Der deutsche Musikuntergrund der Siebziger und Achtziger ist bestens abgebildet in diversen Büchern, da übersieht man schnell, dass auf der anderen Seite des Gartenzauns noch Arbeit zu tun ist. 2006 erschien deshalb das 324 Seiten starke Standardwerk „Hot Love – Swiss Punk & Wave 1976-1980“, herausgegeben von Lurker Grand. Das Schweizer Gegebenheiten widerspiegelnde deutsch-französische Buch wurde zum Standardwerk für Zeitgenossen, interessierte Spätgeborene und Sammlernerds, nirgendwo sonst bekommt man mehr Interviews, Fotos und Infos zu den relevanten Platten dieser Jahre. Lurker Grand und sein Co-Herausgeber André Tschan haben nun mit „Heute und Danach – The Swiss Underground Music Scene of the 80’s“ (Verlag Edition Patrick Frey) das Anschlusswerk veröffentlicht – und ich stellte Lurker dazu einige Fragen.
2006 erschien „Hot Love“ – wie waren die Reaktionen darauf?
Für mich ist vor allem wichtig, dass bis heute alle Beteiligten, dies sind ja mehrere hundert ehemalige Punks, noch zu 100% dahinterstehen. Ich werde auch oft von jungen Menschen darauf angesprochen, entweder direkt oder über die Swisspunk-Website. Das gefällt mir, denn ich glaube, dass die Idee Punk auch heute noch eine gute Alternative zu der Scheiße da draußen ist. Die Erstauflage von 3.000 Exemplaren war ja in fünf Wochen schon ausverkauft. Die zweite Auflage mit 2.500 Exemplaren ist auch fast durch. Dies empfinde ich nicht als selbstverständlich, das Teil kostet heute 54 Euro, ist somit nicht billig. Dazu geht es bei uns nicht um die RAMONES, SEX PISTOLS oder EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, sondern um die NASAL BOYS, BASTARDS oder REBELS. Nach „Please Kill Me“, „England’s Dreaming“ und „Verschwende deine Jugend“ gibt es nun auch „Hot Love“. Diese vier Bücher werden heute oft in einem Atemzug genannt, wenn es um Punk-Bücher geht. Das war für mich der Ansatz, da wollte ich hin. Ich wollte es aber eigenständig machen, keine Kopie sein, und ich glaube, das ist uns gelungen.
Nun sind sechs Jahre vergangen und mit „Heute und Danach“ ist das Anschlusswerk erschienen, das die Achtziger abdeckt und damit stilistisch breiter aufgestellt ist mit Punk, Wave, Metal und Rock – im Untertitel ist pauschal von „Swiss Underground“ die Rede.
Dazu zuerst etwas Grundlegendes: Bei „Hot Love“ geht es um Punk und New Wave in der Schweiz von 1977 bis ’79. 1976 heißt bei uns „Punk is coming over us“ und 1980 „Punk is dead“. Für das, was wir in dieser Zeit machten, gab es noch nicht all diese Unterbegriffe. Im neuen Buch „Heute und Danach“ geht es nun um die gesamten Achtziger Jahre. 1980 steht hier für den Beginn, den Post-Punk. Diese Phase dauert bis circa Mitte der Achtziger und wird danach von den beiden Begriffen „Indie“/UK oder „Alternative Rock“/USA abgelöst, wo man sich halt sah. Das heißt, wir dokumentieren die musikalischen Entwicklungen und Strömungen im Schweizer Musikunderground, wie sie zu der Zeit passiert sind, und nicht wie sie Nachgeborene heute vielleicht interpretieren, oder wie sie Teile der damals aktiven Musiker heute gerne sehen würden. Ich meine Ansagen im Sinne von „Wir spielten schon immer 77er Punk“ oder „schon 1979 Industrial“ ... fucking bullshit!
Was kennzeichnet den Untergrund jener Jahre, gerade im Vergleich zu Deutschland?
