit geschenktem Geld zu realisieren. Unterm Strich war die Zeit aber dann doch schneller um, als man denkt. Hintenraus hatten wir einen straffen Zeitplan.

Bei einem „normalen“ Studio hättet ihr dafür vielleicht vier Wochen bekommen. Und ohne fertige Platte ins Studio zu gehen, kennt man sonst nur von wirklich großen Bands oder aber dem Sunrise Studio in den Achtzigern, wo Etienne Conod eine ähnliche Pionierarbeit wie Ralf Milberg geleistet hat. Was ist anders an der „neuen“ Platte?

Na ja, geschenkt bekommt man nur den Tod. Irgendwann hat uns Ralf den Studioschlüssel gegeben und ist mit DIE NERVEN auf Tour. Ab da mussten wir alleine klarkommen. Die neue Platte ist sehr viel härter, aber auch offener vom Sound geworden. Zudem wurde die Musik den Texten angepasst. Sie loopt, wiederholt sich stakkatoartig und bindet Rhythmuselemente aus HipHop und Trap in den klaustrophobischen Post-Punk ein. Die ganze Band hat sehr viel schwarze Musik – Soul, Jazz, Funk und HipHop – seit der letzten Platte gehört. „Form und Zweck“ ist eine Platte geworden, als würde man beim Tanzen an der frischen Luft erwürgt werden. Nice!

Der Blickwinkel der Texte hat sich verändert. Die direkte Konfrontation des Gegenübers ist weitgehend einem weiteren Sichtfeld und einem feineren, ungemein zynischen Unterton gewichen. Was hat zu dieser Veränderung geführt?

Natürlich gibt es immer noch die Beschreibungen persönlicher Zusammenbrüche an der Drehtür der Psychiatrischen oder am Rande der Mecklenburgischen Seenplatte, aber im Großen und Ganzen geht es um die Sicht auf Europa beziehungsweise das, was jetzt am Ende unseres Kulturzeitalters jenseits seiner Festungsgrenzen passiert. Die europäische Utopie ist an den Realitäten eines liberalen Wirtschaftssystems mit ungleichen Grundvoraussetzungen, also unterschiedlichen Steuer-, Bildungs-, Sozialsystemen, gescheitert und hat damit eine Generation hervorgebracht, die eine unsichere europäische Dystopie leben muss. So wandert der Blick von Montagen in Dresden, in denen ein gut ausgebildetes akademisches Prekariat – arm und sexy – am Abgrund steht und nach Antworten auf die Sinnfrage hofft, hin zu den Orten wie New York, Paris oder Madrid, wo ein radikalisierter „Glaube“ unschuldige Menschen in den Tod gerissen hat, und uns alle vor die Aufgabe stellt, weiterhin ein freies Leben zu führen. Fast alle Texte basieren auf Essays und Kurzgeschichten von mir, die ich versuche, immer weiter aufs Wesentliche zu reduzieren wie eine gute dunkle Bratensauce. Das Ganze wird dann mit dem Störrischsten und Eckigsten abgeschmeckt, das die deutsche Sprache hergibt, um es schließlich über die Musik brühheiß drüber zu kippen. Dann mal guten Appetit, die Herrschaften!

Das klappt dann auch live?

Es gibt für mich immer einen Unterschied zwischen den Versionen der Songs auf Platte und live. Auf Platte geht es um Details, Spannung und Hörbarkeit, live um Energie und darum, die Stimmung der Stücke direkt zu vermitteln. Die Songs der „Form und Zweck“-LP können – wenn wir wollen – auch so live gespielt werden, denn dazu wurden sie auch geschrieben.

Wie sieht der Welteroberungsplan aus, mit dem die Tagesjobs endlich gekündigt werden können, um sich voll und ganz dem Künstlerleben zu widmen?

Alles bleibt, wie es ist! Alles außer musikalischer Veränderung macht mir Angst. Wenn mir jedoch jemand ’ne Villa mit Pool anbietet, dann können wir gerne nochmals über meine Ängste sprechen.

Also auch kein richtiges Majorlabel, das sich erst euphorisch kümmert, um euch dann nach zwei Platten, die hinter den Erwartungen zurückbleiben, wieder fallen lässt?

