Die Berliner Band PVC ist eine Punk-Legende und ihr Gitarrist Gerrit Meijer das letzte Mitglied, der sie von Beginn an, also 1977, bis zum Ende 2012 prägte. Nun hat der Mann sein Leben in Buchform preisgegeben. Es heißt „Berlin. Punk. PVC“ und ist eine authentische und schonungslose Bestandsaufnahme der „Wall City Rock“-Stadt, die PVC einst im Song „Berlin by night“, der sie landesweit bekannt machte, besangen. Ich sprach mit Gerrit am Morgen nach einer offenbar geglückten Lesung.
Gerrit, du hast jetzt die ersten Lesungen hinter dir. Wie fühlte sich das an?
Sehr gut eigentlich, also viel besser, als ich dachte, weil eigentlich laut vorlesen gar nicht mein Ding ist. Aber ich hatte hier zu Hause geübt, und es hat beide Male super geklappt.
Ehe ich auf „Berlin. Punk: PVC“ eingehen möchte, eine kurze Rückblende: TEMPO veröffentlichten die erste Punk-Single, PVC waren die erste Punkband, die auch live auftrat, und dann waren da noch MEKANIK DESTRÜKTIW KOMANDÖH ... Passierte das alles zeitgleich?
In Berlin, ja. TEMPO hatten auch nicht deutschlandweit die erste Single, nein, da waren irgendwo welche in Düsseldorf und Hamburg, die schneller waren. TEMPO brachten die erste Berliner Punk-Single im Mitte 1979 heraus. Aber wir waren die Ersten 1977, vielleicht haben MDK irgendwann 1978 angefangen, auf jeden Fall waren wir 1977 völlig alleine auf weiter Flur.
Ich erinnere mich an eine Aussage von dir, die du in verschiedenen Filmdokus gemacht hast: „West-Berlin, da konnte man alles machen, das war wunderbar.“ Reichte das als Grund, um eine Punkband zu gründen?
Das ist mir eigentlich ziemlich egal. Es war ja auch wunderbar. Du warst hier quasi im Auge des Hurrikans, rundherum war die DDR, West-Berlin war in einem völlig dekadenten Zustand, es wurde hoch subventioniert, das war quasi wie so ein dekadentes Treibhaus. Von daher war es genau richtig, dass die Punk-Geschichte hier Fuß gefasst hat, wodurch auch immer. Ob wir nun die Ersten waren oder nicht, es war einfach ein frischer Wind, der irgendwie nötig war. Aber ansonsten war das Leben in jedem Fall gut, wir hatten ja noch die Berlin-Zulage, also es ging niemanden schlecht.
Ein Zentrum der Szene war das Kreuzberger SO36, das du schon immer abgelehnt hast und woraus du nie ein Geheimnis machtest.
Nein, nein, abgelehnt habe ich den Laden nicht von vornherein, das kam erst später, weil da dieser ganze Dilettantenkram auftrat, der völlig überflüssig war und gar keine Substanz hatte.
Hatte das mit der Lage in Kreuzberg zu tun, da es ja in Charlottenburg und Schöneberg wohl mit dem Punk losging und diese bürgerlichen Bezirke wie Charlottenburg mit dem Ku’damm dann außen vor waren?
Wir haben ja alle in verschiedenen Bezirken gelebt. Die ersten Punk-Anhänger kamen von überall her, die waren noch handverlesen, das waren vielleicht zwei Dutzend, mehr nicht. Die Bewegung setzte erst später in Kreuzberg ein, das fing mit der englischen Band CRASS an. Die haben gezeigt, dass man wenig oder gar nichts können muss. Und daran haben sich diese ganzen hiesigen Anarcho-Bands wie AUSWURF oder KATAPULT orientiert. Ich sah ein frühes Konzert von beiden Bands, im Februar 1979, das war gar nichts. Die hauten da nur ihre bescheuerten pseudopolitischen Parolen raus, und machten dazu „bumbum“. Es ging eigentlich nur darum, dass sie ihr Zeug, ihre Botschaften loswerden, und das musikalische Drumherum war einfach dämlich.[/b]
Waren Etikettierungen überhaupt relevant, fühlte man sich cool, weil man aus dem Punk kam, oder ging es um wie überall nur um Ruhm und weibliche Fans?