Was den Schweizer Underground vom deutschen unterscheidet, kann ich nicht wirklich beantworten, doch war es sicher nicht grundlegend anders. Das Buch behandelt circa 2.000 Musiker, deren Grundmotivation und gemeinsamer Nenner beim Musikmachen auf dem D.I.Y. des Punk der Siebziger Jahre basiert. Also nicht auf Achtziger-Punk-Sound und Uniformierung. Das führte meiner Meinung dazu, dass auch in der kleinen Schweiz stilbildende Musikgenres mitgeprägt wurden. Beispielsweise sind GRAUZONE und HERTZ Pioniere der NDW. KLEENEX und später LILIPUT gelten als Vorbilder der amerikanischen Riot-Grrrl-Bewegung; CHIN-CHIN, eine weitere Frauenband aus Biel, als Pionierinnen des Noisepop. YOUNG GODS sind stilprägend im Industrial, CELTIC FROST im Dark Metal, FEAR OF GOD im Grindcore ... Und dann waren und sind da auch noch YELLO, SCHALTKREIS WASSERMANN, MITTAGEISEN, UNKNOWNMIX, MONSTERS – um einige weitere zu nennen. Nicht zu vergessen, dass viele Bands aus dieser Zeit, die mehrheitlich zwar nur in der Schweiz bekannt sind, hierzulande jedoch enorm wichtig waren und es auch teilweise bis heute noch sind. Das ist umso wichtiger, da es nachträglich dazu führte, dass wir in der Schweiz heute eine „neue“ Volksmusik haben und die klassische konservative Volksmusik endlich dort ist, wo sie schon lange hingehört – nämlich im Museum oder allenfalls noch im Musikantenstadel.
Wie gestaltete sich die Arbeit an dem Buch, wer half maßgeblich mit?
Das Buch ist in sechs Hauptthemen gegliedert. Das sind unserer Meinung nach die Bereiche, wo sich die Musiker in der Zeit einbrachten. Drei davon – Sound, Visualisierung und Medien – betreffen direkt die Musik. Die drei weiteren Themen sind Freiräume, Sex und Drogen im gesellschaftspolitischen, soziokulturellen Kontext. Jedes dieser Themen wird zu Beginn mit einem Metatext eingeführt. Darüber hinaus wird der musikalisch-künstlerische Aufbruch der Post-Punk-Ära anhand wichtiger Musikerpersönlichkeiten geschildert. Diese erzählen uns ihre Sicht der Dinge jeweils zu einem bestimmten Thema, entweder in Form eines Interviews, eines Gruppengesprächs oder eines selbst verfassten Beitrags. Ausgewählt haben wir dabei Personen, die heute noch musikalisch aktiv sind, oder die ihr heutiges Schaffen in einen direkten Zusammenhang mit der damaligen Zeit stellen. Dies gewährleistet eine Sicht der Dinge von „heute und danach“. Anders als bei „Hot Love“ gab es Spezialisten, einen harten Kern eines teils festen, teils zeitweise involvierten Redaktionsteams, das neben André Tschan und mir das Projekt über drei Jahre begleitete. Von den Hunderten von Musikern aus der Zeit, die uns außerdem halfen, gar nicht zu sprechen. Einen besonderen Dank muss hier natürlich dem Verlag Edition Patrick Frey ausgesprochen werden. Patrick war ja auch Teil der Achtziger-Geschichte, und ohne ihn gäbe es kein „Heute und Danach“-Buch, das steht fest.
Wie komplett ist das Buch deiner Meinung nach? Man könnte angesichts der Fülle an Bands und Aktiven ja meinen, die Schweiz sei seinerzeit ein „hotbed“ an Underground-Aktivität gewesen.
Als Ganzes ergibt das Buch mit seiner Sammlung von Metatexten, Biografien, Erzählungen und Bilddokumenten ein vielfältiges Abbild der gemeinsamen Erfahrungen, ergänzt um eine umfangreiche Diskografie mit 1.500 Tonträgern, darüber hinaus gibt es mehr als 2.000 Schwarz-Weiß- und Farbabbildungen und Fotos. Wir erheben hier aber nicht den Anspruch, die ultimative Auskunft über den Musik-Underground der Achtziger Jahre in der deutschen und französischen Schweiz zu vermitteln, geschweige denn fühlen wir uns zu irgendeiner Vollständigkeit verpflichtet. Es ist vielmehr ein Porträt dieser Szene, eine Sichtung der gemeinsamen Vergangenheit im Hinblick auf die individuelle Gegenwart.
