GRAUZONE

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Das Lied vom kalten Polar

GRAUZONE aus Bern in der Schweiz gehören zu den Pionieren des Minimal Wave im deutschsprachigen Teil Europas. Aufgrund der Zweitveröffentlichung des „Eisbär“-Songs im Juni 1981 auf dem deutschen Label Weltrekord, besteht bis heute die Meinung, dass GRAUZONE Teil der Neuen Deutschen Welle (NDW) gewesen seien. Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist Amanda Palmer, die Sängerin der DRESDEN DOLLS, welche dem Publikum auf ihren Konzerten in Deutschland ihre Coverversion des Songs so ankündigt: „Now we play a traditional German song for you.“

Es gibt viele Gründe, warum GRAUZONE eine Band sind, über die man kaum gesicherte Informationen findet. Zum einen spielten sie ihren größten Hit „Eisbär“, der 1980 auf dem „Swiss Wave The Album“-LP-Sampler erschien war, lediglich zwei- oder dreimal live und da auch nur für ein kleines Publikum. Überhaupt gab die Band in der ganzen Zeit ihres Bestehens nur um die zehn, zwölf Konzerte, und von diesen wenigen Auftritten war keiner außerhalb der Schweiz. Zusätzlich gab es kaum Fotos von ihnen, keinen lebensgroßen Bravo-Starschnitt oder sonstige Poster in Musikheften. Auch gab es nur wenige Artikel, die meist auf den spärlichen Informationen des Plattenlabels beruhten, basierend auf dem, was die Band über sich preisgegeben hatte. Abgesehen von vereinzelten in Kleinauflagen erschienenen Fanzines, gaben sie keinerlei Interviews. Bis hin zu ihrer Auflösung im Frühling 1982 und trotz Einladung traten GRAUZONE bewusst nie im Fernsehen auf. Es war eine vollständige Verweigerung etablierter Musikbusiness-Regeln, die Tonträger, Konzerte, Videos, TV-Auftritte und Merchandise verlangten, inklusive Promotionstermine mit uninspiriertem Beantworten banaler Fragen. Dies führte dazu, dass GRAUZONE für die meisten Leute ein Phantom blieb, da nur ihre Songs für sie sprechen konnten. Schließlich verstanden sie sich auch als Band mit Punk-Attitüde. Die ehemaligen Mitglieder wurden durch das GRAUZONE-„Experiment“ bis heute stark geprägt.

Zum vierzigjährigen Jubiläum wird dieses Jahr das komplette Oeuvre von GRAUZONE auf etlichen analogen Tonträgern und digitalen Medien nach und nach neu aufgelegt. Den Anfang machten schon mal die drei Songs „Eisbär“, „Ich lieb sie“ und „Film 2“, die bei Spotify zu streamen waren, und am 12. April wird abermals die „Eisbär“-12“ originalgetreu auf Vinyl erscheinen. All das nahmen wir zum Anlass für einen langen Artikel über GRAUZONE nebst Interview mit Stephan Eicher.

ANFANG

Im Herbst 1979 zog es Marco Repetto, Schlagzeuger der Berner Punkband GLUEAMS, wieder mal nach London. Dort sah er Punks, die zu den elektronischen Klängen von FAD GADGET und seinem Song „Back to nature“ tanzten. Folglich lösten sich GLUEAMS Ende 1979 auf. Marco und Bassist Christian „GT“ Trüssel beschlossen, weiterhin Musik zu machen. Sie holten Martin „Tinu“ Eicher zurück, der kurze Zeit davor bei GLUEAMS Gitarre gespielt und auch einen starken Eindruck auf ihrer zweiten Single-Veröffentlichung „Mental“ hinterlassen hatte. Das Trio einigte sich darauf, vermehrt Emotionen zu verarbeiten und diese unmittelbar in ihre Musik einfließen zu lassen. Dies bedeutete, dass sie ihre Lieder selten genau gleich spielen wollten und auch die Instrumente untereinander tauschten. Musik, visuelle Gestaltung, Film, Performance und ein eigener Stil bildeten eine Einheit. Ihre Songs sollten einfach sein, so dass man förmlich in sie hineinsehen konnte. Jeder sollte in den Stücken eigene Bezüge feststellen und jeder für sich individuell etwas anderes erkennen können.

