Zugegeben, eine Band, die innerhalb von nur vier Jahren seit ihrer Gründung beim Majorlabel Warner unterschrieben hat, Auszeichnungen von britischen Musikmagazinen verliehen bekommt und mit einem Song in dem Videospiel-Bestseller „Guitar Hero“ vertreten ist, dürfte die D.I.Y.-Gesinnungsprüfung der unerbittlichen Hardcore-Szene eher nicht erfolgreich bestehen. Vielleicht auch nicht ganz zu Unrecht. Doch der Schritt in höhere kommerzielle Gefilde muss nicht zwangsweise mit einer Entpolitisierung der eigenen Kunst verbunden sein. GALLOWS aus Hertfordshire, Großbritannien wollen dies mit ihrem zweiten Album unter Beweis stellen. „Grey Britain“ lautet der programmatischer Titel und lässt erahnen, dass es hier eine Band noch mal „ernst“ meint und „etwas zu sagen“ hat. Die Frage ist nur: Wie lange noch?
Es herrscht eine gedrückte Stimmung im RAMONES-Museum in Berlin-Mitte. Plattenfirmenmitarbeiter sitzen auf schwarzen Ledersofas, schlürfen unmotiviert ihren Latte Macchiato und gehen selbst für kurze Telefonate vor die Tür. Auch für die Exponate der vermeintlichen Punkrock-Legenden interessiert sich heute offenbar niemand. Umso mehr aber für GALLOWS, die zur Veröffentlichung ihres zweiten Albums „Grey Britain“ zum Interview-Marathon in dieser Nostalgie-Fabrik angetreten sind. Bassist Stuart und Gitarrist Laurent wirken daher leicht apathisch, als sie neben der Glasvitrine mit einer von den RAMONES-Mitgliedern unterschriebenen Lederjacke sitzen und sichtbar damit kämpfen, am Ende dieses langen Pressetages detaillierte Auskünfte zu geben. „Wir sind sehr zufrieden mit der neuen Platte“, beginnt schließlich Stuart nach einem kurzen Innehalten. „Beim Schreiben der Songs war die Herangehensweise eine ganz andere als bei ‚Orchestra Of Wolves‘. Während damals fast ausschließlich Laurent die Songs komponierte, haben wir dieses Mal im Studio so gut wie alles gemeinsam erarbeitet.“
Hörbare Unterschiede gibt es beim Großteil des Albums allerdings nicht. Auf „Grey Britain“ klingen GALLOWS immerhin genauso angepisst und wütend wie auf ihrem viel umjubelten Debüt: kantiger, auf den Punkt gebrachter Screamo, der alles in Stücke reißen will und beinahe gänzlich ohne Metalcore-Versatzstücke auskommt, dafür aber umso mehr Oldschool-Einflüsse aufweist. Dennoch scheinen zumindest die Halbballade „The vulture“ und der im Klangbild klassischer Instrumente zerfließende Abschlusstrack „Crucifucks“ anzudeuten, dass man sich hier auch aus dem engen Genrekorsett befreien möchte.
Laurent hakt ein: „Wir hatten einfach keine Lust darauf, genau wie auf unserem ersten Album zu klingen, und haben daher versucht, auch progressivere Elemente in unseren Sound zu integrieren. Ich selbst höre privat kaum noch Hardcore, sondern eher Bands wie SIGUR RÓS. Das prägt natürlich.“
Nicht nur das. Den Produzentenjob übernahm für „Grey Britain“ schließlich niemand geringerer als Garth „GGG“ Richardson. Dieser saß unter anderem schon bei RAGE AGAINST THE MACHINE, SICK OF IT ALL, ATREYU und den RED HOT CHILI PEPPERS hinter dem Mischpult – nicht gerade die schlechtesten Referenzen also. „Mit Garth zusammenzuarbeiten war einfach großartig“, so Laurent. „Ins Songwriting hat er sich nicht direkt eingemischt, aber er hat es trotzdem geschafft, den Sound für diese Platte genauso einzufangen, wie wir ihn haben wollten.“
Harmonie pur also? Zum Glück nicht. Denn einen Albumtitel wie „Grey Britain“ hätte man sich sonst auch sparen können. Laut Sänger Frank handeln die Texte „von allem, was gerade politisch, sozial und ökonomisch in Großbritannien abläuft“. In einem Land, das von der grassierenden Wirtschaftskrise besonders hart getroffen wurde und in Folge dessen nun wie viele andere Staaten mit einer stetig steigenden Arbeitslosenquote zu kämpfen hat, ist das eine durchaus nachvollziehbare Reaktion. Doch auch ohne die gegenwärtige Situation, in der der Kapitalismus mit Konjunkturpaketen vor „Heuschrecken“ und „Börsenspekulanten“ gerettet werden muss, scheinen GALLOWS genug Stoff für einen verbalen Rundumschlag gegen die gesellschaftlichen Realitäten im Vereinigten Königreich parat zu haben.