Was ist übrig geblieben von jener Zeit? Welche Spuren haben die Aktivitäten hinterlassen, sowohl gesamtgesellschaftlich als auch musikalisch?
Eine große Anzahl der damaligen Protagonisten ist bis zum heutigen Tag in irgendeiner Form bei der Musik geblieben. Sei es, dass sie sich national oder international etablieren konnten und so ihren Lebensunterhalt verdienen, sei es, dass sie, ähnlich wie in den Achtziger Jahren, Musik mit einem Teilzeitjob kombinieren, der es ihnen erlaubt – zusammen mit gelegentlichen Unterstützungsgeldern für eine Konzerttour oder neue Tonträger – irgendwie über die Runden zu kommen. Andere wiederum proben weiterhin regelmäßig in ihrer Freizeit mit ihrer Band, gönnen sich anschließend ein gemeinsames Bierchen und treten hin und wieder in kleinem Rahmen, bei einem privaten Fest oder lokalen Festival auf. Eine weitere Entwicklung jüngeren Datums sind die zahlreichen Reunions von Bands aus den Achtzigern. Es besteht in diesem Zusammenhang bei kleinen, darauf spezialisierten Labels auch ein beständiges Interesse an Nachpressungen längst vergriffener hiesiger Tonträger, respektive an der Herausgabe bisher unveröffentlichten Songmaterials aus der Zeit. Alles in allem haben angehende Musiker heutzutage Zugriff auf ein erweitertes musikalisches Umfeld und eine passende Infrastruktur, die an Professionalität schlicht Welten entfernt ist von den Möglichkeiten damals. Dies hat auch damit zu tun, dass sich ehemalige Musiker in der Zwischenzeit als Produzenten, Studioinhaber, Tontechniker, Klub- oder Festival-Organisatoren, Booker oder allgemein in der Event-Gastronomie etabliert haben. Dazu gehören auch Instrumenten- und Musikläden, Agenturen, Schulen, Labels und Vertriebe sowie natürlich die Medien, nicht nur die gängigen Print-Publikationen oder Radio- und Fernsehformate, sondern auch neue digitale Plattformen. Verlage, Werbung und Grafik spielen ebenso wie die Bildende Kunst oder staatliche Kulturbetriebe gleichfalls eine Rolle. Wir sprechen hier von einem etablierten, professionellen Kultur- und Freizeitbetrieb, der in der gegenwärtigen Gesellschaft immer wichtiger wird. Man darf dementsprechend sicherlich das Fazit ziehen, dass die Zeit sich nachhaltig zu unseren Gunsten verändert hat. Vieles, das vor drei Jahrzehnten im Musik- oder Jugendkultur-Kontext undenkbar war oder als faktisch unmöglich galt, ist heute alltägliche Norm.
Gibt es Musiker oder Bands von damals, die heute noch aktiv sind, die man kennt?