Da sie zuerst keinen Namen hatten, nannten sie sich schlicht XXX. In einem Keller am Bollwerk im Berner Zentrum arbeiteten die drei an ihrem Repertoire und sammelten Ideen. Weil das Thema Film unter ihnen allgegenwärtig war, wollten sie sich „Das Kino“ oder kurz „Ciné“ nennen. Dann brachte GT mit GRAUZONE den zündenden Funken, dem Titel des gleichnamigen Films von Fredi M. Murer aus dem Jahre 1979.

Ihr Equipment erweiterte sich und sie mieteten Synthesizer und Drum-Maschinen. Weil niemand diese richtig bedienen konnte, arbeiteten sie meist mit repetitiven Tonschlaufen. Dennoch experimentierten sie weiter und manchmal blieben spannende Geräuschkulissen. Dieses Hängenbleiben der Synthesizer und die Möglichkeit, einzelne Töne im Sample-Hold-Mode unendlich lang und abwechslungsreich zu halten, waren eine wichtige Inspiration für die zukünftige GRAUZONE-Klangwelt. Ihre Musik ließ sich zum Teil vergleichen mit Bands wie THE CURE, JOY DIVISION, THE FEELIES, KRAFTWERK und anderen, die dann später der NDW zugeordnet wurden, aber bereits existierten. Für Marco bedeutete GRAUZONE auch die Rückkehr zum Kitsch des italienischen Schlagers. Zum blumigen, schillernden Sound, den er als Teenager aus der Jukebox in den Berner Gastarbeiter-Baracken gehört hatte, welche seine Eltern verwalteten. Martin war mit THE BEATLES großgeworden. Doch der GRAUZONE-Sound hatte nichts gemein mit diesen vorhersehbaren Einflüssen der beiden. Klare Basslinien, monotone Beats, gläserne Gitarren und Martins wehmütige Stimme prägten ihre ersten Songs mit den kurzen Titeln „Raum“, „Animals“ oder „Moskau“. Folglich konnten sie gleichzeitig destruktiv und feinfühlig klingen, gemäß der „neukühlen“ Stimmung, wie die anbrechenden Achtziger Jahre von dem Künstler Max Kleiner beschrieben wurden. GRAUZONE klangen aber auch darum so erfrischend neu, weil sie stets als Kollektiv aktiv und kreativ waren.

LIVE

Als XXX spielten sie das erste Konzert am 8. März 1980 im Club Spex in Bern. Es war ein kurzes Programm, bestehend aus den Songs „Animals“, „Blaulicht“ (sie probten nicht selten zu Blaulicht) und „Waiting for the light“.

Ihren zweiten Gig, einen Monat später beim St. Gallen Punk Festival, organisierte der Autor dieses Textes selber. Er ist bis heute mit Marco befreundet und fragte damals bei ihm telefonisch an, ob die GLUEAMS beim Festival spielen könnten. Als Marco erwiderte, dass sie sich jetzt GRAUZONE nennen würden, war es für ihn auch okay – er ahnte ja nicht, auf was er sich da eingelassen hatte. Zuerst wechselten die Bandmitglieder die Neonröhren aus und installierten stattdessen blaues Licht, so dass sie kaum mehr zu sehen waren. Ebenso stand da im ungeheizten Klub Zabi, wo das Konzert stattfand, tatsächlich auch ein Synthesizer auf der Bühne. In letzter Sekunde erschien Tinu schließlich und was das Publikum nun zu hören bekam, hatte wirklich nicht mehr viel mit dem damals aktuellen Punkrock zu tun. Sie eröffneten mit „Plastikherz“, Tinu und GT drehten sich um 180 Grad und standen nun mit dem Rücken zum Publikum. Die Pogo-Punk Fraktion verließ umgehend den Saal und forderte energisch eine Erklärung von mir für das, was drinnen dargeboten wurde. Dann gegen Ende ein zischender Synthesizer ... endlos lange ... plötzlich Schreie: „Moskau ... Moskau ...“ Licht an ... und Schluss.

Ähnliche Reaktionen erhielten GRAUZONE am 12. April im Gaskessel in Bern, einem Mitternachtskonzert. Der Synthesizer lief bereits einige Minuten im Sample-Hold-Mode, bis Martin endlich erschien und Marco mit dem Schlagzeug Intro einsetzte. Stephan Eicher (Martins Bruder) am Synthesizer und Claudine Chirac am Saxophon waren neu in der Band und die Songs „Moskau“ und „Grauzone“ wurden erstmals live gespielt. Marco ließ das Konzert auf Band aufnehmen, ein Demo wurde angefertigt, was sich kurz darauf als sehr wichtig und richtig herausstellen sollte.

