Gail Thibert war Sängerin der Synth-Punkband ADVENTURES IN COLOUR, bevor sie ans Keyboard wechselte. Anfang der Achtziger spielte sie bei LOST CHERREES, eine jener Bands, welche der harschen Schwarzweiß-Welt der Anarchopunk-Szene ein bisschen Farbe und Melodie hinzufügten. Musik zu machen war und ist bei weitem nicht die einzige Aktivität Thiberts. Im Sommer 2018 wurde ihre Autobiografie „Soap The Stamps, Jump The Tube“ veröffentlicht, welche die Lebensjahre zwischen 18 und 30 umfasst.
Gail, deine Autobiografie endet damit, dass du ein Konzert der Metal-Band EXTREME besuchst. Wo liegen die musikalischen Präferenzen heutzutage?
Selbstverständlich habe ich eine Schwäche für romantische Balladen wie „More than words“, aber mein Musikgeschmack war stets vielfältig. Heute kriege ich nicht mehr so viel neue Musik mit wie früher, als die Hausarbeit zu John Peel gemacht wurde und man haufenweise neue, fantastische Bands kennenlernen konnte. Ich mag immer noch Punk, Ska und Reggae, gerade habe ich mir die neuen Alben von SPEAR OF DESTINY und THE DAMNED gekauft, und es lief häufig JOY DIVISION, da ich bei der Tribute-Band CTRL eingestiegen bin. Aber momentan höre ich vor allem die Musik meiner aktuellen Band.
Man hört dich auf dem FLOWERS IN THE DUSTBIN-Album „I’m An Artist Your Rules Don’t Apply“ von 2015, und anlässlich der Buchveröffentlichung standest du mit einigen Bands auf der Bühne. Nach dem Ausstieg bei LOST CHERREES hattest du aber lange nichts mehr gemacht, oder?
Ich habe ein paar Sachen ausprobiert, aber es hat irgendwie nichts mehr gepasst. Ich hatte eine Band mit Wreckless Eric und der NIPPLE ERECTORS-Bassistin Shanne Bradley, und ich könnte ich mich heute dafür ohrfeigen, nicht weitergemacht zu haben, aber ich fühlte mich damals einfach nicht gut genug. Mit den Bands anlässlich des Booklaunchs habe ich bereits früher mal gespielt: Mit Dev, dem Sänger von CTRL, wohnte ich im besetzten Haus in Stamford Hill. Als er mich zur Bandprobe einlud, musste ich ihm erst erklären, dass ich seit dreißig Jahren kein Keyboard mehr angefasst hatte. Er war aber sehr geduldig und ließ mich die Tasten mit farbigen Filzstiften markieren, damit ich mitspielen konnte. Schlussendlich brauchten sie dann trotzdem jemand, der kompetenter war, hat aber Spaß gemacht. In SARAH PINK’S GRAVEDIGGERS bin ich gelandet, nachdem Sarah eigentlich bei ein paar meiner Songs Gitarre spielen sollte. Das ist nun zwei, drei Jahre her und wir haben immer noch an keinem meiner Lieder gearbeitet! Aber Sarah schreibt tolle, catchy Pop-Punk-Songs, und mehrstimmig zu singen gefällt mir.
Erzähl doch noch mehr von diesem Launch-Abend? Irgendwelche Anekdoten? Alte Freunde wiedergefunden? HAGAR THE WOMB und RUBELLA BALLETT haben da auch gespielt ...
Beide kommen im Buch vor, mit beiden haben wir früher Konzerte gespielt, und die Freundschaften sind erhalten geblieben. Kathy Freeman kenne ich ebenfalls aus der Hausbesetzer-Zeit. Sie gründete dann eine Band namens JOYRIDE, später RUMOUROSA, wo ich eigentlich singen sollte. Kathy meinte dann jedoch, es sei komisch, wenn jemand anders ihre Songs singt. Ich hoffe jetzt mal, damit war nicht gemeint, ich würde scheiße singen. Der Abend selbst war einmalig! Ich hatte sechs Bands und einen DJ gebucht, davon ausgehend, dass mindesten zwei davon wegen Krankheit oder was auch immer wieder abspringen würden. Bizarrerweise sind dann aber alle gekommen, auch wenn die Punk-Karaoke-Band ohne Sängerin Julie Spooly auftreten musste. Da Live-Bands bloß bis elf Uhr spielen durften, mussten wir früh beginnen. Und damit die Leute auch früh genug auftauchen, habe ich hundert Goodie-Bags kreiert. Darin waren vegane Seifen, selbstgemachter Schmuck, Radiergummis in Motorradform und allerlei anderer Kram, welcher mit dem Buch in Verbindung steht – selbst die Papiertüte sah wie die aus, welche ich früher im Sandwichladen auszuliefern hatte. Die Tüte enthielt außerdem eine Mix-CD, darauf ein ADVENTURES IN COLOUR-Track, den noch nie zuvor jemand gehört hat. Liebevoll gebrannt hat die CDs mein Freund Des, dessen Band SHOCKS OF MIGHTY da ebenfalls auf der Bühne stand.
