ENGRAVE

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Den Tod beklauen

Bereits seit einigen Jahren machen ENGRAVE mit einem chaotischen Hardcore auf sich aufmerksam, bislang jedoch nur auf einigen Singles erhältlich, u.a. Splitreleases mit YAGE und STANDSTILL. Nach zwei Jahren Funkstille melden sich ENGRAVE nun mit einem tollen Album zurück, das den eigenen Sound noch weiter perfektioniert und verdichtet. Gitarrist Jochen und Bassist Roland standen an einem kühlen Montagabend in Köln für ein Gespräch zur Verfügung.

Natürlich stellt sich nach einer relativ langen Abwesenheit erst mal die Frage, was die Band in dieser Phase gemacht hat, und warum das neue Album erst gute zwei Jahre nach dem letzten Release, der Split-7“ mit STANDSTILL erscheint. Roland verweist auf personelle Engpässe, schließlich habe man sich im Winter 2001 von dem früheren Gitarristen getrennt, der nach Hamburg zog, und Schlagzeuger Maurice sei für ein halbes Jahr nach Bordeaux gegangen, um dort zu studieren. Der Wegfall der ‚Maschine‘ habe die Band völlig ruhen lassen, erst danach hätte man wieder zusammen neue Songs schreiben und spielen können. „Wir haben erst noch ein bisschen zu viert weitergemacht, dann aber auch einen neuen Gitarristen gesucht, da es so keinen Sinn gemacht hat. Wir konnten die Sachen, die wir spielen wollten, einfach nicht verwirklichen“, meint Roland.
Erst im Dezember 2002 wurde dann für drei Tage ein Studio aufgesucht, und dort sei alles aufgenommen worden, was man überhaupt an Material hatte, was durchaus „nicht immer viel gewesen ist“, wie Roland ausführlich erläutert. „Das waren erst mal sieben Songs, und dann haben wir uns noch mal drei Monate zusammengesetzt, um mehr Songs zu schreiben, und diese dann aufgenommen. Dann hat es noch mal etwas gedauert, bis das Album erschienen ist“, ergänzt Jochen. War das Material den meisten Labels einfach zu schlecht, und die Veröffentlichung bei Defiance Records nur eine Notlösung? Immerhin ist Roland einer der Betreiber des Labels. „Die Verträge waren halt so hart!“, wirft er ein und löst Gelächter aus. Doch letztendlich sei es von Beginn an klar gewesen, dass man das Album auch bei Defiance veröffentlichen würde, klärt Jochen auf, dies habe ihnen Hoffi schon nach der ersten 7“ vorgeschlagen. „Dass bis dahin fünf Jahre vergehen, hat ja niemand gedacht. Finde ich aber auch nicht so dramatisch, wir haben halt eher den umgekehrten Weg gewählt, heutzutage knallt ja jede Band gleich eine LP raus. Wir haben halt erst mal ein paar Singles mit verschiedenen Bands gemacht.“
Gerade dies kann sich für eine Band aber auch schnell negativ auswirken, hat doch selbst in diesem Spartenbereich eine Release-Flut und Schnelllebigkeit Einzug gehalten, in der man sich auch bei guten Veröffentlichungen nur durch ständige Präsenz bemerkbar machen kann. Roland sieht das ähnlich, schließlich sei aber auch für die Bandmitglieder diese Lücke da gewesen. „Wir merken auch, dass wir als Band im Endeffekt noch mal bei null anfangen müssen, der Name mag bekannt sein, aber das interessiert nicht, da jedes Jahr so viele Bands auf Tour kommen. Wenn man sich da eine Auszeit nimmt, muss man die Leute erst mal wieder überzeugen bzw. darauf aufmerksam machen, dass ENGRAVE wieder da sind, was gerade auch als deutsche Hardcoreband nicht so einfach ist. Zudem bringen wir die LP natürlich auch zu einem Zeitpunkt raus, bei dem wir gar nicht mehr die Möglichkeit haben, diese durch Touren zu promoten. Wir waren halt mit der ersten 7“ unterwegs und haben u.a. in Italien und Tschechien gespielt. Jetzt, wo wir ein Album haben und mehr unterwegs und präsenter sein sollten, sind wir zeitlich ein bisschen eingeschränkt. Als wir die erste 7“ gemacht haben, war doch noch mehr Zeit vorhanden. Es ist auch auf jeden Fall für uns ein Neustart.“
