Von nicht wenigen wird der 1965 in Frankfurt am Main geborene Ghazi „Razi“ Barakat als „Berliner Musiklegende“ bezeichnet, und obwohl ich derartigen Lobpreisungen generell skeptisch gegenüber stehe und auch mit seiner bis dato wohl bekanntesten Inkarnation, dem One-Man-Electroclash-meets-Rockabilly-Projekt BOY FROM BRAZIL, nie so recht warm zu werden vermochte, so handelt es sich bei diesem Typen doch um eine sehr charismatische und spannende Person, mit einer wirklich Respekt gebietenden Vita. Und nicht zuletzt seine hervorragende neue Band THE ASSASSINATIONS, die sich mit lustvollem Eklektizismus der besten Zutaten aus Psychedelia, Sixties-Garage, Seventies-Hardrock und Punk bedient, war mir Anlass genug, den guten Herrn Anfang Oktober zu besuchen und mir während eines eineinhalbstündigen Gesprächs einen faszinierenden Überblick über seinen bisherigen Lebenslauf zu verschaffen.
In ziemlich großsprecherischer Manier steht im Promo-Schreiben zur ersten ASSASSINATIONS-Platte über dich zu lesen: „Als Kind besuchte er kommunistische Sommercamps hinter dem eisernen Vorhang und Waffentrainingslager in Palästina. Lange bevor Barakat wusste, wie man ein Mikrofon hält, wusste er, wie man eine Waffe abfeuert.“ Da drängt sich mir natürlich unweigerlich die Frage auf: Fakt oder Fiktion? Wie kann man sich das genau vorstellen?
Nun, meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Palästinenser und die haben sich halt damals in der Studentenbewegung in Frankfurt am Main kennen gelernt. Irgendwann zu dieser Zeit wurde mein Vater offizielles Mitglied bei der PLO und wir sind 1969 mit ihm nach Beirut gezogen, wo er anfing, in verschiedenen Büros zu arbeiten. 1971 wurde er dann ständiger Vertreter bei der UNO in Genf und ich ging mit Diplomatenkindern zur Schule, habe mich jedoch auch in Flüchtlingslagern im Libanon aufgehalten, da es meinem Vater wichtig war, dass ich wusste, warum unser Leben nicht so ganz mit dem von den Familien der reichen Kinder übereinstimmt. Das waren schon recht krasse Kontraste. Ich bin dann auch in der DDR gewesen, als Betreuer und Übersetzer für palästinensische Flüchtlingskinder, denen dort von Betrieben Feriencamps angeboten wurden, und Mitte der Siebziger nahm ich an einem Pionierlager in Odessa teil. Mit der Militärausbildung ging es los, als ich 15 war. Damals gab es den Deal, dass jeder palästinensische Jugendliche aus dem Ausland, der noch einen Bezug zum Befreiungskampf hatte, eine dreimonatige Guerilla-Ausbildung absolvieren sollte. Normalerweise hätte das gemeinsam mit vielen anderen Jugendlichen sein sollen, nur wurden an dem Tag, als ich dort ankam, unsere Hauptquartiere von der israelischen Luftwache zerstört. Es gab 300 Tote und eigentlich hätte ich in einem dieser Gebäude sein sollen, war aber zu dem Zeitpunkt zum Glück gerade am Meer, um Eis zu essen. Ich kann mich gut erinnern: Ich aß dieses Eis, in einem Radio lief Bob Marley und plötzlich sehe ich diese weißen Streifen am Himmel, von den F16-Raketen ... Als ich dann wieder bei den Unterkünften war, herrschte überall das pure Chaos und niemand wusste etwas mit mir anzufangen. Nichtsdestotrotz wurde ich dann zehn Tage später ins Trainingslager geschickt, nur dass ich dann halt der letzte übrig gebliebene Auszubildende war und sich fünf Ausbilder ausschließlich um mich kümmerten.
War es für dich jemals denkbar, in den bewaffneten Kampf zu ziehen, oder gab es ab einem gewissen Zeitpunkt dann so eine Art „Switch“-Effekt, von dem an das für dich gar nicht mehr in Frage kam?
