CRIME & THE CITY SOLUTION

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Der Fuchs und die Entscheidungsfindung

Da wartet man tagelang auf die Ansage, wann das Interview denn klappen kann, macht sich Gedanken über die zwölf Stunden Zeitverschiebung zwischen Australien und Deutschland – und stellt dann fest, dass das Gegenüber in Person von Simon Bonney, eine Legende des australischen Underground-Rock, einem via Zoom in Berlin gegenübersitzt. Was im Grunde nicht weiter überrascht, war Berlin nach Melbourne und London schon in den Achtzigern ein Hotspot für jene Clique, aus deren Kreis Nick Cave später zum Weltstar wurde. Anlass meines Gesprächs mit Bonney, Jahrgang 1961, ist das neue Album „The Killer“ seiner Band CRIME & THE CITY SOLUTION, eine jener Bandlegenden, deren Platten in den Achtzigern gleichberechtigt neben etwa THE BIRTHDAY PARTY, NICK CAVE & THE BAD SEEDS, BEASTS OF BOURBON, HOODOO GURUS oder THE CELIBATE RIFLES sowie EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN an der Stereoanlage lehnten.

Simon, du bist in Berlin?

Ja, ich bin seit etwas mehr als einem Jahr hier, etwa 14 Monate.

Kannst du dich noch an dein erstes Mal in Berlin erinnern, Anfang der Achtziger?
Mein erster Eindruck von Berlin ... Ich empfand es als sehr einladend. Es war einladender als in London. Und es schien da einen Platz für uns zu geben. Es fühlte sich an wie ein Zuhause. Die Berliner Bohemiens der Achtziger Jahre waren im Vergleich zu Australien bemerkenswert gut organisiert. Die Leute haben erfolgreich Geschäfte gemacht, in Berlin gab es eine Art Parallelwelt für unsereins, die sich angenehm anfühlte. Es war ein guter Ort, um Musik zu machen und zu leben.

Eine interessante Einschätzung. Heutzutage gilt Melbourne als die Musikhauptstadt Australien, und Menschen aus Europa, die vor Ort waren, erleben eine pulsierende, internationale Stadt mit einem reichen kulturellen Leben. Damals aber, so habe ich das gelesen und gehört, waren Städte wie Sydney – wo du teilweise aufgewachsen bist – und Melbourne aber noch ein ganzes Stück provinzieller. Hast du diesen Kontrast erlebt?
Nun, ich bin wahrscheinlich ein bisschen anders als einige meiner Landsleute. Mein Vater war Akademiker, wir verbrachten immer wieder mal Zeit in Oxford, ich lebte zwei Jahre lang dort. Wir sind dann durch ganz Europa gereist. Mein Stiefvater und seine Familie waren Künstler, während seiner Kindheit lebte er in Griechenland. Ich kam also aus einem ziemlich unkonventionellen Bohemien-Umfeld. Wahrscheinlich hatte ich also damals schon einen anderen Blickwinkel als Leute, die aus den Vororten von Melbourne oder Sydney kamen. Sydney war aber immer schon eine recht internationale Stadt. Melbourne war aber zutiefst provinziell, aber es hatte diesen wunderschönen Anflug einer Kunstszene, die sich um den Seaview Ballroom konzentrierte. Aber es war Außenseiterkunst, sehr viel Außenseiterkunst. Bei den ersten Konzerten waren es vielleicht zehn Leute. Und du kanntest neun von ihnen. Eines der besten Konzerte, das ich je gesehen habe, war das der YOUNG CHARLATANS, der Band von Rowland S. Howard und Ollie Olsen. Ganz besonders Ollie hat nie die ihm gebührende Anerkennung bekommen, was eine Tragödie ist. Die hatten wirklich unglaublich tolle Songs, sie waren einzigartig in Melbourne.

Wahrscheinlich ist es mit diesem Konzert wie mit vielen anderen: zehn Leute waren da, aber du wirst fünfzig Leute finden, die behaupten, dort gewesen zu sein.
Oh, ja. Die Leute wollen die Geschichte für sich beanspruchen. Ich erhebe keinen Anspruch auf die Musikgeschichte von Melbourne. Dieses „Ich war da und der war nicht da“, das ist die Schlacht von jemand anderem.