„The queen is dead/And so is the crown“, heißt es etwa unmissverständlich im Opener „The riverbank“. Reflektiert das etwa den Gemütszustand einer Generation von Britinnen und Briten, die anscheinend den Mief der Royal Family endgültig satt hat und nach den fetten Jahren des Aufschwungs nunmehr resigniert? Stuart bleibt allgemein: „Die Texte spiegeln in erster Linie unsere direkte Umgebung wider, also das, was uns alltäglich widerfährt und beschäftigt. Und dazu gehört natürlich, dass viele Leute eben Angst haben, ihren Job zu verlieren. Aber wir sagen auch nicht, dass die derzeitigen Probleme nur Großbritannien betreffen. Das alles lässt sich auf die ganze Welt projizieren.“
Konkreter äußert sich auch Laurent nicht: „Jeder ist von dieser ganzen Scheiße angepisst, klar. Wenn ich mir heute Großbritannien angucke, dann kann ich dieses Land kaum noch wieder erkennen. Wir hoffen deswegen, den Leuten zumindest ein paar Denkanstöße liefern zu können.“
Das ganze System wollen GALLOWS also nicht ficken. Zumindest aber ein wenig. Und nicht nur, weil dieser politische Gestus auf einem großen Label naturgemäß mehr Leute erreichen kann als auf einem kleinen, steht die Band mittlerweile beim Majorlabel Warner unter Vertrag. Der eine Million Pfund schwere und vier Alben umfassende Deal war bereits im Frühjahr 2007 perfekt. Und doch sind die obligatorischen Sellout-Vorwürfe von Szene-Puristen nicht ganz verstummt, was umso nachvollziehbarer erscheint, als auch die Veröffentlichung in den USA von Warner übernommen und damit der bestehende Vertrag mit Epitaph gekippt wurde. „Wir waren uns immer einig, dass ein Majordeal unter bestimmten Rahmenbedingungen für uns durchaus denkbar wäre“, winkt Stuart gähnend ab. „Hätte Warner etwa verlangt, dass wir auf diesem Album wie GREEN DAY klingen sollen, dann hätten wir ganz sicher nicht unterschrieben. So war es aber nicht. Man hat uns künstlerisch völlig freie Hand gelassen.“
Auch Laurent pflichtet dem bei: „Wenn man sich als Band weiterentwickeln möchte, dann kann ein Labelwechsel durchaus ein erster Schritt dazu sein. Bisher bereuen wir das auch nicht. Finanziell wären zum Beispiel die vielen Touren mit unserem alten Label kaum möglich gewesen.“
Offen bleibt, ob es zu den im Vertrag zugesicherten restlichen drei Alben überhaupt kommen wird. Schließlich hatte Sänger Frank unter anderem in einem im September 2007 erschienenen Interview mit dem britischen NME noch verkündet, dass die Band ohnehin nicht seinen Lebensinhalt darstelle und er bevorzugt als Tattoo-Künstler seine Brötchen verdiene. Gleichzeitig attestierte er der Band keine fünf Jahre Lebensdauer. „Das ist alles ziemlich missverständlich herüberkommen“, sagt Stuart. „Wir wollen die Band ganz sicher nicht dieses Jahr auflösen. Erst mal gehen wir mit der neuen Platte auf Tour und dann sehen wir weiter.“
Kann man denn noch auf ein neues GALLOWS-Album hoffen? „Sag niemals nie“, lautet Stuarts Antwort nach einem kurzen Blickwechsel mit Laurent. Optimismus klingt anders. Es ist eben grau geworden in Großbritannien.
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