DIE KASSETTE

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Zurück in die Zukunft

Die Schallplatte ist Siebziger, wer in den Achtzigern groß geworden ist, ist zwangsläufig mit einem anderen Medium aufgewachsen: der Kassette. Schon im Kinderzimmer ein ständiger Begleiter, wird sie zum ersten Rosinenplünderungsinstrument der gut gespickten elterlichen Plattensammlung, schließlich zum Tausch- und Kaufobjekt für Neuentdeckungen und zum mühevoll zusammengestellten und selbstgestalteten Geschenk für den besten Freund. Warum also nicht mal nostalgisch auf diesen oft belächelten Billigtonträger zurückblicken? Dieser Artikel soll daher eine Einführung in das Thema und damit die theoretische Basis für eine Folge von Interviews rund um das Medium Kassette bilden.

Schnelldurchlauf: Die Geschichte der Kassette


Lou Ottens beschrieb in einem Zeit-Interview anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Kassette 2013 den Ausgangspunkt für deren Entwicklung folgendermaßen: „Klein bedeutet sicherer und billiger, weil weniger Materialien benutzt werden, und es bedeutet weniger Energieverbrauch. Und natürlich: Tragbarkeit, das ist wichtig für die Konsumenten.“

Eine mobile Alternative zu den zwischen 1935 und 1940 von AEG und I.G. Farben (BASF) entwickelten, unhandlichen Magnetbändern wollten Philips und Grundig gemeinsam aus dieser Maxime heraus zu Beginn der Sechziger entwickeln. Eine Zusammenarbeit, die Grundig aufkündigte, nachdem der niederländische Hersteller Philips die erste „Compact Cassette“ samt Abspielgerät auf der IFA 1963 als eigenes Produkt vorstellte und Grundig darüber erst wenige Wochen im Vorfeld informierte.

In der Folge entwickelte Grundig mit der „Doppel-Cassette“ zwar ein eigenes Format, das sich aber, wie viele japanische Kassetten-Derivate auch, wegen eines Deals zwischen Philips und Sony, langfristig nicht gegen die Kompaktkassette behaupten konnte. Auch die konnte sich erst nach und nach etablieren, denn die erste Kassetten-Generation (Typ I) war mit Eisenoxid beschichtetet, was die Höhen verschwimmen ließ und ein deutlich hörbares Rauschen verursachte. Reizvoller machte die Kassette erst die 1971 von BASF vorgestellte Chromdioxid-Beschichtung (Typ II), die für eine entscheidende Klangverbesserung sorgte und damit wesentlich zur zunehmenden Verbreitung des Mediums und des dazugehörigen Radiorecorders beitrug. Das nach wie vor existente Klangproblem wurde in den nachfolgenden Jahren schrittweise angegangen: Die Beschichtung wurde weiter verfeinert (Typ III = Eisen-Chrom, Typ IV = Metall) und die Rauschunterdrückungssysteme Dolby B und C sorgten für einen unter optimalen Abspielverhältnissen volleren Klang, der mit Dolby S 1990 schließlich perfektioniert wurde und damit zur Soundqualität der mittlerweile eingeführten CD aufschloss.

Allerdings konnte längst nicht jedes Abspielgerät die verschiedenen Kassettentypen in gleicher Qualität abspielen. Als mit der Optimierung der Bandführung nach langer Forschungszeit Anfang der 1990er ein weiteres Manko behoben wurde, befand sich die Kassette schon unaufhaltsam im Abwärtsstrudel. Auch Dreikopfmodelle und eine verbesserte Bedienung mit automatischer Wendefunktion und Pausenerkennung zum einfacheren Vor- und Rückspulen konnten den Siegeszug der CD nicht mehr stoppen und dürften nur noch wenige Konsumenten erreicht haben. Das endgültige Aus für die Kassette besiegelte schließlich die zunehmende Verbreitung von CD-Brennern, die einfaches Aufnehmen in digitalen Formaten ohne hörbare Verluste der Tonqualität ermöglichten. Philips’ 1992 vorgestellte digitale Weiterentwicklung der analogen Kompaktkassette, die Digital Compact Cassette, fand trotz hervorragender Klangeigenschaften von Beginn an kaum Beachtung und verschwand 1996 schon wieder vom Markt. Die Profi-Lösung DAT blieb eine Randerscheinung für den Studiobetrieb. Das Problem der langfristigen Entmagnetisierung und die damit einhergehenden Tonqualitätsverluste bei häufigem Gebrauch und/oder längerer Lagerung hat man im Übrigen weder bei der Kompaktkassette noch bei dem digitalen Nachfolgeformat in den Griff bekommen.