Mit der Einbeziehung von Stephan kamen sie dem angestrebten Ziel einer Art „Band“ näher. Er spielte ja auch an der F+F Schule für Kunst und Design in Zürich schon bei NOISE BOYS. Jedes Wochenende und ganz in Schwarz gekleidet holten die drei anderen Bandmitglieder Stephan am Bahnhof in Bern ab; dabei schwärmte er von der „schönsten Band weit und breit“. Stephan erweiterte ihre Auftritte mit Performance-Elementen und der Projektion von Super-8-Filmen. Die Eicher-Brüder folgten auch dem Vorbild von VELVET UNDERGROUND und wechselten spontan ihre Instrumente während eines Live-Sets.

Am 31. Januar 1981 gaben GRAUZONE im Porno-Kino Walche in Zürich ihr letztes Konzert. Im Vorprogramm war eine Lese-Performance von Hermann Bohmerk aka Obalski. Unter dem Namen BATAKS wurde er musikalisch von GRAUZONE-Mitgliedern und befreundeten Musikern aus der F+F Schule begleitet. Danach betrat Stephan Eicher zuerst alleine, dann mit den NOISE BOYS respektive Girls die Bühne. Er spielte einige Songs von seiner „Noise Boys EP“, verfremdete sie aber so, dass sie meist nur noch an der Grundmelodie zu erkennen waren. Als Höhepunkt kamen dann GRAUZONE. An diesem Abend versuchten sie, wie eine „richtige“ Popband zu klingen, und aus mehreren Gründen scheiterten sie kläglich. Hauptsächlich weil die Stimmung innerhalb der Band und gegenüber dem Publikum so schlecht war, dass danach keine weiteren Auftritte mehr folgten.

Allerdings war für den 22. Februar immer noch ein Konzert in der Mausefalle in Stuttgart geplant. Der Auftritt der Band fiel aus. Aber Stephan Eicher war dort mit der auch gebuchten Schweizer Band MOTHER’S RUIN und spielte GRAUZONE-Songs in einem Solo-Set. Stephan wäre gerne weiter mit GRAUZONE aufgetreten, doch es ging einfach nicht mehr.

STUDIO

Martin Byland, der verstorbene Produzent des Schweizer Plattenlabels Off Course, spezifizierte es so: „Die ersten GRAUZONE-Demos hörten sich an, als würde man einen Staubsauger laufen lassen.“ Urs Steiger hatte damals bei Marco angefragt, ob er ein Demo von ihm kriegen könnte, um rauszufinden, wie sein neues Musikprojekt klingt. Ein Mitschnitt des Live-Gigs im Gaskessel wurde ihm in Form einer Demo-Kassette zugeschickt und er war begeistert. Weil Urs zu dem Zeitpunkt den Sampler „Swiss Wave The Album“ auf Off Course plante, wollte er sie sofort für die Platte haben. Marco musste sogar ein Paar von den weißen Schuhen – ein GRAUZONE-Markenzeichen – für ihn organisieren, denn die Band ging auch mit Leidenschaft einem kultigen Dresscode nach.

Die ersten GRAUZONE-Studiotracks entstanden im Sommer 1980, bei Etienne Conod in den Sunrise Studios in Kirchberg, St. Gallen. GRAUZONE waren auch die Band, welche das Zeitbudget für die „Swiss Wave“-LP-Aufnahmen massiv überzog. Hauptsächlich, weil der Song „Eisbär“ mit seinem einfachen, aber eindringlichen Text, der auf einem Alptraum von Martin basierte, anfangs bloß wie eine Kopie von „A forest“ von THE CURE klang. Es war entsprechend die Wut auf ihr vermeintliches Unvermögen, die schlussendlich den Antrieb gab für die schrilleren Gitarren, Stephans seltsame „Biip-Biip-Biip“-Einwürfe und seine Synthesizer-Störgeräusche, GTs dominante Bassmelodie und den ersten Drum-Loop der Schweizer Musikgeschichte. Letzterer aus der Not geboren, weil Marco als Schlagzeuger über Punkrock hinaus nicht versiert genug war, um präzise Takte zu spielen. Die Bandschlaufe mit dem tanzbaren Rhythmus, welche für „Eisbär“ dann zusammengefügt wurde, erwies sich als revolutionäre Meisterleistung. Um an „Eisbär“ anzuschließen, nahmen GRAUZONE noch „Raum“ als ihren zweiten Song für den Sampler auf. Schlussendlich erschien „Swiss Wave The Album“ am 26. September 1980 in einer Auflage von 1.000 Exemplaren und fand vorerst nur wenig bis gar keine Beachtung.