Nein, darum ging es überhaupt nicht, wir kamen dazu wie die Jungfrau zum Kind. Bei mir war es so, dass die erste RAMONES-LP der Auslöser war, wie bei vielen, die haben eben gezeigt, dass man sich mit begrenzten Mitteln auf die Bühne trauen kann. Und ich würde mal sagen, es gibt wahrscheinliche hunderttausende Menschen in der Welt, die denen zu verdanken haben, dass sie jemals in die Saiten gegriffen haben. Vorher traute man sich ja gar nicht, das war alles so unerreichbar, diese ganzen Supergruppen, die so versiert waren, was ja auch in Ordnung ist. Und jetzt kamen da diese Rotzgören aus New York und haben gezeigt: Hey, Kinder, ihr könnt doch was machen. Und ein catchy Song hängt ja nicht davon ab, dass er unkompliziert gespielt werden muss. Wenn da eine Hookline ist, dann ist die eben da, und da nützt ansonsten auch überflüssiges Gedudel nichts, wenn der Song scheiße ist.
Die erste RAMONES-LP kam kürzlich in einer Monoversion raus, und die klingt wirklich hammermäßig.
Ach nee, echt? Aber das ist klar, weil sie kompakt ist. Das war doch früher bei diesen ganzen Monogeschichten so. Frühe BEATLES- und ROLLING STONES-Platten in Stereo waren doch eine Katastrophe. Früher wurde in Mono gedacht und nicht in Stereo. Dieses bescheuerte Stereo, eine Seite nur der Gesang, andere Box nur die Instrumente und dann noch eine Triangel. Früher kamen auch Sachen in Mono heraus, dann in Stereo, und die werden jetzt wieder in Mono herausgebracht, echt pure Geldschneiderei. Die erste RAMONES-LP ging gefühlsmäßig ab wie eine Rakete. Heute ist das jüngeren Leuten nicht zu vermitteln, die den Punk-Urknall nicht miterlebt haben. Für Nachgeborene ist das echt kaum nachvollziehbar, es sei denn, sie sind musikhistorisch interessiert.
Bela B beschreibt dich im Vorwort deines Buchs als jemanden, mit dem Gespräche „nicht immer zu den angenehmsten Erkenntnissen“ führen würden.
Das kommt darauf an, worüber man sich unterhält. Wenn ich zu irgendetwas eine negative Meinung habe, dann vertrete ich die auch. Selbst, wenn mir jemand sagt, er sei AC/DC-Fan, dann sage ich dem, das ist für mich faschistoide Scheiße, und dazu stehe ich, das kann mir dann erzählen, wer will. Ich gehe nicht moderater vor, nur weil man mir sagt, dieser Typ kann dir vielleicht einmal irgendwo weiterhelfen.
In deinem Buch ist viel von vermeintlich vertanen Chancen die Rede. Warum? Und was ärgert dich bis heute?
Ach, mich ärgert das alles nicht, es ist eben so, wie es war, was soll man im Nachhinein noch versuchen, irgendwelche Weichen zu stellen, die längst gestellt worden sind. Ich betrachte mich heute eher also so eine Art Alters-Buddhist und sehe die Sachen so, wie sie sind. Wenn eine Oma umfällt, kann man die wieder hinstellen, aber das geht nicht bei allen Sachen auf dieser Welt so leicht. Und was diese Betroffenheitsgeschichte angeht, dazu sage ich immer: Kinder, wenn ihr so betroffen seid, dann fahrt doch dahin und helft. Wenn ihr das nicht macht, wie zum Beispiel auch ich, dann gesteht euch einfach ein, dass ihr Arschlöcher seid.