Auf dem Cover dieser Ox-Ausgabe sind CLOWNS, zudem haben wir PRIVATE FUNCTION interviewt, und generell hat Musik aus Australien derzeit einen guten Lauf. Aus europäischer Sicht neigen wir dazu – und sorry, es ist ein schreckliches Wort –, etwas „Exotisches“ darin zu sehen, eben weil diese Bands vom anderen Ende der Welt kommen, von hier aus gesehen. Und wir nehmen an ihnen etwas besonders Australisches wahr. Gibt es etwas „typisch Australisches“ an der Art, Musik zu machen, oder ist das deiner Meinung nach Blödsinn?
Ich glaube nicht, dass es Blödsinn ist. Aber was genau diese Qualität ausmacht, kann ich nicht in Worte fassen. Es gibt aber eine gemeinsame Erfahrung, die alle australischen Musiker haben. Wahrscheinlich sollte ich das aber wiederum einschränken, auf mich bezogen, denn Musik ist nicht alles in meinem Leben. Viele Leute sehen diese neue Platte als eine Art Comeback-Album oder so. Zumindest habe ich so was in der Art schon gehört. Das ist es aber nicht. Ich arbeite nur nach einer anderen Zeitrechnung als andere Menschen. Mir ist das klar geworden, als ich einige Kritiken zu unserer Platte gelesen habe und da andere Bands referenziert wurden. Und ich dachte, ja, klar, das ist normal, weil die Person, die das schreibt, ein Musikjournalist ist und in einer Musikjournalistenwelt lebt, in der er sehr sachkundig ist und ständig neue, aktuelle Musik hört. Aber ich habe keine Ahnung von dieser Welt. Wenn ich über meine Einflüsse nachdenke, dann stammen die meisten aus den Siebziger Jahren. Das liegt daran, dass ich in dieser Zeit aufgewachsen bin. Und es ist die Zeit, zu der ich immer wieder zurückkehre. Das war jetzt eine kleine Nebenbemerkung zu deiner Frage, und um sie zu beantworten, da kann ich nur aus meiner Perspektive sprechen, als jemand, der 62 Jahre alt ist. Als ich aufgewachsen bin, waren Flugreisen noch nicht so weit verbreitet wie heute. Wir hatten zwar Flugverbindungen nach London, aber in den Sechziger Jahren sind wir mit der Familie noch mit dem Schiff nach England gefahren und haben sechs Wochen dafür gebraucht. Es gab also in jenen Tagen dieses Gefühl von großer Entfernung zwischen unserem Wohnort und dem Rest der englischsprachigen Welt, mit Ausnahme Neuseelands. Wir sind in Australien aufgewachsen mit amerikanischen und englischen Fernsehserien, aber die spielten in Ländern, die wir nicht kannten. „CHiPs“, diese Serie über einen Motorradpolizisten aus Los Angeles, war für uns exotisch, weil wir gar nicht einordnen konnten, was wir da sahen. Wir sahen nur diese Straßenszenen und mussten selbst interpretieren, was und wie Amerika war. Dasselbe galt für die Musik. Ich hörte Lou Reed und THE VELVET UNDERGROUND und es blieb mir überlassen, zu interpretieren, was ich da hörte und eine Art von Verständnis für die Welt von Lou Reed zu entwickeln, ohne sie aus erster Hand zu kennen. Raum und Distanz waren, zumindest in den Siebziger Jahren, ein großes Thema in der australischen Musik.