Claudine wechselte nun zu STARTER, der gleichen von Francis Foss gegründeten Band, wo auch Stephan kurz Synthesizer und Gitarre spielte und parallel zu seiner ersten Platte, der EP „Stephan Eicher spielt Noise Boys“, welche Ende 1980 auf Off Course erschien. Ende November und Dezember gingen GRAUZONE für ein paar Tage zurück ins Sunrise Studio. Zu viert nahmen sie „Ein Tanz mit dem Tod“ und „Ich lieb sie“ auf. Zusammen mit dem Titelsong „Moskau“ wurden diese zwei Tracks Ende Januar 1981 von Off Course als Single veröffentlicht. Stephan war zudem für das visuelle Erscheinungsbild der GRAUZONE-Plattenumschlägen verantwortlich, genauso wie damals für die seiner eigenen Tonträger.

EISBÄR

Dann passierte etwas Wundersames. Martin Byland saß in seiner winzigen 16-Quadratmeter-Bude, als das Telefon klingelte. Es war Wolfgang Dorsch aus München, der für ein Dancefloor-Label arbeitete und „Eisbär“ auf EMI herausbringen wollte. Ein Sakrileg! Ein Independent-Plattenlabel sollte einen Titel an die verachtete Industrie verkaufen? Off Course hatte aber viel Geld in die Platten gesteckt und ein Kleinkredit war immer noch offen. Dorsch kam für eine Besprechung nach Zürich und kurz darauf flogen Urs Steiger (für Off Course) und Stephan Eicher (für GRAUZONE) in der Business Class nach Köln. Stephan war jedoch bei der Unterzeichnung des zwanzigseitigen Lizenzvertrags nicht anwesend, weil er wegen einer Panikattacke auf die Toilette geflüchtet war. Der Vertrag wurde gleichwohl unterschrieben.

Mit einem Knall hatten GRAUZONE einen regelrechten Smash-Hit! Denn als „Eisbär“ rauskam, spielten ihn DJs sofort. Als B-Seite wurde der Song „Ich lieb sie“ für die Single gewählt und auf der 12“-Maxi-Version ist noch zusätzlich „Film 2“; der später auch als Eröffnungssong auf ihrem Album verwendet wurde. Offiziell wurden 450.000 Exemplare verkauft und „Eisbär“ schaffte es in Deutschland und Österreich in die Hitparaden. Es kamen weitere Lizenzen dazu, von Japan bis Brasilien, sowie die damals üblichen Schwarzpressungen. Byland schätzte das Total der weltweit verkauften „Eisbären“ schlussendlich auf rund eine Million Kopien.

ALBUM

Während „Eisbär“ durchstartete, ergaben sich Spannungen innerhalb der Band, mit einer Spaltung in zwei Lager: Marco und GT auf der einen, die Eicher-Brüder auf der anderen Seite. Musikalische, künstlerische sowie persönliche Differenzen wurden deutlich sichtbar und öffneten Gräben zwischen ihnen. Trotzdem gingen GRAUZONE im Sommer 1981 nochmals ins Sunrise Studio, um diesmal ein ganzes Album einzuspielen. Bei der ersten Session, vom 6. bis 12. Juli, war GT noch dabei, aber für die Aufnahmen vom 1. bis 6. August blieben nur noch Martin, Stephan und Marco übrig. Insgesamt wurden elf Songs eingespielt. Trotz Erwähnung auf dem Umschlag und den Etiketten wurde der Song „Tanzbär“, eine Art Kurzversion von „Eisbär“, bei der Erstpressung der LP weggelassen. Auf der ursprünglichen Testpressung – mit 45 rpm gemastert, im Gegensatz zu der später veröffentlichen 33 rpm-Version – war der Song immer noch enthalten. Somit muss in letzter Sekunde und ungeachtet der bereits angefertigten Drucksachen gegen den „Tanzbär“ entschieden worden sein; der Song war eigentlich als eine Verarschung von EMI gedacht. Nichtsdestotrotz präsentierte François „FM“ Mürner am 30. Oktober 1981 das Album in der Schweizer Radiosendung „Sounds“ im DRS. Martin und Stephan waren live zu Gast und dabei wurde „Tanzbär“ das eine Mal gespielt. Ohne das Wissen des Moderators und mit Hilfe eines Störgeräts versuchten die beiden während der Übertragung dann, den Song mit Geräuschen zu entstellen.