Gab es nie den Wunsch, später die Seiten zu wechseln, also Bandmanager oder Journalist zu werden, oder ist Musiker zu sein einfach das Schönste?
Nee, überhaupt nicht. Musiker sein ist eben kreativ und ich habe schon den Eindruck, dass ich etwas gemacht habe, was mir wirklich liegt. Viele Leute machen ja Sachen, egal in welchem Bereich, weil sie sich vorstellen, damit eventuell später einmal viel Geld zu verdienen. Und einige sind durch besondere Penetranz tatsächlich auch irgendwann erfolgreich. Das ist wie im Schwimmverein, hast du das Talent, dann okay, aber andere, die ackern und ackern, die sind dann zwar vielleicht um dreizehntel Sekunden besser, aber was ist das für ein großer Einsatz? Das ist doch die ganze Frage: Ist das wirklich für mich gemacht oder nicht? Und da habe ich leider den Verdacht, dass viele einfach weiterzwirbeln, obwohl sie dafür gar nicht gemacht sind.
Wie bist du konkret bei der Arbeit des Buches vorgegangen. Rein chronologisch von Monat zu Monat? Was half deinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge?
Ich habe unglaublich viel im Kopf und auch schon früher einiges aufgeschrieben. Das Buch ist ja 2008/09 für das Archiv der Jugendkulturen entstanden, die das Manuskript aber abgelehnt haben. Nun lag es da, und ich dachte, so einen Scheiß machst du nie wieder. Weil ich mich ja nicht als Literat sehe. Aber immer wieder haben mich Leute gefragt, wie war es denn früher und so. Gut, ehe ich lange quatsche, sende ich euch das Manuskript, da steht alles drin. Es war ja viel umfangreicher als das, was jetzt rausgekommen ist. Letzten August rief wieder jemand an, der in einer alten DDR-Punkband gespielt hat, und der war sofort begeistert und meinte: „Das braucht unbedingt einen Verlag.“ Und ich sagte ihm, nimm es und kümmere dich darum, ich tue das nicht mehr, und dann haben die sich im Februar bei mir gemeldet. Und zur Vorgehensweise: ich legte mir einfach DIN-A4-Blätter hin und schrieb grob hin, Fünfziger, Sechziger, Siebziger, dann ließ ich alles Revue passieren, überlegte, was da war, und habe es erst einmal eingetragen. Danach unterteilte ich es in Monate, und dann kam immer mehr dazu. Es war eben ein Annähern, einfach eine Fleißaufgabe, so möchte ich es nennen. Ich gehe ohnehin immer systematisch vor, bei allen Dingen. Ich habe schon immer alles archiviert, auch bei Comics. Das kennt man ja als Plattensammler sowieso.
Gab es einen Kodex? Hast du darauf geachtet, nicht zu mild oder zu zornig zu werden, oder hast du einfach losgeschrieben?
Sagen wir es mal so: Leute, die mir nahestehen, wollte ich nicht in die Pfanne hauen, aber wenn einer etwas Doofes gemacht hat, habe ich das hingeschrieben, so viel Rückgrat muss man einfach haben. Ich traf gestern auch einen bei meiner Lesung, mit dem ich mich vor ein paar Jahren überworfen hatte, und ja gut, dann reichte man sich die Hand und alles ist vergessen, das muss einfach drin sein. Und es gilt, wer austeilt, muss auch einstecken können.
Sehr unterhaltsam fand ich jene Stellen, wo die Zeitgeschichte mit hineinspielt, etwa deinen Besuch zum 40. Jahrestag der DDR in Ost-Berlin. Ist dir im Nachhinein noch eine Anekdote eingefallen, die nicht den Weg ins Buch gefunden hat?