So gesehen war unser Blick auf die Welt von Deutschland aus nicht so anders. Auch wir sahen in den Siebzigern und Achtzigern diese amerikanischen Fernsehserien, aber nicht mal in der Originalsprache. Diese Welt, die wir da sahen, war ja völlig aus dem Zusammenhang gerissen, vieles konnten wir nicht in einen Kontext setzen.
Ich denke, das war einer der Gründe, warum es eine Verbindung zwischen Wim Wenders und der australischen Szene gab. Er erwähnte mehrfach, dass er mit der amerikanischen Kultur aufwuchs, die zu dieser Zeit nach Deutschland importiert wurde. Und er sagte, dass es diese Distanz gab, dass du dein Bild von Amerika durch deine eigene Linse und deine eigene Erfahrung rekonstruieren musstest. Als ich in den Achtziger Jahren nach Japan ging, waren die dort besessen von Rockabilly. Es gab diese Rockabilly-Partys in Shinjuku und die ganzen Leute, die da feierten, viele von denen waren noch nie in Amerika gewesen. Es war einfach so, dass sie diese amerikanische Geschichte für ihre eigenen Zwecke interpretierten und sie in gewisser Weise umfunktionierten. Es ist immer interessant, wie die Menschen eine bestimmte Kultur durch ihre eigenen Erfahrungen neu interpretieren.

Das wiederum ist eine interessante kreative Leistung – inklusive dieses Verfremdungseffekts, der sich da oft ergibt.
Ja, und je nachdem, welchen Standpunkt du einnimmst, hängt davon ab, wie du etwas interpretierst. Und du kennst ja das alte Sprichwort: „Wer nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“ Es ist also sehr schwer, objektiv zu sein und sich in Kunst hineinzuversetzen, ohne Berücksichtigung der Art und Weise, wie du dein Weltbild konstruierst. Das Beste, was du tun kannst, ist, das anzuerkennen und es zu hinterfragen. Wie akkurat ist diese Darstellung? Ist mein Verständnis der Welt einfach nur subjektiv? Geht das nur mir so, weil ja jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht hat? Die Art und Weise, wie man sich die Welt konstruiert, wird für mich auf ewig ein spannendes Interessengebiet sein.

Wenn man sich mal etwas durch dein musikalisches Umfeld der letzten viereinhalb Jahrzehnte klickt, stellt man fest, dass man da auf die gleichen vielleicht zwanzig, dreißig, vierzig Namen stößt, die man kennt, wenn man sich mal mit all den legendären australischen Bands aus der Zeit Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger beschäftigt hat. Es ist also eigentlich ein sehr kleines Netzwerk. War es wirklich nur so klein und ist aus irgendeinem Grund so einflussreich geworden?
Ja, es war so klein. Manchmal waren zehn Leuten zufällig alle zusammen in einem Raum und daraus entwickelte sich dann etwas. In diesem Raum fanden wir Kameradschaft und Unterstützung und es gab einige einflussreiche Persönlichkeiten wie Mick Harvey. Mick ist verantwortlich dafür, dass eine Menge Bands überhaupt ihre Musik aufgenommen haben, die das sonst nicht getan hätten, weil er schon damals diese einzigartige Kombination aus logistischen Fähigkeiten und großem musikalischen Talent besaß, was eine Seltenheit ist, weil die meisten Musiker ziemlich chaotisch sind.

Wenn ich zurückblicke, bin ich bisweilen erstaunt, was für seltsame Musik ich mit 15, 16 relativ selbstverständlich und begeistert gehört habe. Warum hörte ich parallel zu DEAD KENNEDYS und BLACK FLAG auch Klaus Nomi und Nick Cave? Für uns war das offensichtlich alles irgendwie Punk. Wir erkannten intuitiv, dass das alles miteinander verbunden und zur selben Welt gehörte.
Ich war schon immer der Meinung, dass man, um Punk zu verstehen, die CBGB’s-Szene verstehen muss. Auch wenn die SEX PISTOLS und THE CLASH und die anderen englischen Bands die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zogen, waren diese Bands rund ums CBGB’s ganz anders. Es gab eine ganze Reihe von neugierigen, experimentierfreudigen Leuten und Bands wie Patti Smith, TALKING HEADS, BLONDIE, RAMONES, RICHARD HELL & THE VOIDOIDS, TELEVISION, Lydia Lunch, FOETUS, Mink Deville ... Ich kann mir keine Bands vorstellen, die sich musikalisch weniger ähnlich sind, aber gleichzeitig einen gemeinsamen Ansatz haben. Kürzlich habe ich in einer Dokumentation über die Geschichte der Rap-Musik gesehen, wie damals Afrika Bambaataa in die Punkrock-Clubs kam, weil er dort willkommen war, weil er mit der dominierenden Disco-Musik konkurrierte. Die Punks haben schon sehr früh Rap gehört und verstanden. Und ich glaube, dass auch die Rapper schon sehr früh den Punk für sich entdeckt haben. Punk hat für mich sehr viel mit New York zu tun. Die Leute da kamen aus den verschiedensten Teilen der Welt. Punk in New York, das war Punk ohne die Modeelemente. Es gab zwar den Mode-Aspekt, aber die Musik war der Kern der Sache. Damit will ich Punk aus UK gar nicht die Bedeutung absprechen, ich liebe „Anarchy in the UK“, aber dieses breites Spektrum an Musik, das war in New York einzigartig.

