GERRY CINNAMON

Foto

Grösser als OASIS?

Er war für mich dieses Jahr die Entdeckung beim Eurosonic Festival in Groningen: Gerry Cinnamon aus Glasgow, ein schmaler Schotte mit breitem Grinsen, Akustikgitarre und Elvis-Hüftschwung. Seine letzte UK-Tour war binnen Minuten ausverkauft, britische Revolverblätter prophezeien ihm, dass er größer wird als OASIS. Sein selbstproduziertes Debütalbum „Erratic Cinematic“ schoss rauf bis an die Spitze der iTunes-Charts. In YouTube-Clips sieht man Menschenmassen an seinen Lippen hängen – und bei uns kennt ihn keine Sau. Ende April hat der extrem sympathische Singer/Songwriter seine ersten Shows in Deutschland gespielt. Wir haben ihn backstage im Club Huize Maas in Groningen getroffen. Mein geschätzter Zündfunk-Kollege Achim Bogdahn hat das schottische Kauderwelsch übersetzt.

Stell dich doch mal bitte kurz selbst vor.


Ach Mann, ich weiß nicht so genau, haha. Ich spiele einfach Musik. Das hier ist mein zweiter Auftritt auf dem Kontinent nach dem Paradiso in Amsterdam. Ich hatte es eigentlich gar nicht auf die große Karriere angelegt, mein einziges Ziel war es, einmal im Barrowlands daheim in Glasgow zu spielen, dann habe ich diese Halle zweimal ausverkauft. Danach war mein Ziel, einmal beim T in the Park-Festival in Glasgow aufzutreten. Als ich das geschafft hatte, bin ich gefragt worden, was willst du jetzt erreichen? Ich sagte, einmal im legendären Paradiso in Amsterdam auf der Bühne stehen. Tja, und dieser Gig war schon nach fünf Minuten ausverkauft.

Deine Karriere hat sich in Großbritannien geradezu raketenhaft entwickelt. Wie kam das?

Ich will eigentlich die ganze Sache im Griff behalten, mich darauf konzentrieren, Songs zu schreiben. Ich habe keinen Plattendeal, habe zwar jede Menge Angebote bekommen, bin aber nicht interessiert. Ich will einfach Songs schreiben, die für sich selbst stehen, um zu beweisen, dass es auch ohne Plattenindustrie geht. Ich kenne Leute, die haben einen Plattendeal, aber ihr Zeug verschwindet im Regal oder sie werden gezwungen, andere Musik zu machen, als sie es eigentlich wollen. Als ich mein erstes Album Ende 2017 selbst herausgebracht habe, ging es direkt in die Charts, dabei habe ich nur auf Facebook gepostet, dass es jetzt erschienen ist. Und dann habe ich das Barrowlands zweimal ausverkauft, obwohl ich niemand vorher davon erzählt hatte. Ich habe einfach ein kleines Mittagsschläfchen gemacht, danach waren schon alle Karten weg. Es ist der blanke Wahnsinn, seitdem habe ich zwei komplett ausverkaufte Tourneen durch England hinter mir. Ich weiß gar nicht, wo das alles noch hinführen soll.

Das alles nur mit einem Mann und einer Gitarre. Wie erklärst du dir das?

Ich will einfach nur spielen und ein zweites Album aufnehmen, und ich gebe einen Scheißdreck auf das übliche Musikbusiness, auf Radiopromoter und den ganzen Quatsch. Man braucht das alles nicht, solange man gute Melodien hat. Wenn ich zu einem Auftritt gehe, dann gibt es nichts Schlimmeres, als dass das Publikum nicht zuhört. Dann denke ich mir, ich habe mir die ganze Woche den Arsch für euch aufgerissen und mir die Zeit genommen, und ich schütte euch mein Herz aus und ihr schert euch einen Scheißdreck drum. Ich spiele deswegen jeden Auftritt so, als ob es mein letzter wäre, deswegen habe ich bis vor kurzem auch keine Tourneen gespielt. Wenn man wie ich nur auf der akustischen Gitarre spielt, ist das gar nicht so einfach, denn wenn ein Fehler passiert, ist man ganz alleine. Was ich mache, hat viel mit den Texten zu tun, die Musik alleine würde es nicht schaffen. Ich will Lieder schreiben, die den Leuten die Augen feucht werden lassen.

Was war das Verrückteste, das du bislang erlebt hast?

Im Barrowlands hatte ich gerade den zweiten Song gespielt, und als ich mich kurz umdrehte, hatten schon ganz viele Jungs ihre Hemden und T-Shirts ausgezogen und nach vorne geworfen, manche sogar ihre Hosen. Und ich habe mich gefragt, wie kommt ihr nach dem Auftritt nach Hause, wie wollt ihr ein Taxi finden, das euch so mitnimmt? Vielleicht sollten wir am Merchandise-Stand in Zukunft auch Hosen verkaufen? Am Ende des Gigs hat mir jemand ein total verschwitztes Sweatshirt an den Kopf geworfen. Und draußen waren es minus vier Grad. Wie sind die nur alle heimgekommen, so halbnackt? Ein Wahnsinn, da sind nur Bekloppte. Einer hat mir ein Pint Bier auf die Bühne geworfen und ich habe mich mittels Crowdsurfing über die Köpfe zu ihm durchreichen lassen, um es ihm zurückzubringen.

