Bei den Briten HIGH VIS kann man gut und gerne von der Band der Stunde, vielleicht sogar des Jahres sprechen. Ihr zweites Album „Blending“ ist Ende 2022 erschienen, hat aber bereits einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ihre Mischung aus Arbeiterklasse-Ethos, Hardcore und einer immer wieder durchschimmernden OASIS-Attitüde hat sie schnell in die Herzen all derer gespielt, die gerne über Genregrenzen hinaus schauen. Sänger Graham erzählt uns davon, wie es sich anfühlt, dem grauen Alltagsjob zu entkommen und vor ausverkauften Häusern zu spielen.
Ihr seid mit „Blending“ gerade in aller Munde. Eure Shows sind durchweg ausverkauft und es scheint so, als wären sehr viele Leute von euch begeistert. Gleichzeitig geht es auf der Platte ja irgendwie auch um einen immerwährenden Kampf mit sich selbst und der Gesellschaft. Wie fühlt sich die Situation im Moment für dich an?
Auf gewisse Weise ist es zur Zeit echt abgefahren für uns. Natürlich überwiegt das schöne Gefühl, dass wir so viel Zuspruch für etwas bekommen, das für uns eine sehr persönliche Angelegenheit ist. Es ist echt krass, dass Musik dazu fähig ist. Ich meine, wenn wir Musik hören oder wenn wir Shows spielen, empfinden wir ja nie alle das Gleiche. Trotzdem entsteht dieses Gefühl der Gemeinschaft. Dass unsere Band so was bei anderen Menschen erzeugen kann, ist fast schon unglaublich. HIGH VIS gibt es ja jetzt schon eine Weile und wir haben alle auch vorher in anderen Bands gespielt. Die Menge an Feedback, das wir jetzt erfahren, ist aber total neu für uns. Wir kommen gerade von unserer Tour durch Europa zurück und es war wirklich der Wahnsinn. Ich hätte mir niemals träumen lassen, so was mit meiner Musik oder meiner Band zu erleben.
Die Energie, die bei euren Gigs zu spüren ist, ist vielleicht am ehesten mit der einer Hardcore-Show zu vergleichen. Dabei blickt ihr musikalisch auch deutlich über den Tellerrand, oder?
Viele unserer Songs sind auf gewisse Weise voller Wut und Zorn. Gleichzeitig haben sie aber vielleicht mehr emotionale Tiefe als ein waschechter Hardcore-Song. Ich mag die Energie, die zwischen uns und dem Publikum entsteht. Und das obwohl wir doch eher eine melodische Band sind, zu der man nicht unbedingt moshen kann. Aber es fühlt sich auch großartig an, dass so viele Leute stagediven. Es ist immer super viel Bewegung zu sehen und man merkt, dass die Menschen einiges an Power und Emotionen mitgebracht haben. Dass wir das Ventil dafür sind, dass das alles rausgelassen wird, ist für uns als relativ junge Band echt krass. Musikalisch sind wir eigentlich von allen britischen Bands beeinflusst, die du dir so denken kannst. Ich war großer Fan von Hardcore-Bands aus Liverpool, als ich noch jünger war. KNUCKLEDUST aus London finde ich auch unfassbar gut. Gleichzeitig bin ich auch mit Bands wie BLACK SABBATH oder GUNS N’ ROSES aufgewachsen – auf die beiden bin ich durch meine Mutter gekommen. OASIS spielen mit ihrer Punk-Attitüde auch eine große Rolle für uns.
Hast du eine Idee, was die Leute dazu bewegt, sich mit eurer Musik zu beschäftigen? Meinst du, es ist diese Arbeiterklasse-Attitüde, die euch mit eurem Publikum verbindet?
Der Begriff Working-Class-Band steht tatsächlich oft im Raum und spiegelt auch zum Teil unseren persönlichen Background wider. Keiner von uns kommt aus einem privilegierten Elternhaus. Gleichzeitig wird der Begriff auch als Identifikationsmerkmal genutzt. Ich wohne zwar in London, komme aber aus dem Norden Englands, in dem man die Probleme der Arbeiterinnen und Arbeiter an jeder Ecke spüren kann. Der Kontrast zwischen der Hauptstadt und dem Leben in Liverpool ist wirklich enorm. Viele meiner Freunde und Teile meiner Familie haben es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt und das versuche ich in unserer Musik zu verarbeiten.