Und wie passt deine Band in all das hinein?
Ich und ein Freund von mir fingen an, solche Platten zu hören wie „Heroes“ von David Bowie oder „Marquee Moon“ von TELEVISION. Wir waren einfach Außenseiter, die Musik machten, ohne Erwartungen, vor irgendjemandem zu spielen. Unser Punkrock war ohne irgendwelche Regeln, es war „do it yourself“. Durch Nick Caves Erfolg hat die Musikszene von Melbourne am meisten Aufmerksamkeit bekommen, aber es gab da eine ganze Szene von Künstlern und Filmemachern, darunter einige, die später sehr erfolgreich wurden, etwa John Hillcoat. Es fühlte sich für uns damals fast an wie die Stunde null, verstehst du? Ich glaube, mit der französischen Nouvelle Vague im Film der späten Fünfziger und Sechziger war das ähnlich ...

Inwiefern? Was gab es da für eine dem Punk entsprechende Initialzündung?
Die Filmszene wurde quasi befreit, als die 16-Millimeter-Kamera aufkam. Man brauchte im Vergleich zum 35-Millimeter-Format nicht mehr so viel Licht und Ausrüstung, um zu drehen. Der 16-Millimeter-Film ermöglichte es Low-Budget-Guerilla-Filme mit der Hand zu drehen, und das war die technische Grundlage für diese neue französische Filmbewegung. Und dann gab es ja diese Verbindung zwischen Punk und VELVET UNDERGROUND und wiederum die zwischen den Velvets und Andy Warhol und der bildenden Kunst. Es gab also diesen gemeinsamen Ansatz des kreativen Selbermachens.

Ihr als Band seid mit CRIME & THE CITY SOLUTION weit gekommen seit den ersten Gehversuchen Ende der Siebziger. Euer neues Album „The Killer“ ist insgesamt ein leises Album – wie passt das in diesen erweiterten Punk-Kontext?
Ich erinnere mich an die ersten beiden Versionen von CRIME & THE CITY SOLUTION. Es gibt irgendwo noch ein paar Aufnahmen aus dieser Zeit. Damals in Sydney gab es einerseits diese Bands, die von RADIO BIRDMAN und THE STOOGES beeinflusst waren. Und dann gab es die, die vom Garage-Rock der Sechziger Jahre beeinflusst waren. Und die Leute, die genau verfolgten, was sich in der britischen Punk-Szene tat, was uns nie wirklich interessierte. Und wir waren sehr weit von all dem entfernt. Ich glaube, die einzige Band dort, mit der wir wirklich Kontakt hatten, waren die THOUGHT CRIMINALS. Eine Band, bei der sich alles um George Orwells „1984“ drehte. Irgendwann kamen dann Rowland und Ollie nach Sydney, um mit Jeff Wagner als Schlagzeuger zu arbeiten, und so kamen wir in Kontakt mit der Szene in Melbourne. Das war dort eine sehr intellektuelle Szene, es ging auch viel um Film – die französische Nouvelle Vague. Es war eine sehr breit aufgestellte Kunstszene und Subkultur. Und wie passten wir da rein? Nun, es ging ja gar nicht darum, irgendwo reinzupassen. Es war sogar besser, wenn du nirgendwo reingepasst hast.