FILM 2

Hervorzuheben ist aber noch der Eröffnungssong für das Album, das im Oktober 1981 erschien. „Film 2“ ist der perfekte GRAUZONE-Song. Die Eicher-Brüder erstellten dazu Anfang 1982 ihren einzigen Videoclip. Dieser Clip wurde zweimal, am 3. März und 10. April, im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt und ist heute auf YouTube konserviert. Darin vereinen sich alle Elemente, für die GRAUZONE stehen: Musik, Film, Performance, visuelle Gestaltung, Raum, Kälte und eine große Sensibilität. Der Song hat keine klassische Strophe, keinen Gesang und auch keinen Refrain (ursprünglich existierten lediglich einzelne Songzeilen). Die kurze Anfangssequenz könnte aus einem John Carpenter-Film-Soundtrack stammen, dann ein Hauch von Dub, Takt für Takt baut sich der Song langsam auf, das Synthesizer-Arpeggio klingt leicht bedrohlich, der Beat hält an, die Rhythmik ist verdammt eng. Diese explizite Rhythmik war ihrer Zeit deutlich voraus und nahm einiges vorweg, was später an treibender Elektronik in diversen Genres folgen sollte. Ohne es zu ahnen, leistete die Band hier sicher Pionierarbeit.

EICHER

Obwohl auch das Verhältnis untereinander nicht einfach war, führten die Brüder Martin und Stephan Eicher das GRAUZONE-Projekt gemeinsam weiter. Im September 1981 veröffentlichte Stephan wiederum eine selbstgemachte Musikkassette, diesmal zehn Tracks unter dem Pseudonym ZORRO SCHLUBOWITZ. Auf dieser waren eine Neuinterpretation von „Hinter den Bergen“ und auch die Urfassung von „Ich und du“ zu hören. Im November 1981 und nochmals im März 1982 gingen die Eicher-Brüder für die letzten GRAUZONE-Aufnahmen ins Sunrise Studio. Zusammen mit Martins damaliger Freundin Ingrid Berney am Bass und Schlagzeug wurden „Träume mit mir“ und die komplett überarbeiteten Versionen von „Ich und du“ und „Wütendes Glas“ eingespielt. Die Songs erschienen dann als Single am 17. Mai, in der Schweiz auf Off Course und in Deutschland bei Weltrekord, mit Standbildern vom „Film 2“-Video auf der Vorder- und Rückseite des Covers. Mit minimalen technischen Mitteln hatten Martin und Stephan Anfang 1982 die Arbeiten für dieses Videoprojekt begonnen. Eine angeheuerte Ballerina tanzte zu dem Song in einem sich scheinbar bewegenden und stets verändernden kleinen Raum. Aber am Schluss des Clips lassen Stephan Eicher, Urs Steiger, Bruno Gabsa und Helena Wagniers ihn dann in sich zusammenfallen und offenbaren dadurch, dass sie diesen Raum mit Stangen und elastischen Bändern nur vorgetäuscht hatten.

ENDE

Stephan Eicher reflektierte auch über GRAUZONE und die persönlichen Konsequenzen für ihn im Buch „Heute und danach – The Swiss Underground Music Scene of the 80’s“, welches 2012 in der Edition Patrick Frey erschien:

„Ich wollte eigentlich ein zeitgenössischer Künstler sein. Dies beinhaltete Performance, Fotografie, Videokunst und auch Musik, die aber nicht ein zentraler Bestandteil sein sollte. Dann kam der Erfolg mit GRAUZONE und dem „Eisbär“. Jemanden wie mich, der im Alter von vierzehn Jahren sein Zuhause verlassen hat, dann sieben Jahre ruderte und plötzlich viel Geld verdiente, brachte es schon zum Nachdenken. Ich sagte mir, vielleicht könnte ich von der Musik leben. Ich habe somit ‚echte‘ Synthesizer gekauft, einen 4-Spur-Recorder und habe aufgehört, Kunst zu machen. Ich bin sehr gerne auf der Bühne, es ist so surreal ... Ich fragte mich selbst: Was machst du da eigentlich? Aber das Adrenalin war so intensiv, ich fühlte mich so lebendig, auch wenn dich mit den Jahren die Szene, zu der ich mich hingezogen fühlte, runterzog. Diese Dringlichkeit mit einer verbundenen Jugend, es war wie ein Geschenk, welches du aus dem Fenster wirfst und du hast auch allen Grund es zu tun, nachdem der Glanz ein wenig verlorengeht. Aber du gewinnst das Bewusstsein, es für dich zu nutzen und dies ist ein interessantes Ziel ...“

DANACH

Nach der Produktion und Veröffentlichung des GRAUZONE-Albums formierten sich GT und Marco neu. Zusammen mit dem früheren GLUEAMS-Gitarristen Martin Pavlinec nannten sie sich MISSING LINK. Kurz darauf kam Schlagzeuger Dominique Uldry dazu und sie wurden zu EIGERNORDWAND. Als Sänger und Schlagzeuger war Marco aber nur ganz am Anfang und bloß für eine kurze Zeit Teil dieser Formation. Parallel zu EIGERNORDWAND spielte GT auch noch bei RED CATHOLIC ORTHODOX JEWISH CHORUS aka WANDERWEGE INS PURGATORIUM, THE DEAD BODY MOVES und BLACK SS ORDER COWBOYS. Die Band war eine am Futurismus angelehnte Aktionsgruppe um den Performance-Künstler Edy Marconi. Über die Jahre und mit den verschiedenen Namen veröffentlichten sie drei Singles und eine MC. Auf der 1984 erschienenen Platte von THE DEAD BODY MOVES spielte Marco sogar noch als Gastmusiker. Aber nach RED CATHOLIC ORTHODOX JEWISH CHORUS verloren er und GT sich aus den Augen. Marco Repetto ist bis heute in der elektronischen Musikszene aktiv als Musiker, Produzent und DJ sowie Gründer, Inhaber und Manager des Labels Inzec Records.

Ein kleines, aber interessantes Detail bezüglich der ersten Single-Veröffentlichung von RED CATHOLIC ORTHODOX JEWISH CHORUS ist das Foto aus dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergei Eisenstein, welches für den Umschlag verwendet wurde. Stephan hatte 1981 die erste GRAUZONE Single „Moskau“ auch mit zwei Standbildern aus dem Stummfilm gestaltet. Und Anfang der Neunziger Jahre machten er und MOONDOG in einem Biopic eine Art Soundtrack, während im Hintergrund Ausschnitte aus „Panzerkreuzer Potemkin“ gezeigt wurden.

Nach dem Ende von GRAUZONE als Live-Band wurde Stephan von DIE MATROSEN eingeladen, ab und an mit ihnen zu spielen. Das Repertoire beinhaltete Coverersionen von Rock’n’Roll-Songs und italienischen Klassikern, zudem „Fever“, als Kombination vom Little Willie John-Song und „Tschik-Mo“ von LILIPUT, „You’ve lost that loving feeling“ von THE RIGHTEOUS BROTHERS, Stücke von VELVET UNDERGROUND und dann auch Stephans eigenes Material bis hin zum „Eisbär“.

Bereits im Juni 1981 und Februar 1982, während GRAUZONE noch im Studio aktiv waren, hatten Stephan und Max Frei von den NOISE BOYS eine Musikkassette aufgenommen. Als DAS TRAUMPAAR produzierten sie einige sehr minimalistische Tracks, darunter eine lohnenswerte Version von „Der Weg zu zweit“. Das Booklet zur Kassette erwähnte auch den Titel „Les filles de limmatquai“.