Na ja, ich bekam das halt immer mit, wenn Kampfgenossen meines Vaters abgeknallt wurden oder deren Autos in die Luft flogen, und ich hatte auch als Kind immer eine Schusswaffe in meinem Zimmer. Die Lebensgefahr war also ständig präsent, so dass sich die Frage gar nicht stellte, ob ich da nun wirklich engagiert bin oder nicht. Und die Leute, die umgebracht wurden, waren mir auch sympathisch, das waren schon ganz klar meine Leute. Nur irgendwann geriet das mit meinem europäischen Selbst zunehmend in Widerspruch, ich war letztlich einfach zu verwöhnt, um für eine Sache sterben zu wollen, zu der ich immer weniger Bezug hatte. Außerdem hat mich auch die innere Korruption bei der PLO zunehmend abgestoßen. Also, dass man halt als Botschafter jeden Tag gut essen geht, tolle Leute trifft und letzten Endes von der Misere derjenigen profitiert, für die man eigentlich einsteht. Irgendwann habe ich dann versucht, meinen Vater zu überreden, auf eine Kunsthochschule oder dergleichen zu dürfen, wurde aber, um das nochmal irgendwie zu kitten, zunächst in die DDR geschickt, um dort Abitur zu machen. Dort fing ich schließlich an, in verschiedenen Punkbands zu spielen, wie zum Beispiel einem Ableger von ROSA EXTRA, aus denen später unter anderem DIE SKEPTIKER hervorgingen.
So um 1984 hattest du dann dein Abitur in der Tasche und es gelang dir endgültig, dich von deinem Elternhaus zu lösen.
Da war mein Vater mittlerweile als Diplomat in Wien und ich hab nochmal kurz bei ihm gewohnt und zwei Semester an der Uni durchgezogen, dann aber meine Ost-Berliner Freundin geheiratet und bin mit ihr gemeinsam nach West-Berlin gegangen, wo ich eine Band namens BURST APPENDIX hatte, so im BLACK FLAG- und BAD BRAINS-mäßigen Stil ...
Wie denkt dein Vater heute über den Werdegang, den du schließlich eingeschlagen hast?
Mittlerweile ist er wohl ziemlich zufrieden. Er kommt zu meinen Shows und hat mir sogar mal in Ramallah ein BOY FROM BRAZIL-Konzert organisiert.
Wie ging das vonstatten? Ich vermute mal kaum, dass du da wie sonst üblich in High Heels und Strapsen über die Bühne gestakst bist?
Nee, da hatte ich einfach nur einen schwarzen Anzug an und habe gemeinsam mit meiner Ex-Frau, Nicole Morrier von ELECTROCUTE, vier Stücke ausgesucht. Wir haben da vor alten PLO-Veteranen und deren Enkelkindern gespielt, das war schon sehr speziell.
Und zwischen BURST APPENDIX und BOY FROM BRAZIL gab es ja auch noch dein Garage-Noise-Projekt GOLDEN SHOWERS.
Ja, die GOLDEN SHOWERS existierten hier zunächst von 1993 bis ’97 und bis 2000 noch in den USA, wo ich mit verschiedenen Line-ups bei Reptilian Records veröffentlicht habe und mit Bands wie den DETROIT COBRAS, DEMOLITION DOLL RODS, Jon Spencer sowie den Überresten von OBLIVIANS und GORIES auf Tour war. Garagepunk war in den Neunzigern quasi das Äquivalent zu Hardcore in den Achtzigern, insofern dass man bei anderen Bands zu Hause pennen konnte und die dir auch mal ihre Gage geschenkt haben, damit du selbst weiter kommst, schon sehr cool das alles. Trotzdem hatte ich, als ich wieder zurück nach Deutschland kam, erstmal die Schnauze voll von Bands, da manche von den Leuten, mit denen ich in den Staaten zusammen gespielt hatte, definitiv zu viel Drogen genommen, mir Geld geklaut oder mein Auto zu Schrott gefahren haben. Also habe ich dann angefangen, im Studio mit Backtracks zu experimentieren, wobei mir vor allem der D.I.Y.-Aspekt an der ganzen Sache gut gefällt, und ich hatte ja in den frühen Neunzigern auch dieses DHR-Ding namens GIVE UP am Start, was schon in diese Richtung ging. Eines meiner ersten Konzerte als Boy from Brazil war dann 2004 auf dem Punk-Kongress in Kassel und als ich am Nachmittag zuvor Malcolm McLaren proklamieren hörte, dass Karaoke der neue Punkrock sei, dachte ich: Hey, hier bist du ja genau richtig.
Als Boy from Brazil bist du ja auch ziemlich hip geworden, insbesondere in dieser Electroclash-Szene, die ich aber, ehrlich gesagt, nie so richtig kapiert habe. Für Musik ohne Gitarren fehlt es mir wohl einfach an der notwendigen synaptischen Verkabelung.