Die Themen, die du vor allem auf „Blending“ ansprichst, zeigen ganz deutlich, dass etwas gewaltig falsch läuft. Denkst du, die Leute sind trotzdem zu blind, um zu erkennen, was abgeht? Oder meinst du, wir sind einfach zu träge, um uns und damit auch irgendwie die Gesellschaft zu ändern?
Ich würde sagen, dass die Leute gar nichts ändern können. Ich arbeite als Werkstattlehrer an einer Privatschule in Süd-London. Um die Schule herum befinden sich viele besetzte Häuser und man sieht viele Junkies und Obdachlose. Das ist der komplette Kontrast zu dem privilegierten Leben, das die Kids, die an meiner Schule unterrichtet werden, genießen dürfen. Das Gebäude ist wie ein Monolith in dieser sehr düsteren Gegend. Ich selbst bin auch nicht zu einer Privatschule gegangen und bringe eine andere Sicht auf die Dinge mit, die den Alltag der Schülerinnen und Schüler prägen. Die Schulgebühren, die für ein Kind pro Jahr fällig sind, sind höher als das Gehalt, das ich bekommen habe, als ich angefangen habe, an der Schule zu arbeiten. Bevor ich dorthin gekommen bin, habe ich eine Ausbildung zum Handwerker gemacht, jetzt bekomme ich eine komplett andere Welt zu Gesicht. Netterweise darf ich in der Schule meine eigenen Möbel bauen, die ich mir sonst nicht leisten könnte. Gleichzeitig ist der Schulalltag für die Jugendlichen „ganz normal“, etwas Natürliches. Sie haben so gesehen auch kein Gespür dafür, dass es anderen Leuten, die nicht die gleichen Vorzüge genießen, einfach nicht so gut geht. Meiner Meinung nach muss es darum gehen, Vorurteile abzubauen. Gemeinsamkeiten sollten gepflegt und in den Vordergrund gestellt werden, anstatt sich immer weiter voneinander zu entfernen.
Wie siehst du die Rolle von Musik in dieser Situation? Ist sie eher ein Bindeglied oder kann sie gar etwas bewegen?
Ich würde vor allem sagen, dass Musik uns dabei hilft, unsere Probleme und Unterschiede für ein paar Momente zu vergessen. Für mich war es besonders Hardcore- und Punkmusik, die mir dabei geholfen hat, dass ich mich verstanden gefühlt habe, obwohl ich mich gleichzeitig als Einzelgänger gesehen habe. Das ist auch das, was ich jetzt gerade wieder merke: Viele Menschen kommen zu uns und spüren, dass sie mit ihren Problemen und Gefühlen nicht allein sind. So etwas kann doch eigentlich nur Musik erzeugen, oder? Wir brauchen ja auch alle etwas, mit dem wir der Wirklichkeit irgendwie entkommen können. Die Tour, die wir jetzt gerade gespielt haben, konnte ich in meinen Ferien über die Bühne bringen. Dabei war die letzte Show an einem Sonntag in Paris, wir sind die ganze Nacht durchgefahren, so dass ich um fünf Uhr zu Hause war. Um acht Uhr stand ich wieder vor der Klasse. Das war es mir aber absolut wert.
Wie kommst du mit der Rolle klar, dass die Leute in dir so etwas wie ein Vorbild sehen, das sie versteht und das für sie spricht?
Ich finde das sehr schwierig. Tatsächlich habe ich in den Gesprächen auf der Tour ein Gefühl dafür bekommen, wie viel unsere Musik ein paar Leuten bedeutet. Gleichzeitig würde ich mich aber nicht auf eine Bühne stellen und anfangen über etwas zu predigen. Ich bin der Meinung, dass man immer zu 100% zu dem stehen muss, was man sagt. So ist das auch in meinen Texten. Deswegen spreche ich auch nur über die Dinge, hinter denen ich wirklich stehe. Ich nutze unsere Musik eher dafür, mich selbst besser zu verstehen. Und da geht es uns allen in der Band irgendwie gleich. Ich möchte keine Erwartungen erfüllen müssen, die jemand anderes an mich stellt, nur weil ich der Sänger in einer Band bin. Mir geht es vor allem um Integrität. Die Leute können mit meinem Zeug anfangen, was sie wollen. Aber die Vorstellung, ein Vorbild zu sein, ist wirklich furchtbar. Ich möchte keine Macht über jemand anderen haben. Schließlich bin ich nicht anders als alle anderen.