Ich beschränke mich hier mal auf Musiker, die in der letzten Zeit oder immer mal wieder in Deutschland aufgetreten sind. Berlin, wo auch ich seit nun zehn Jahren wieder ansässig bin, spielt da eine zentrale Rolle. Diese Stadt steht auch bei den meisten hier erwähnten Personen im direkten Zusammenhang mit Erlebnissen aus den Achtzigern, zum Beispiel Thomas Wydler, der ehemalige Schlagzeuger von Rudolph Dietrich, HERTZ und DIE HAUT. Seit bald drei Jahrzehnten bei NICK CAVE AND THE BAD SEEDS, brachte er die Tage sein neuestes Album „On The Matt – And Off“ heraus. Bisweilen spielt er live mit Dieter Meier, Sänger bei der Berliner Band OUT OF CHAOS. Dieter und Boris Blank von YELLO feiern regelmäßig ihre neuen Albumveröffentlichungen in Berlin, so auch ihr letztes, „Touch Yello“, im Kino International. Gary Sinnlos und Hackelberi Spätheimkehrer, beide von ABGAS, Christoph Fringeli, ex-FLOWERS OF EVIL/FLUID MASK, und Knut Remond, damals bei TV TOTEM und UNKNOWNMIX, leben ebenso hier und sind alle musikalisch aktiv. Magda Vogel, die ehemalige Sängerin von UNKNOWNMIX war gerade länger für musikalische Engagements in der Stadt. Seit über 20 Jahren regelmäßig auf Tour in Deutschland ist Guz, ex-FREDS FREUNDE, mit seinen AERONAUTEN, derzeit mit dem neunen Doppelalbum „Too Big To Fail“. Dann sind da natürlich Beat-Man und Janosh von den MONSTERS. Der Chef von Voodoo Rhythm Records kommt auch des Öfteren unter dem Namen Reverend Beat-Man solo zu euch in die gute Stube. Auf seinem Label veröffentlich er zum Beispiel die Alben von den DEAD BROTHERS, der aktuellen Band von Alain Croubalian, früher MANIACS und LAZY COWGIRLS. 2004 lieferten sie den Soundtrack zu der Tattoo-Doku „Flammend Herz“ bei. Dieser Film ist ebenfalls eine Berliner Produktion. Nicht zu vergessen das aktuelle Album von den ZORROS, außer Beat-Man ist dort auch Guz mit von der Partie. Weiter geht es im Heavy-Gefilde: Die Auferstehung und der Fall von CELTIC FROST in den letzen Jahren ist allen Metal-Fans bekannt, CORONER waren 2012 beim Wacken Open Air zu sehen und Franz Treichler, ex-JOF AND THE RAM, und Bernard Trontin, ex-COPULATION sowie NEEDLES, sind immer noch mit YOUNG GODS unterwegs. Für meine Buchvernissagen Ende dieses Jahres wird auch Gründungsmitglied Cesare Pizzi abermals mit dabei sein. Muda Mathis und Fränzi Madörin von den REINES PROCHAINES haben seit über 20 Jahren eine „Die-hard“-Fangemeinde in Berlin. Dort werden kommenden Januar die GOOBY JOHNNYS von Michael Herzig, ex-MOD ON, gastieren. Sie spielen 77er Punk vom Feinsten und sie suchen noch Gigs. Gössi von-TAKE A VIRGIN und Mongi von CRAZY spielen jedes Jahr mit den MÖPED LADS auf Punk-Festivals in Deutschland. Und nicht zu vergessen Stephan Eicher, ex-GRAUZONE, und Christoph Müller, ex-TOUCH EL ARAB, heute GOTAN PROJECT, sind beide auch große Stars in Frankreich. Stephan hat gerade sein brandneues Album „L’Envolée“ veröffentlicht, und wer weiß, vielleicht wird er 2013 damit nach Deutschland kommen.
Wo sollte jemand, um einen Überblick zu bekommen, bei der Erkundung der Schweizer Szene jener Jahre beginnen?
Na ja, in Sachen Büchern gibt es nicht viel mehr als die zwei hier erwähnten. Geht es um die Musik, sollte man sich an den zahllosen Wiederveröffentlichungen aus den letzten zehn Jahren halten. Meiner Meinung nach werden die interessantesten Sachen auch in kleinen Auflagen neu veröffentlicht. Das meiste ist natürlich fast schon wieder ausverkauft, doch sind diese über diverse Kanäle noch bezahlbar zu kriegen und das Internet macht ja auch vieles möglich heute. Und Swisspunk, unser Vertrieb, führt konstant 200 Titel zu bezahlbaren Preisen. Das sind allesamt Tonträger, die uns von den Musikern oder Labels aus der Zeit angeboten wurden.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #105 Dezember 2012/Januar 2013 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #106 Februar/März 2013 und Joachim Hiller