Oh, da waren aber auch durchaus Gitarren am Start! Wobei ich jedoch bei all meinen Projekten schon immer mehr an dem Kunstaspekt interessiert war. Die GOLDEN SHOWERS waren ja schon eine Performance-Kunstband und selbst BURST APPENDIX tendierten bereits in diese Richtung. Bei all meinen Sachen lagen schon immer tiefer gehende Konzepte zugrunde.
Inwiefern unterscheiden sich diese Konzepte bei den verschiedenen Bands? Die ASSASSINATIONS beispielsweise verströmen ja eine sehr düstere Atmosphäre, wobei sich auch viel um Sex und Selbstzerstörung zu drehen scheint.Nun ja, das hat sicher viel mit meinem Aufwachsen zu tun. Zunächst waren ja die Siebziger Jahre sexuell extrem freizügig, also Wilhelm Reich oder William Burroughs waren definitiv interessant damals. Aber dann hat mich auch diese Ungerechtigkeit, die ich ständig erlebte, enorm frustriert und das konnte ich irgendwie nur mit Gewalt kompensieren. Wobei ich Gewalt gegen andere falsch und bevormundend finde, ich richte die lieber gegen mich selbst und versuche dann damit ein Statement zu setzen. Und ich genieße durchaus die verstörten Gesichtsausdrücke im Publikum, wenn ich mir während einer Show die Zigarette auf der Brust ausdrücke, wobei dann aber vieles unbewusst im Adrenalinrausch abläuft und ich das gar nicht wirklich spüre. Also wenn ich masochistisch veranlagt bin, dann eher auf der geistigen als auf der körperlichen Schiene. Ansonsten spiele ich gerne mit Dingen, wie zum Beispiel Stöckelschuhen und Netzstrumpfhosen. Das hat gar nicht so viel mit Homo- oder Heterosexualität zu tun, sondern ich will einfach nur die entsprechenden Phobien auflösen. Im Endeffekt bin ich mit Stöckelschuhen gefährlicher als irgendein Typ mit Schlagringen, und im richtigen Leben gefällt mir nichts besser, als wenn eine Transe einen Machotypen verprügelt. Ich meine, wer sagt denn, dass solche Leute nicht gewaltbereit sind? Außerdem kann ich mich erinnern, wie ich als 14-jähriger eine vollgewichste Taschenbuchausgabe von Marquis de Sade in die Finger bekam und da habe ich dann sehr schnell gemerkt: Okay, das ist Politik. Natürlich total obszön, aber vielleicht sind Politik und Krieg auch einfach obszön genug, um daraus Pornografie zu machen. Zwischen Sex, Gewalt und Politik besteht meines Erachtens nach ein tiefenpsychologischer Zusammenhang, wobei es mich aber nicht interessiert, diesen nach innen zu erforschen, sondern eher, Platten oder Konzerte zu machen, die mehr Fragen aufwerfen, als Erklärungen geben.
Stichwort Pornografie: In den Neunzigern hast du ja entsprechende Ausstellungen kuratiert, zum Beispiel „Sex And Subversion“ im Museum Of Death in San Diego oder auch im Museum Of Pornographic Arts in Lausanne.
In der Kunst gibt es einige wichtige Einflüsse auf mich, angefangen bei der Galerie Endart in Berlin über die Wiener Aktionisten, Blalla W. Hallmann bis hin zu Pierre Molinier, und mein diesbezügliches Interesse hat dann dazu geführt, dass ich angefangen habe, für ein Kunstmagazin zu schreiben, welches jedoch sehr kurzlebig war. Dadurch kam ich allerdings wiederum mit vielen anderen Künstlern in Kontakt, habe angefangen, bei Endart zu kuratieren und viel zwischen Berlin und Paris zu machen, weil es dort so einen kleinen Buchladen gab, der unter anderem als Knotenpunkt für Leute wie Robert Crumb diente. Irgendwann hatte ich dann eine Beziehung mit einer Malerin, Beth Love, für die ich schließlich als Agent gearbeitet habe, und wurde darüber mit irgendwelchen Pornokinobesitzern in der Schweiz bekannt, die gerade ein entsprechendes Museum gründeten und habe auch Kontakte nach Kalifornien geknüpft. Lowbrow war da sehr wichtig und Typen wie Robert Williams, Niagara oder Big Daddy Roth. Ich hatte denen einige Leute anzubieten, welche die wirklich begeistert haben, und schließlich kam mir die Idee, in dem Verlag Feral House, wo unter anderem auch „Apocalypse Culture“ erschien, ein Buch zum Thema „Verbotene Kunst“ herauszugeben. Da ich das allerdings von berühmteren Namen „rein“ halten wollte, war dem Verlag das wirtschaftlich zu riskant und die von mir vermittelten Sachen erschienen schließlich in „Apocalypse Culture II“, wobei fast alle mit schwarzen Balken zensiert wurden. Ich habe mich da viel mit sexuellen Fetischen auseinandergesetzt und auch einen Essay unter dem Titel „The Late Great Aesthetic Taboos“ beigesteuert, welcher auch auf der Homepage von meinem Kumpel Stu Mead zu finden ist.