Mal ganz direkt gefragt: Woher kommt die Musik auf dem neuen Album?
Auf dieser Platte sind BLACK SABBATH ein großer Einfluss. Und PARLIAMENT und FUNKADELIC. Und Curtis Mayfield. Und ich mag das von Damon Albarn produzierte Album „The Bravest Man In The Universe“ von Bobby Womack. Das war wirklich ein wunderbares Projekt. Ich mag es, wenn Künstler, die man normalerweise nicht miteinander in Verbindung bringen würde, zusammenkommen und sich gegenseitig befruchten.

Wie lenkst du als Sänger die musikalische Richtung einer Band? Du bist derjenige, der von Anfang an dabei ist und damit die einzige Konstante.
Ich bin die Konstante, aber jedes Mitglied der Band war wichtig für den Sound des jeweiligen Line-ups. Eigentlich gäbe es gute Argumente dafür, jedem neuen Line-up einen anderen Bandnamen zu geben. Vielleicht bin ich nur zu faul dafür, aber eigentlich würde das Sinn ergeben. Mein Beitrag zum Gesamtsound ist nur konzeptionell. Wenn ich mit Alex zusammengearbeitet habe, saßen wir zusammen in einem Raum und haben versucht, Musik und Worte in Gleichgewicht zu bringen, damit waren wir ziemlich erfolgreich. Mit Mick Harvey arbeitete ich ähnlich, es gab sehr rudimentäre Ideen und er verwandelte sie in einen Song. Mit den Texten und der Musik ist das immer so ein Hin und Her. Die Musik beeinflusst die Worte, die Worte beeinflussen die Musik. Ich arbeite gerade an einem Textbuch, deshalb habe ich mir ein paar alte Songs vom CRIME & THE CITY SOLUTION-Album „Shine“ von 1988 angehört. Keiner dieser Songs wäre so geworden ohne jede einzelne Person, die daran beteiligt war. Und so soll es ja auch sein. Es ist also nicht so, dass ich mich als Anführer der Band sehe, auch wenn ich das einzige ständige Mitglied bin.

Im Wikipedia-Eintrag zu dir steht: „Simon Philip Bonney, Beruf: Singer-Songwriter“ Das ist etwas eindimensional, denn es gibt bei dir auch ein Leben, eine Karriere außerhalb der Musik. Ich schätze, es gibt Leute aus deinem beruflichen Kontext, die überrascht sind, dass diese Seite von dir gibt, die unter der Überschrift CRIME & THE CITY SOLUTION steht.
Das Lustigste, was mir im Zusammenhang mit meinen verschiedenen Karrieren je passiert ist, war eine Begegnung in Bangladesch. Die Übersetzerin dort erkannte meinen Namen, weil ihr Bruder – er war, glaube ich, Astrophysiker – zufällig ein Fan meiner Musik war. Ich fand mich also in der äußerst ungewöhnlichen Lage, für die Leute zu singen, bei denen ich gerade eine Studiensitzung mit Regierungsbeamten leitete. Aber so ist das, dass das eine immer das andere beeinflusst. Außerdem ist ziemlich einfach zu erkennen, wofür ich mich interessiere. Du musst dir nur den Text von „The Last Dictator“ ansehen. Ich komme aus einem politischen Umfeld, wobei ich „politisch“ eher unkonkret meine. Ich interessiere mich für die Art und Weise, wie die Menschen auf der Welt miteinander umgehen, und analysiere das.