Du kommst ja aus der Musikstadt Glasgow. Was hat dich dort beeinflusst?

Ich habe früher die alten Kassetten meiner Mutter gehört, mit den BEATLES drauf und anderen, die ich fast religiös verehrt habe. SIMON & GARFUNKEL, oder den schottischen Sänger Billy Connolly, den die meisten nur als Comedian kennen, der aber Wahnsinnssongs geschrieben hat über Glasgow und seine Jugend hier. Über Glasgow zu singen, ist schon etwas seltsam, denn es kann auch etwas billig wirken, aber ich will das sehr ehrlich machen, mit viel Gefühl. Wenn dich Glasgow nicht kaputt macht, dann formt die Stadt dich. Sie hat gute und schlechte Seiten. Im gleichen Jahr, als Glasgow Europas Kulturhauptstadt war und zur freundlichsten Stadt Europas gewählt wurde, war es auch die Stadt in Europa mit den meisten Messerstechereien. Ein Comedian hat mal gesagt, sie stechen dich erst ab und zahlen dann dein Taxi ins Krankenhaus, weil sie so nett sind. Haha. Aber ich liebe diese Stadt, weil die Leute so echt sind, weil es da noch echten Pathos gibt. Schwer zu beschreiben. Wir haben mit 57 Jahren die niedrigste Lebenserwartung in Europa, niedriger als im Irak, weil sich die Leute so ungesund ernähren. Mal schauen, wie lange ich durchhalte. Also jedenfalls ein Scheißloch mit tollen, lieben Menschen – das ist Glasgow.

Aus welchem Viertel von Glasgow kommst du denn und womit hast du bislang dein Geld verdient?

Ich bin in Castlemilk großgeworden, einem richtigen Problemviertel. Ich habe lange als Klempner gearbeitet. Mein Vater war auch schon Klempner. Dann habe ich gekündigt und begonnen, stattdessen in diversen Bands zu spielen, war auf dem College und habe studiert, das wieder hingeworfen, wurde Gerüstbauer. Und irgendwann habe ich angefangen, eigene Songs zu schreiben und auf kleinen Bühnen aufzutreten, und meine Kumpels haben gesagt, das musst du unbedingt rausbringen. Das Album habe ich alleine in meinem Keller aufgenommen, bin da für ein Jahr verschwunden, und die Songs wurden besser und besser. Ich hatte früher eine Pop-Punk-Band namens THE CINNAMONS. Da habe ich zwar viel gelernt, konnte aber irgendwie meine Songs nicht unterbringen. Danach habe ich solo weitergemacht, und irgendwann hat mich ein alter Kumpel gefragt, ob ich nicht bei einer Open-Mic-Veranstaltung auftreten möchte. Ich habe ihm gesagt, gib mir zwei Wochen, und in diesen zwei Wochen habe ich hundert Songs aufgeschrieben, hundert Coverversionen, die ich dann im Repertoire hatte. Zwei Monate lang habe ich mich dann fast wundgespielt in dem Club. Und nach und nach habe ich auch angefangen, eigene Songs zu schreiben und damit aufzutreten. Und dann ist das gewachsen und gewachsen. Einer meiner größten Einflüsse ist Beck, ich benutze Loop-Pedals, und habe auf die Weise live auch Bass und manchmal ein bisschen Drums dabei. Aber ich bin auch faul, ich habe zum Beispiel für den Auftritt heute kein bisschen geübt, musste also erst mal nachdenken, wie meine ganzen Lieder so gehen.

Du hast nun deine ersten Konzerte auf dem Kontinent gespielt. Wie geht’s jetzt für dich weiter?

Ich habe ungefähr schon Material für fünf neue Alben fertig. Ich bin jetzt umgezogen und habe mir im Garten ein eigenes Studio bauen lassen, das ist super groß, genau wie ein verdammtes Fußballstadion, es ist echt mächtig. Mein neuer Nachbar kam kürzlich rüber und konnte es nicht glauben: Was zum Teufel soll das sein? Ich zeig dir mal ein Foto! Es sieht nicht aus wie Glasgow, eher wie Monaco. Als ich anfing, war ich pleite, ich hatte einen Vertrag bei Vodafone, hatte aber kein Geld, habe also einfach gekündigt, eine andere, billige SIM-Karte in mein iPhone getan und in der Garage meine Songs aufgenommen, die später dann genauso aufs Album gekommen sind. Das beweist, man braucht gar kein großes Studio. Wenn du es nicht vor einem leeren Zuschauerraum oder vor zehn Besuchern oder an einem Jam-Abend schaffst, die Leute zum Tanzen zu bringen, dann schaffst du es nirgendwo.