LOST CHERREES standen an jenem Abend nicht auf der Bühne. Gibt es keinen Kontakt zur ohne dich wiedervereinigten Band?
Nach meinem Weggang war ich damals sehr verbittert. Es dauerte lange Zeit, den Schmerz zu überwinden, und einiges verfolgt mich bis heute. Ich hatte sogar ein paar emotionale Flashbacks während des Keyboardspielens bei CTRL. Debs und ich hatten mit dem alten Line-up – jedoch ohne Bev und Sian – anlässlich einer Fundraiser-Veranstaltung einen Auftritt als Sängerinnen. Damals haben wir uns überlegt, in dieser Formation weiterzumachen, aber Andy, der Gitarrist, und Nuts, der Drummer, waren zu jener Zeit mit ihrer anderen Band PAST TENSE ziemlich beschäftigt. Steve hat die Sache dann alleine in die Hände genommen, fand aber, dass Debs und meine Stimme nicht zum neuen Material passen, welches er mit Bev geschrieben hat, als man sich um 2004 reformiert hatte. Ich habe das Album gekauft, das LOST CHERREES nach der Reunion veröffentlichten, aber ehrlich gesagt lief das nicht sonderlich oft. Meine eigenen Aufnahmen habe ich mir aber auch nie mehr angehört. Freunde haben immer wieder davon geredet, wie viel ihnen diese Songs bedeuten, aber das war ja nicht ich, die diese Songs geschrieben hatte. Alles, was ich getan habe, war, ein paar Tasten zu drücken, und das nicht mal immer zur richtigen Zeit. Na ja, das ist eine lange Geschichte und ergibt vielleicht ein Kapitel in der Fortsetzung zu „Soap The Stamps, Jump The Tube“. Eine Frau, die unter anderem mit mir bei THE PUKES gespielt hat, ist bei LOST CHERREES als neue Sängerin eingestiegen und damit hatte sich das Thema für mich sowieso erledigt. Wenn sich Steves und meine Wege zufälligerweise wieder kreuzen, dann bleibe ich natürlich trotzdem freundlich. Oder auch nicht. Kommt ganz drauf an ...
Wer waren THE PUKES?
Zu THE PUKES stieß ich vor acht, neun Jahren. Ich legte Tarotkarten für zwei Frauen, die ich entfernt aus der Punk-Szene kannte. Während der Sitzung „sah“ ich massenweise Gitarrengürtel und wurde so in das Projekt eingeweiht, das die beiden ins Leben gerufen hatten. Gemeinsam mit anderen Frauen wurden Punk-Klassiker zu Ukulelenbegleitung gesungen – „Punk“ plus „Uke“ macht „Puke“. Jenny von den Kings Road Punks lud mich zu eine der ersten Proben ein, später holte ich auch noch Debs von LOST CHERREES dazu. Zeitweilig waren wir über zwanzig Ukulelespielerinnen und ich fand es zwei Jahre lang lustig. Der später eingeschlagene Weg missfiel mir jedoch und dank meines ehrlichen, aber großen Mauls war ich dann bald nicht mehr dabei. THE PUKES gibt es immer noch, es sind heute aber nur noch etwa fünf Leute dabei.
Im Buch erzählst du, wie du dich von Punk zu Goth, von Goth-Rock zu Hairmetal bewegt hast. Was ich immer noch nicht verstehen kann übrigens ...
Haha, Hairmetal! Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört. Gefällt mir. Allgemein haben sich doch sowieso viele Punkbands Richtung Metal bewegt. Die Clubszene in London veränderte sich damals auch stark und wir wurden beeinflusst von dem, was gespielt worden ist. Anstatt etwas Neues zu kreieren, waren die meisten Punks nur noch auf Selbstzerstörungsmission. Und das ewige „Have you got 10 p?“ kannst du auch nur eine begrenzte Zeit ertragen.
Warst du irgendwann ganz aus der Punk-Szene raus?
Während der Jahre, als Punk mit Goth und Rock abwechselten, ist ehrlich gesagt dermaßen viel geschehen, dass ich erst mal Zeit brauchte, um das alles zu verdauen. Während dieser Zeit habe ich dann auch den Vater meines Sohnes kennen gelernt und ich war bereit dazu, einfach alles herunterzufahren. Ich bin nicht mehr ausgegangen und habe mich gänzlich der Schneiderei gewidmet. Durch das wachsende Interesse am Paganismus begann ich, mich in einem anderen Umfeld zu bewegen. Motorräder, Biker-Clubs und Rennen eröffneten mir ebenfalls neue Welten. Selbst wenn dort nach wie vor vornehmlich 70s-Progrock gespielt worden ist. Als die Beziehung zum Vater meines Sohnes zerbrach, begann ich wieder, mit meinen alten Freunden Jenny und Addy auszugehen. Und eigentlich hatte ich wieder verschiedene Stoffe eingekauft, um meine eigenen Kleider zu nähen, aber die Zeit reicht irgendwie kaum, um den Faden richtig einzufädeln. Ich nehme heutzutage allerdings einen gewissen Punk-Einheitslook wahr, den ich nicht zu übernehmen gedenke.