Das Buch war ja erst viel umfangreicher, das waren 360 Seiten, und der Verlag hat gesagt, dass es gekürzt werden muss. Ich denke, das hatte auch mit meinem Bekanntheitsgrad zu tun, ich bin ja nun nicht gerade die Größe überhaupt. Und 250 Seiten sind tatsächlich das gängige Maß, auch Leute wie Toni Krahl, der Sänger von CITY, selbst der hat nur 250 Seiten bei denen gekriegt. An eine Sache in Ost-Berlin erinnere mich noch, ich kaufte ja dort wie ein Blöder immer Schallplatten, Klassikplatten, und da standen wir einmal vor so einem Laden, wo es nur ein bestimmtes Kontingent an Einkaufskörben gab. Die Leute standen alle vor der Tür und wir wunderten uns warum. Aber erst wenn ein Korb wieder zurückkam, konnte den sich der Nächste nehmen und hineingehen. Und da dachte ich, was für ein Quatsch, ich brauche doch keinen Korb, und dann sind wir einfach ohne durchgegangen, und das war für DDR-Bürger einfach unvorstellbar. Das fand ich irgendwie obskur, aber ich habe auch nach der Maueröffnung festgestellt, dass die Leute noch an den Kaufhallen anstanden, weil sie wohl dachten, das Kontingent ist wieder begrenzt.
Am 10. März 2012 fiel live die letzte Klappe in Sachen PVC, zwei Tage vor deinem 65. Geburtstag, dem Renteneintrittsalter. Dein Kommentar: „Ich bin heilfroh, diese Nummer hinter mich gebracht zu haben.“ Kann man Punk oder Rock’n’Roll für sich jemals wirklich komplett abhaken?
Punk auf jeden Fall, da habe ich absolut nichts mehr für übrig. Nicht weil es Punk an sich ist, sondern weil ich es so absurd finde, dass das immer noch läuft. Haben die denn keine eigenen Ideen mehr heutzutage? Nimm mal das Jahr 1966 und denke dann einfach vierzig Jahre zurück, das hätte ja bedeutet, dass die 1966 immer noch Charleston getanzt hätten. Grotesk. Mir ist es auch völlig egal heutzutage, wie gut oder schlecht Punkbands sind. Ich finde einfach das Format „Punkband“ völlig überholt. Ich habe neulich GREEN DAY gehört, „Revolution Radio“, da dachte ich, was soll denn das jetzt? Denken die, jetzt kommen wir und wir sind gefährlich, das sind doch alles abgedroschene Phrasen. Da habe ich kein Verständnis für. Ich sah mir auch neulich wieder so Heavy-Metal-Festivals an, zur Unterhaltung, so wie man früher Loriot schaute, und habe mich tierisch darüber amüsiert. Das geht doch alles gar nicht, das ist doch nur noch Kundendienst. Die oben wissen, wie es geht, da ist doch keine Begeisterung vorhanden. Da schmeißt du zehn Cent ein und dann fangen die Affen an zu tanzen. Da kannst du auch in einen Kegelclub gehen, absolut spießig, nee, da kann ich nichts mit anfangen.
Und was kommt jetzt bei dir?
Ich mache einfach weiter. Eine Woche nach dem letzten PVC-Konzert habe ich mich mit dem damaligen Drummer kurzgeschlossen und wir nahmen einfach weiteres Material auf. Ich habe jetzt 540 Stücke oder so, die ich aufgenommen habe, das mache ich einfach nur just for fun. Wozu brauche ich diese Vollidioten, diese ganzen Riesen-Acts? Da gehe ich doch lieber hier die Straße entlang, sehe irgendwelche Straßenmusiker und muss feststellen: Da sind viele dabei, die sind unglaublich gut. Mein Modell wäre, dass sich alles wieder lokaler abspielt, und dass sich die Leute dessen bewusst sind , dass sie das selber machen können. Qualität hat doch nichts damit zu tun, das irgendwas aus den USA kommt. Ich nenne das Ganze „Third Life“, und zwar deshalb, weil ich schon zwei Leben hinter mir habe. In einer Band biegst du deine Ideen doch immer zurecht, so dass sie passen. Jetzt habe ich zum Beispiel mal einen Chor mit mir selber aufgenommen, kann man ja heute alles machen, und das macht mir Spaß.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #129 Dezember16/Januar17 2016 und Markus Franz