Auch musikalisch hat sich einiges getan, auch wenn die Eckpfeiler sicherlich dieselben geblieben sind, aber darum dort ebenfalls von einem Neustart zu sprechen geht nach Meinung der beiden dann doch zu weit, dies sei eher unbewusst passiert, wenn überhaupt. „Immer wenn eine neue Musikkomponente dazukommt, so wie jetzt unser neuer Gitarrist Timo, dann kommt automatisch etwas Neues, etwas Anderes dabei heraus“, hält Jochen dem entgegen. „Es hat aber auch keiner von uns etwas dagegen, dass Timo jetzt z.B. melodischer spielt. Wir wollen uns musikalisch auch für alles offen halten.“ Auch sei es immer noch unverkennbar ENGRAVE, wirft Roland ein und fährt fort. „Wir haben ja auch bei fast jedem neuen Release ein neues Mitglied gehabt, dann haben wir auch Songs nur zu viert, in der festen Urbesetzung gemacht. Es ist einfach eine Weiterentwicklung, eine Erweiterung und kein Bruch. Die Songs sind halt immer noch so komplex und bescheuert wie immer, durch Timo ist da nur noch etwas mehr Melodie dabei. Ich finde, dass wir es auch endlich mal geschafft haben, Songs zu schreiben, in denen ein roter Faden erkennbar ist. Ältere Sachen waren oft nur aneinander gereihte Teile mit Breaks dazwischen.“
In der Herausbildung dieses eigenen Sounds spielt sicherlich nicht nur die prägnante Stimme von Andreas eine wichtige Rolle, vielmehr hat sich insgesamt eine ganz eigene Spielweise entwickelt. Wie aber genau diese Unterschiede und der eigene Sound konkret greifbar sind, können auch die beiden ENGRAVE-Musiker spontan für sich selber nicht ganz klären. Jochen meint nach einiger Zeit dann noch, dass die Vergleiche mit BOTCH und CONVERGE sowieso schwierig seien, schließlich werde auch jede deutsche Band, die nur ansatzweise so klingen würde, mit eben diesen verglichen. Generell sei dies ja auch nicht falsch, ihn freue es aber auch sehr, „wenn man liest, man hätte seinen eigenen Sound kreiert und nicht nur ein Abklatsch von irgendwas sein soll, was ich persönlich auch sehr wichtig finde.“
Bei einem Albumtitel wie „Stealing From Death A Few Desperate Moments Of Life“ stellt sich schnell die Frage, was denn nun die „desperate moments“ sind, die Musik, die Texte oder doch was ganz anderes? Leider war Andreas, von dem die Idee stammt, und der diesen Satz wiederum aus einem Gedicht von Henry Miller hat, nicht anwesend, aber Roland versuchte sich trotzdem an einer Erklärung: „Für Andreas ist das normale Leben an sich schon ein ‚desperate moment‘, und die Band eine der Möglichkeiten, dem zu entfliehen.“ Jochen bestätigt die Vermutung, die Band sei das positive Gegenstück dieser „desperate moments“ und nicht selber Bestandteil davon. Nach einigen Überlegungen kehrt Roland schließlich noch mal zu dieser Aussage zurück: „Ganz so theatralisch würde ich das jetzt auch nicht sehen, es ist nicht so, dass wir die Band als Antrieb unseres Lebens sehen würden, da wären wir wahrscheinlich auch auf einem Holzweg. Aber auch bei all dem ganzen Scheiß, den man erlebt und dem Stress, wenn man mit der Band unterwegs ist, ist es halt trotzdem eine coole Sache.“
Das klassische Element der Selbstverwirklichung, was sich auch in den Lyrics wiederfindet, spielt für ENGRAVE also weiterhin eine bedeutende Rolle. „Auch wenn es für die einzelnen Personen in der Band sicherlich unterschiedliche Ansichten dazu gibt“, betont Roland. Mit der Idee, dass sich in den grundsätzlich eher von Verzweiflung und Wut geprägten Songs auch immer positive Elemente finden – man könnte hier vielleicht sogar von einem bewusst dialektischen Denken reden –, können sich Jochen und Roland offensichtlich nicht so anfreunden. Dies sei eher auf die neuen Einflüsse von Timo zurückzuführen, und es sei auf jeden Fall nicht darauf angelegt, die Songs hätten sich beim gemeinsamen Spielen einfach so entwickelt.
„Es ist auch nicht so, dass wir wie ein Orchester unsere Texte interpretieren würden. Es ist eher andersrum, die Musik steht fest, und erst dann kommen die Texte dazu. Auch da wird es so sein, dass Andreas seine Texte passend zur Musik schreibt, und wenn er das Gefühl hat, dass es auch musikalisch positiver ist, dann wird der Text sich dem auch angleichen“, hält Roland abschließend fest. Manchmal haben Musiker auch mit Überinterpretationen zu kämpfen. Die Chancen für eine ausgedehnte Tour der Kölner stehen leider sehr schlecht, nur sporadisch würde man auftreten und auch immer entsprechende Angebote suchen, zudem sei jeder Interessierte zu einem Konzert im Proberaum eingeladen.

Foto: Oliver Klobes