Lass uns zum Ende hin nochmal über dein neuestes Baby THE ASSASSINATIONS reden. Wie kam es, dass du jetzt doch wieder Bock auf eine erdige Rockband hattest? Die „Future Blasts From The Past“-LP beinhaltet ja eine Menge Prä-Punk-Elemente, angefangen bei frühen ROLLING STONES, VELVET UNDERGROUND, STOOGES, SUICIDE ...Ja, und auch GUN CLUB und ein bisschen BUTTHOLE SURFERS ist dabei. Jedenfalls habe ich bereits als Boy from Brazil „Out of the past“ geschrieben, was auch auf der „Future Blasts ...“ mit drauf ist, quasi ein Versuch, die ’69er Live-Scheibe von VELVET UNDERGROUND in einem einzigen Song zu komprimieren. Dadurch bin ich mit dem Produzenten Tico Zamora zusammengekommen, der ein hervorragendes Studio mit haufenweise Vintage-Equipment betreibt. Und da ich zu der Zeit ohnehin gerade BLUE ÖYSTER CULT für mich wieder entdeckt hatte und mir auch die Live-Interaktion zunehmend fehlte, kam mir einfach wieder die Lust, das Bestehende zu zerstören.
Die meisten Songs auf „Future Blasts ...“ hast du auch gemeinsam mit Tico Zamora geschrieben.
Genau, der hat auch früher mal in der Band von Moe Tucker gespielt und war mit H.R. von den BAD BRAINS auf Tour, und ist dann halt irgendwann in Deutschland hängen geblieben. Außerdem hat mir noch ein Typ namens Taylor Savvy, so ein Kanadier aus der Peaches-Ecke, der viele abgefahrene Effektgeräte benutzt, bei einigen Songs geholfen und es sind auf jeden Fall viele Einflüsse mit dabei: Angefangen bei „Their Satanic Majesties Request“ von den Stones über Hendrix bis zu den BUTTHOLE SURFERS, aber auch Sachen, die man wahrscheinlich gar nicht raushört, wie zum Beispiel SUNN O))). Bei „A needs X“ zum Beispiel zieht sich durch das ganze Stück ein beständiges Brummen auf der Orgel, und wenn man einen Ton einfach nur stehen lässt und da andere Akkorde drauf spielt, dann macht es das Ganze noch mal zusätzlich interessant. Auf der einen Seite habe ich mich viel für Avantgarde, Musique concrète und Krautrock interessiert, aber andererseits halt dennoch sehr simple Rock’n’Roll-Riffs verwendet. Letzten Endes ist es aber deine Seele, die den Unterschied macht, und nicht die unterschiedlichen Tonlagen und Noten, die du hintereinander spielst, und so finde ich, dass ich doch eine sehr normale und hörbare Platte gemacht habe.
Bei „Devil killed a woman“ hast du ja sogar ein Blasensemble aus dem Himalaja gesamplet.
Ja, da bin ich durch so einen Dokumentarfilm namens „Frozen Brass“ drauf gekommen. Es gibt halt so Hochzeitsbands im Himalaja und dadurch, dass es da so kalt ist und die Luft so dünn, klingen die Bläser total schräg und verstimmt. Ich hatte übrigens früher bei GIVE UP schon Samples von diesem Ensemble verwendet.
Und was ist von den ASSASSINATIONS für die nähere Zukunft zu erwarten? Wo soll die Reise hingehen?
Na ja, unbedingt auf die Bühne und am besten möglichst weit weg von zu Hause, denn das macht natürlich am meisten Spaß. Und dann irgendwann die nächste Platte ...
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #87 Dezember 2009/Januar 2010 und Ben Bauböck