Immer unterwegs

Ob Ghettoblaster oder ab 1979 der Walkman – kleiner und handlicher, aber dafür nur für eine einzige Person sinnvoll nutzbar –: die Kassette war im Gegensatz zur Schallplatte in der Regel nicht zwangsläufig auf eine Steckdose angewiesen und damit von Beginn an mobil. Musik konnte so zum ständigen Begleiter werden und mit einem geeigneten Gerät sowohl das gediegene Picknick als auch die spontane Straßenparty kostengünstig beschallen. Ihre Flexibilität und die Möglichkeit, Musik mit Hilfe der Kassette preiswert zu vervielfältigen, machte sie besonders für Jugendliche zum Medium der Wahl. Letzteres war der Musikindustrie natürlich ein Dorn im Auge ...

Home Taping Is Killing Music

Es ist schon erstaunlich, dass die Musikindustrie so entsetzt aufschrie und wehklagte, als die mp3-Datei in den späten Neunzigern ihren Siegeszug antrat. Dabei hätte man sich schon viel früher auf dieses Ereignis einstellen können, denn die Kassette hatte diese langfristig unvermeidbare Entwicklung eigentlich schon viele Jahre vorher angekündigt. Doch anstatt angemessen darauf zu reagieren und die eigenen Rekrutierungs-, Veröffentlichungs- und Vermarktungsstrategien entsprechend umzustrukturieren, hielten die großen Konzerne und die GEMA es für sinnvoller, einfach eine Pauschalabgabe auf Leermedien und Aufnahmegeräte durchzusetzen. Das Gesetz gilt nach wie vor, und nicht nur für Kassetten, sondern auch für alle anderen Speichermedien und Geräte zur (potenziellen) Vervielfältigung wie Kopierer, Drucker, PCs, mp3-Player, etc. Die Höhe der Abgabe war ursprünglich auf fünf Prozent des Verkaufspreises beschränkt, derzeit fallen in Deutschland gesetzlich festgelegte 6,14 Cent pro Spielstunde einer Audiokassette an. Was wahrscheinlich weder damals noch heute jemanden davon abgehalten hat, weiterhin Musik zu kopieren und mit Freunden und Gleichgesinnten zu teilen.

Kassetten-Untergrund

Neben der Funktion der Kassette als reines Vervielfältigungsmedium gab es weltweit auch eine über das Medium Kassette vermittelte Musikkultur aus Cassette-only-Labels und -Zines. In der DDR war die Kassette sogar die einzige Möglichkeit, nicht-regierungskonforme, von DDR-Bürgern geschaffene Musik unter die Leute zu bringen. Wohnzimmerlabels vertrieben in der Regel nicht mehr als einige wenige Exemplare pro Veröffentlichung und verteilten diese direkt an ausgewählte, vertrauenswürdige Abnehmer.

Doch nicht Demos und Kleinstauflagen, Kompilationen waren das entscheidende und einflussreichste Verkaufskassetten-Format. Sie boten Interessierten einen preiswerten Zugang zu neuer, unerschlossener Musik. Über bloße Sampler hinaus waren Tapezines, mit Zwischenmoderationen, teilweise auch Berichten und Interviews, unterfütterte Kompilationen und damit im Grunde genommen nichts anderes, als direkt auf Band mitgeschnittene Radiosendungen (und auch die direkten Vorläufer der Podcasts), in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

In den USA widmete sich beispielsweise das pro Ausgabe jeweils von verschiedenen Personen editierte „Tellus“ von 1983 bis 1993 einigen wenig erschlossenen Musiknischen. Für die Raritätensucher unter den Ox-Lesern interessant in diesem Zusammenhang: Die von Tom Paine (LIVE SKULL) zusammengestellte und ursprünglich 1985 veröffentlichte „All Guitars!“-Ausgabe mit Tracks von den BUTTHOLE SURFERS, Blixa Bargeld, Thurston Moore, Bob Mould, u.v.a. (Vorsicht, extrem noisy!).

In Großbritannien war schon 1973 das Tapezine „Audio Arts“ am Start und legte bis 2006 24 Ausgaben auf (darunter allerdings auch ein paar LPs und CDs). Der Schwerpunkt lag hier nicht auf Musik, sondern auf der Dokumentation von Kunst und Kunstschaffenden allgemein, Interviews (unter anderem mit Andy Warhol, Joseph Beuys, Yoko Ono und Gerhard Richter) standen daher im Vordergrund. Das gesamte Vermächtnis des Zines ist inzwischen online über das renommierte Tate Archive zugänglich.