Wir sind momentan sehr mit unserem Label zufrieden. Da wird gerade sehr viel Arbeit reingesteckt. Bei einem Major wären wir nur ein ganz kleines Licht. Ich wüsste nicht, was uns ein Major mehr bieten könnte als Sounds of Subterrania. Die Ära, in der ein Major eventuell Geld und Erfolg bedeutete, ist seit gut zwanzig Jahren vorbei.

Gemessen an der Zahl der Nachahmungstäter steht ihr immer noch da, wo ihr angefangen habt. Mir ist keine Band bekannt, die dahingehend „gelobt“ wurde, dass sie klingen wie HUMAN ABFALL. Wirklich erfolgreich ist man doch erst, wenn andere einen kopieren oder wenigstens Coverversionen spielen.

Da stellt sich mir auch die Frage: Wie klingt denn HUMAN ABFALL? Wir wissen ja nicht mal, wie man den Namen ausspricht! Ich bin aber wirklich auf die ersten Coverversionen gespannt, wobei die ganzen Texte sehr persönlich und privat sind. Daher kann ich es mir nicht vorstellen, dass jemand anderes sie singt. Fun Fact: KARIES wurden als HUMAN ABFALL-Coverband gegründet. In der Zwischenzeit machen die es alleine auch ganz gut.

Was macht der Stuttgart-Hype, den aus meiner Sicht nur Außenstehende so zu erleben meinen? Hat sich für die Bands, die in diesem Zusammenhang genannt werden – und dazu gehört auch ihr –, irgendetwas grundlegend verändert, etwa in Sachen Wahrnehmung oder Auftrittsmöglichkeiten?

Ach, dieses explosive Stuttgart-Ding ist längst vorbei. Was da 2011/12 los war, findet man heute in dieser Form nicht mehr. Also jede Woche neue Bands, die aus den immer wieder selben zwanzig Leuten bestehen, und alles, was außerhalb dieses Kreises passierte, hat keinen interessiert. Da war jede US- und UK-Band, die in der Stadt war, völlig egal und sowieso nicht so cool wie unsere Sache. Andererseits haben sich einige sehr gute Bands etabliert, die gute Platten machen und viel touren. Ich selbst bin Superfan von WOLF MOUNTAINS, LEVIN GOES LIGHTLY, THE LOST RIVERS, JFR Moon, DIE SÄULEN DES KOSMOS und MOSQUITO EGO. Ja, die ganzen Bands werden gefühlt seit einiger Zeit viel mehr wahrgenommen, und haben dadurch natürlich bessere Möglichkeiten, zu touren und Platten rauszubringen. Aber innerhalb von Stuttgart hat sich wenig verändert, da es uns nie in die großen Clubs getrieben hat. Die besten Konzerte finden immer noch in versteckten, nicht offiziellen und leider meist nur temporären Lokalitäten statt.

Kommen zu euren Konzerten in der Landeshauptstadt auch Berliner, oder sind es doch alles nur Exilschwaben, die die Gelegenheit zu einem nostalgischen Abend nutzen, um mal wieder über Heimat zu sprechen?

Ich hasse Schwaben in Berlin genauso wie in Stuttgart. Ich bin um wirklich jeden Schwaben froh, der nach Berlin abwandert. Wenn der Rest Stuttgart auch noch verlässt, gibt es hier eventuell wieder bezahlbaren Wohnraum und weniger beschissene Hochglanzwichser.

Dann hasst du also doppelt all jene Exilschwaben, die aus Berlin als Regentrifizierer wieder zurückkehren, weil sie dort gescheitert sind und Stuttgart öfter in den angesagten Medien genannt wird?

Oh ja, the lowest of the low! Hass ist eine starke Emotion, aber hier völlig gerechtfertigt.

Letzte Worte an junge Musiker, die noch immer auf der Identitätssuche sind und dann doch nur wieder im Bewährten scheitern?

Hört euch nicht nur immer Platten aus einem Genre an, und versucht nicht wie Band XY zu klingen. Versucht nicht zu klingen wie eine Band, die es schon gibt. Studiert ein paar Semester Soziologie oder Philosophie, bevor ihr Texte schreibt. Veröffentlicht nichts, mit dem ihr nicht zufrieden seid. Und versucht zu Abwechslung mal, cool zu sein und keine Trottel.