Ich habe gelesen, dass du während der Pandemie endlich die Zeit gefunden hast, an deiner Doktorarbeit zu arbeiten. Kannst du mir mehr über diese andere Welt erzählen?
Wo ich gelandet bin, das war reiner Zufall, wie bei den meisten interessanten Dingen. Ich habe einst an der Universität einen Master in Journalismus gemacht. Ich habe nie wirklich als Journalist gearbeitet, aber ich bekam einen Job im öffentlichen Dienst im Bereich der Kontrolle von Regierungshandeln. Das führte mich ins Northern Territory, in abgelegene indigene Gemeinden – diese Erfahrungen sind auch in die neue Platte eingeflossen. Und dann bekam ich den Job, in dessen Rahmen ich Antikorruptionsprogramme durchgeführt habe, etwa in Papua-Neuguinea und auf den Marshallinseln. Dann habe ich für ein Projekt in Indonesien gearbeitet und zuletzt habe ich in Bangladesch ein Social-Media-Projekt im Rahmen einer Outreach-Maßnahme durchgeführt. Alle diese Erfahrungen haben sich irgendwie im neuen Album niedergeschlagen. Ich habe mich schon immer mehr für Prozesse und Abläufe an sich interessiert, weniger dafür, ob die Schlussfolgerungen daraus richtig oder falsch sind, sondern eher, wie die Leute zu ihren Schlussfolgerungen kommen.

Und dazu hast du auch deinem Ph.D. gemacht so relativ spät im Leben?
Ja, nun, spät in meinem Leben war es, aber es war ein zehn Jahre lang andauernder Albtraum zu versuchen zu promovieren. Ich wusste lange nicht, ob ich damit jemals Erfolg haben werde. In meiner Arbeit ging es um Decision Making. Es ging darum, wie Menschen Entscheidungen treffen, wie sie zu Entscheidungen kommen und darum, verschiedene Methoden anzuwenden, um herauszufinden, wie Menschen zu bestimmten Entscheidungen kommen. Und dann ging es in meiner Arbeit ganz konkret um die amerikanische Entscheidungsfindung in Afghanistan von Ende der Siebziger bis Ende der Achtziger Jahre. Der Schwerpunkt lag auf der letzten Periode.

Was hat dich dazu bewogen, dieses Thema zu wählen?
Das Thema selbst war mir nicht so wichtig. Es war letztlich eine Fallstudie, die es mir ermöglichte, zu untersuchen, wie Menschen in einer Bürokratie zu Entscheidungen kommen. Ich interessiere mich für bürokratische Entscheidungsfindung. Als ich bei dieser Aufsichtsbehörde in Australien gearbeitet habe, haben wir uns nur mit diesen Dingen beschäftigt. Wir haben uns Missstände im Regierungshandeln angesehen. Wir haben also betrachtet, wie Menschen zu bestimmten Entscheidungen kommen, auf welche Informationen sie sich gestützt haben. Wir betrachteten die Dynamik der Gruppe, die die Entscheidung trifft, die Auswirkungen von Voreingenommenheit oder die Informationen, mit denen sie arbeiten müssen, ob sie nun vollständig oder unvollständig sind. Wir untersuchen, wie Entscheidungsfindung funktioniert, und suchen nach Wegen, wie die Entscheidungsfindung besser verstanden werden kann und wie man Mechanismen entwickeln kann, die die Entscheidungsfindung verbessern können. Der Wunsch, die Entscheidungsfindung zu verbessern, ist in der Regel das Resultat davon, dass ein Fehler gemacht wurde, dass eine Entscheidung getroffen wurde, die zu einer unbeabsichtigten Folge geführt hat. Da wird dann Reverse Engineering betrieben, um zu sehen, was im Entscheidungsprozess besser gemacht werden kann. Es ist aber so, dass eine Entscheidung immer nur auf der Grundlage der verfügbaren Informationen getroffen werden kann. Letztlich geht es nur darum, die Entscheidungsfindung zu verbessern.

Deine Einschätzung: Wird künstliche Intelligenz die Entscheidungsfindung in einem politischen und staatlichen Kontext erleichtern? Kann KI helfen, bessere Entscheidungen zu treffen?
Eine Sache, an die ich sehr glaube, ist das Anerkennen der Grenzen des eigenen Wissens. Und ich gebe zu, dass ich nichts über künstliche Intelligenz weiß und auch nicht, wie sie funktionieren wird. Das ist also kein Thema, wozu ich einen vernünftigen Kommentar abgeben könnte.