Wie kam es überhaupt zu diesem Buch? Gab Greg Bulls „Some of Us Scream, Some of Us Shout“ den Anstoß?
Ich habe immer geschrieben. Mein erstes Buch hieß „Another Fishhead in the Dustbin“. Als ich es schrieb, war ich 14 Jahre alt. Mit dem Schreiben von „Soap The Stamp...“ habe ich vor neun Jahren begonnen. Meine Mutter ist – genauso wie ihre Mutter – mit sechzig gestorben, meine beste Freundin starb mit fünfzig, und ich hatte Angst, dass die Geschichten verloren gehen würden. Autobiografien mochte ich schon immer. „Angela’s Ashes“ von Frank McCourt – diese Erinnerungen des „einfachen“ irischen Mannes – würde ich gar als Inspiration für dieses Buch nennen. Der Artikel in Bulls Buch ist im Prinzip eine frühe Version des Buches, geschrieben, als mein Sohn klein war. Um ein bisschen unter die Leute zu kommen, trat ich damals einer Gruppe lokaler Autoren bei. Ich notierte, wen und was ich alles erwähnt haben wollte. Da ich ziemlich oft umgezogen bin, habe ich die Kapitel an der jeweiligen Wohnsituation orientiert, welchen Job ich hatte, wen ich gedatet habe ... Die einzelnen Kapitel wurden danach chronologisch geordnet, aber das finale Buch habe ich noch gar nicht zu Ende gelesen. Michael Muldoon hat zuletzt vieles umgeschrieben und meine Entwürfe zu dem gemacht, was das Buch heute darstellt.
Deine Website gailhart.co.uk und dein YouTube-Channel sind heute zur einen Hälfte dem Buch, zur anderen deinen Aktivitäten als Wahrsagerin gewidmet. Wussten deine Kunden von deiner Punk-Vergangenheit? Und umgekehrt: Kommen alte Punk-Freunde, um bei dir Rat einholen?
Eigentlich habe ich diese beiden Welten stets voneinander zu trennen versucht. Überschneidungen finden trotzdem immer statt. Eine Kundin, die ansonsten nichts mit Punk zu tun hat, gab eine positive Rückmeldung. Meine Punkfreunde habe ich seit Jahrzehnten und das sind die loyalsten, wahrhaftigen Freunde, die ich mir vorstellen kann. Und die erwarten kein Tarotkarten-Lesen von mir, wenn wir ausgehen.
Nun, da du hellsichtig bist – solltest du nicht konstant in heftigen Hardcore-Punk-Songs unser aller baldigen Untergang verkünden?
Hm, ich bin mir nicht sicher, ob ich so weit in die Zukunft zu schauen in der Lage bin! Es gab natürlich schon immer die Idee als „The singing Psychic“ Karriere zu machen, haha. Ja, vielleicht sollte ich das einmal versuchen! Allerdings scheinen sich die meisten gewünschten Vorhersagen darum zu drehen, ob man zu Geld kommen oder den Wunschpartner ins Bett kriegen wird. Und so werde ich wohl Lieder darüber singen. Nun, letzten Endes lande ich ja sowieso bloß wieder in einer Band, in der alle anderen die Songs schreiben ...
Als hellsichtige Person öffnest du dich vermutlich „Vibes“, die für gewöhnlich nicht allen offensichtlich sind.
Gerade da du dich mit der Musik wieder vermehrt in der Öffentlichkeit bewegst, musst du dich da irgendwie schützen?
Ich musste mich aus einigen Freundschaften zurückziehen. Aber ich denke, das müssen die meisten Leute, wenn sie bemerken, dass sie mit ihrer Umgebung nicht dieselben Interessen teilen. Ich bin sehr feinfühlig den Schwingungen gegenüber, habe aber auch die Fähigkeit, mich komplett zu verschließen. Vermutlich wirke ich zuweilen komplett teilnahmslos oder scheine irgendwo ins Leere zu starren. Drogen mag ich keine um mich herum haben. Drogen- und Alkoholmissbrauch kann negative Geister anlocken und Unheil verursachen – du musst also vorsichtig sein, wenn du sensibel bist. Ich benutze „Aura-Protektoren“ in Form von Blüten oder Aura-Soma-Ölen oder verwende Visualisierungstechniken. Glücklicherweise sind die meisten Orte und Leute, die mich heute umgeben, voller positiver, fröhlicher Stimmung. Ich brauche also nicht stets die Rüstung anzuziehen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #142 Februar/März 2019 und Benedikt "Lepra" Gfeller