Im Juli 1982 tingelte Stephan (Stimme, Gitarre) mit befreundeten Musikern, teilweise von DIE MATROSEN, Max Frei (Synthesizer), Markus May (Bass) und Beat Schlatter (Schlagzeug) als DIE REISENDEN umher. Von Zürich über Wolfenschiessen, Basel, St. Gallen, Luzern, Lugano und der Westschweiz – auch dem Squat an der Rue Argand in Genf – nach Mailand und Lyon. Ausgerüstet mit einem Auto, einem kleinen Generator zur Stromerzeugung, verschiedenen Taschen-Synthesizern und einem kleinen portablen Rumpf-Schlagzeug, spielten sie in einem Gartenlokal, einem Squat, in Bars und Fußgängerzonen. Sie wollten eigentlich bis nach Paris reisen. Aber in Lyon übernachteten sie in einem Zelt auf einem Campingplatz und hatten LSD dabei, das sie alle einwarfen. Danach ging nichts mehr. Stephan und Max gingen nach Genf, Markus und Beat zurück nach Zürich. Damals als spontane „Road Show“ geplant, wurde es in manchen Biografien fälschlicherweise als eine GRAUZONE-Tournee beschrieben, was es natürlich nie war.

Stephan ging dann im September zu Etienne Conods Sunrise Studio, um „Les filles de limmatquai“ für seine erste Soloplatte aufzunehmen, zusammen mit „Komm zurück“, „Ce soir (Je bois)“ und „Paris“. Nach der Studiosession und mit einer Kassette mit den Songs in der Tasche machte sich Stephan umgehend auf den Weg nach Köln. Dort stieß er zur Band LILIPUT, die auf ihrer „Liliput und ihre Freunde“-Tour durch Deutschland waren. Stephan war zu diesem Zeitpunkt mit Klaudia Schifferle liiert, der Bassistin von LILIPUT. Beim Konzert in Hannover spielte er dann seine Version von „Eisbär“. Das Publikum staunte nicht schlecht über die plötzliche und unangekündigte Live-Präsentation dieses berühmten GRAUZONE-Songs, der vorrangig nur von der Hitparade her bekannt war.

Ende von 1982 veröffentlichte Off Course dann die EP „Souvenir“, welche alle vier Aufnahmen vom September enthielt, und die 45er-Single „Komm zurück“, mit „Les filles de limmatquai“ auf der B-Seite. Stephans weitere Schritte in seiner bis heute andauernden Solokarriere kann man auf seiner offiziellen Website nachlesen, wo man zudem seine aktuellen Projekte verfolgen kann.

Martin Eicher trat nach GRAUZONE nur noch einmal musikalisch in Erscheinung. Er veröffentlichte die Solo-Platte „Spellbound Lovers“, welche 1988 auf dem kleinen Innerschweizer Label Fun Key erschien. Wie von ihm nicht anders zu erwarten, beinhaltet diese Maxi vier klassische Synthpop-Liebeslieder, die er auf Englisch singt, mit kräftigem schweizerdeutschem Akzent. Leider verschwand das Werk ebenso unbemerkt, wie es damals aufgetaucht ist.

Claudine Chirac verließ STARTER kurz nach der 1981 veröffentlichten ersten 45er-Single „Minijupe“ und der selbstbetitelten Debüt-LP. Zwischen 1983 und 1984 und unter ihrem eigenen Namen veröffentlichte sie noch zwei Synthpop-Singles, die EP „Nautilus“ und die 45er „Alle meine Entelein“. Sie lebt seit längerem in Italien.

 


Diskografie

V.A. „Swiss Wave The Album“ (LP, Zandra, 1980) • „Moskau“ (7“, Off Course, 1981) • „Eisbär“ (7“, Off Course, 1981) • „s/t“ (LP, Off Course, 1981) • „Träume mit mir“ (7“, Off Course, 1982) „Moskau (RE)“ (7“, Astan, 1983) • „s/t (RE)“ (CD, 3-Klang, Line, 1991) • „Die Sunrise Tapes“ (CD, PIAS/Off Course, 1998) • „Grauzone 1980-1982 Remastered“ (2CD, Total Age, 2010)

 


Weiterführende Links

• GRAUZONE-Profil mit seltenen Fotos u.a.:

fb.com/grauzoneband

• Seite von Sam Mumenthaler, mit Bildern und Artikeln aus dem Berner Spex:

sams-collection.ch/index.php/

on-the-scene.html

• GRAUZONE-Diskografie, Testpressungen,

Artikel und so weiter:

altantiswest.de/eicher/grauzone/

grauzone_discographie.html

Mit Unterstützung durch Marco Repetto, Stephan Eicher, Martin Byland, Urs Steiger, Sam Mumenthaler, Kalle Stille und André P. Tschan