Auch in Deutschland kamen im Zuge der ersten Punk- und Wave-Euphorie und den damit einhergehend wie Pilze aus dem Boden schießenden neuen Bands zunehmend Tapezines auf. So zum Beispiel das „Band-It“ des sonst eher lokal orientierten Kulmbacher Kassettenlabels Kassetto Fix. Ja, zugegeben, rückblickend waren die recht altklug anmutende Moderation in fränkischem Dialekt und die ab und an eingebauten faden Witzchen nicht immer leicht zu ertragen, zudem waren die vorgestellten Alben/Tracks oft zu kleinsten Snippets verstümmelt und auch die Interviews unfassbar kurz, aber in der Not ... Hier zeigen sich auch die Grenzen des an sich vielseitigen und flexiblen Formats: Seine Qualität steht und fällt mit der Auswahl und den rhetorischen Fähigkeiten des Zusammenstellenden/Moderators. Angenehmer gestaltete sich die Sache in den Neunzigern, beispielsweise beim noch immer über Amöbenklang erhältlichen „Bandsalat“.

Zwar ist das Mixed Tape schon seit der flächendeckenden Ausstattung von PCs mit CD-Brennern, spätestens aber mit iTunes und Spotify obsolet geworden. Dennoch gibt es nach wie vor beinharte Sammler, die ihre Sammelwut mittlerweile digital und online in Blogspots und Foren („Tape Attack“, „Kraut Mask Replica“, um nur zwei zu nennen) ausleben und gerne in die Welt obskurer Chipstütenraschel-Aufnahmen aus dem Kinderzimmer unentdeckter Wave-Pioniere einführen. An diesem Punkt wird ein weiterer wesentlicher Nachteil der Kassette offensichtlich: Sie hat auch entscheidend dazu beigetragen, dass eine Menge unhörbarer Mist fix aufgenommen und billig herausgebracht werden konnte. Das heißt im Umkehrschluss auch: Um ein kleines Perlchen zu finden, musste man sich durch einen wahren Kakophonie-Haufen wühlen und das kann in der klassisch analogen Form mit Vor- und Rückspulen zur wahren Tortur werden. Manches Experiment verbarg und verbirgt sich eben nicht nur aus reiner Verweigerungshaltung im musikalischen Untergrund ...

Revival

Seit mehreren Jahren nimmt die Zahl der Kassetten-Veröffentlichungen zwar wieder stetig zu, doch nach wie vor verbirgt sich hinter einer mittlerweile meist liebevoll aufgemachten Fassade nicht immer der erhoffte unentdeckte Klangschatz. Vielmehr scheint das Äußere hier teilweise eher im Fokus der Veröffentlichung zu stehen als der musikalische Inhalt. Damit ist auch ein Teil der Frage beantwortet, wer die störungsanfällige Kassette überhaupt noch braucht und nutzt: Künstler auf der Suche nach Entschleunigung, die den besonderen Reiz in der Limitierung des Mediums sehen und als Chance zur Entwicklung neuer Ideen in einem klar abgesteckten Rahmen begreifen. Das kann durchaus zu in jeder Hinsicht gelungenen Ergebnissen führen, beispielhaft seien hier die großartigen Cassette Box Sets von Joyful Noise Recordings angeführt. Der 2013 ins Leben gerufene und in Deutschland bisher noch wenig populäre „Cassette Store Day“ bietet in diesem Zusammenhang, genauso wie sein Vorbild „Record Store Day“, erste Einblicke und schützt vor unliebsamen Überraschungen.

No Future?

Fakt ist: Die Kassette hat die Musikwelt revolutioniert und nachhaltig geprägt. Einige wegweisende Künstler/Bands wären ohne die Möglichkeit, mit geringem Aufwand eigene Demos aufnehmen und unter die Leute bringen zu können, entweder ohnehin durch das engmaschige Auslesenetz der großen und kleinen Labels gefallen oder hätten vielleicht auch in Ermangelung hörbarer Ergebnisse den Ansporn verloren, weiterhin Musik zu machen. Die Kassette hat sich damit, genau wie die Schallplatte, nicht nur einen Platz im kollektiven Musikgedächtnis, sondern auch ihre Daseinsberechtigung in Gegenwart und Zukunft redlich verdient.