Irgendwie ist es aber dennoch so, als wollte ich mich, nachdem ich HIGH VIS gehört habe, dafür einsetzen, etwas zu verändern. Stellenweise versprüht ihr einen ähnlichen Vibe wie THE CLASH. Es ist so, als könntet ihr Teil einer Bewegung sein.
Für uns haben die Songs in erster Linie eine therapeutische Wirkung. Ich verarbeite meine Gedanken und Gefühle, die ich in konkreten Situationen gespürt habe. Das waren mitunter Tiefpunkte in meinem Leben, in denen ich wirklich zu kämpfen hatte. Dank der Musik konnte ich mich aus diesen Tälern befreien. Darüber rede ich auch immer wieder auf unseren Konzerten. Auch die Songs auf unserem ersten Album „No Sense, No Feeling“ sind in einer sehr düsteren Zeit entstanden und behandeln meine Probleme sehr direkt und ungeschminkt. Bei „Blending“ haben wir uns viel Zeit genommen, uns mit den Themen auseinanderzusetzen. Wir alle stecken emotional so tief in unserer Musik, dass man diese Stimmung auch wahrnehmen kann.
Wird das nächste Album dann fröhlicher, da es für euch ja jetzt zu laufen scheint?
Du meinst, dass wir darüber singen, wie großartig doch alles gerade läuft? Haha, ich denke eher nicht. Tatsächlich haben wir schon vor einiger Zeit damit angefangen, neue Songs zu schreiben, die auch wieder unsere momentane Situation abbilden. Es wird definitiv ein anderes Album als „Blending“. Und wie wahrscheinlich jede Musikerin oder jeder Musiker bin ich der Meinung, dass die neuen Sachen das Beste sind, was wir als HIGH VIS jemals geschrieben haben.
Es steht tatsächlich schon ein neues Album an? Das letzte ist doch noch nicht mal ein Jahr alt.
Wir haben zwischenzeitlich nicht aufgehört, Musik zu schreiben. Uns kommen auch ständig neue Ideen. Sei es, dass wir uns über etwas Bestimmtes unterhalten oder dass ich in meiner Therapie ganz bestimmte Sachen anspreche, die in meiner Vergangenheit passiert sind. Ich schreibe immer alles auf und merke, dass es mir ungemein hilft, das Ganze so aufzuarbeiten. Im Anschluss spreche ich mit den anderen Jungs in der Band darüber, die dann ihre Riff-Ideen mit der Stimmung des Songs verbinden. Das fühlt sich sehr organisch an.
Lass uns noch über „Trauma bonds“ reden, meinen Lieblingssong von „Blending“. Vor allem die Zeile „Are we still lucky to be here?“ sticht für mich besonders heraus.
Diese Frage stelle ich mir regelmäßig. Dabei ist der Song sehr doppeldeutig. Manchmal gibt es diese Momente, in denen man wirklich alles infrage stellt. Das Leben ist für die meisten von uns wirklich hart und wir kämpfen uns durch den Alltag. Gleichzeitig bringen dich die Erfahrungen, die du machst, aber permanent weiter. Und manchmal braucht es nur einen kleinen Funken und du siehst wieder das Positive. Bis dahin bist du aber an deinen Problemen gewachsen. Wir kommen alle an den Punkt, an dem wir bestimmte Dinge einfach akzeptieren müssen. Meine Eltern werden irgendwann sterben, ich werde meine Freunde verlieren. Alles, was uns bleibt, ist das Beste aus diesen Situationen zu machen und uns vielleicht auch noch gegenseitig zu unterstützen. Life’s a bitch and then you die. Aber zwischendurch gibt es immer wieder diese schönen Ausschnitte, die es lebenswert machen. Ich kann nur für mich selbst sprechen, aber die Band hat einen großen Anteil daran, dass ich gerade sehr viele schöne Momente erleben darf.
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