Analysierst du nur Entscheidungsfindungsprozesse oder berätst du auch Menschen, die dich fragen: „Was können wir tun, um bessere Entscheidungen zu treffen?“
Ich berate Leute, wie sie Projekte durchführen können. Und zusammen mit Kollegen nehme ich solche Projekte auseinander und helfe so, sie zu realisieren. Ich habe den Durchführenden geholfen, sich bewusst zu machen, wo sie vielleicht umdenken sollten oder wo es Risiken gibt, die sie nicht in Betracht ziehen, oder ob das Ergebnis, das sie anstreben, so am besten umgesetzt werden kann. Wir helfen den Leuten, Fragen zu stellen, und es ist nicht unsere Aufgabe, ihnen zu sagen, was das richtige Ergebnis für sie ist. Es ist nur unsere Aufgabe, ihnen zu helfen, dieses Ergebnis zu erreichen. Wir liefern als Außenstehende einen Blick von außen. Weißt du, es ist einsam im eigenen Kopf, das kennt doch jeder von uns. Ich habe in meinem Leben immer von Bronwen, meiner Frau, profitiert. Und ohne sie hätte ich viel mehr schlechte Entscheidungen getroffen. Und ich habe auch so schon eine Menge schlechter Entscheidungen getroffen. Wenn ich an dieser Stelle eine umfassendere Aussage auf höherer Ebene machen darf: Es gab einen Punkt, ab dem sich die Bildung in eine sehr berufsorientierte Richtung entwickelte. Es ging also darum, den Jugendlichen beizubringen, wie sie bestimmte Jobs machen können. Und dann waren sie bereit für den Job, wenn sie die Schule abgeschlossen hatten. Ich bin aber von der alten Schule und glaube an eine Bildung, die den Menschen hilft zu denken. Die ihnen hilft, die Nachrichten zu entschlüsseln, und sie mit dem nötigen Rüstzeug versieht, das sie zu informierten Bürgern macht. Und so ist es auch mit meinem beruflichen Feld der Entscheidungsfindung: Es ist einfach hilfreich, wenn jemand von außen kommt, der kein Fachwissen über das Thema hat, in dem du arbeitest, aber einige Zeit damit verbracht hat, über die Art und Weise nachzudenken, wie Menschen Entscheidungen treffen. Es geht darum, den Vorteil zu erkennen, bei jedem Schritt im Entscheidungsprozess deine eigenen Annahmen zu hinterfragen.

Hast du ein konkretes Beispiel?
Etwas, mit dem ich mich im Laufe der Jahre beschäftigt habe, ist die Ursachenanalyse, wenn etwas suboptimal gelaufen ist. Und dabei stellte sich heraus, es gab oft schon sehr früh eine Annahme, die sich dann als falsch herausgestellt hat. Es wurde aber alles auf dieser Annahme aufgebaut und diese zugrunde liegende Annahme nie in Frage gestellt. Und das hat diesem Projekt unendlich viel Schaden zugefügt, langfristig gesehen. Deshalb sagen wir: Lasst uns zurückgehen zum Anfang. Natürlich kannst du nicht jede einzelne Annahme neu analysieren. Du kannst nicht jeden einzelnen Aspekt infrage stellen. Es gibt manchen Annahmen, die du einfach machen musst, weil du ein Mensch bist und nur eine begrenzte Zeit hast, um dein Ding durchzuziehen. Aber jedes Mehr an Hinterfragen, jeder Versuch, eine Außensicht zu bekommen, hilft. Und es ist wichtig, mit den Leuten so umzugehen, dass sie dieses Hinterfragen akzeptieren, dass sie es nicht als Infragestellen ihrer Sichtweise ansehen. Es ist vielmehr ein gemeinschaftlicher Prozess, der, um zu helfen, nicht konfrontativ laufen sollte, sondern assistierend. Und dann treffen die Leute die Entscheidungen, die sie treffen wollen. Und klar, ich leiste diese Arbeit gegen Bezahlung, und da ist es sehr wichtig zu erkennen, was deine Rolle ist und was nicht und Projekte loslassen zu können, was mir ziemlich leicht fällt.

Du hattest vorhin erwähnt, dass einige deiner beruflichen Erfahrungen in deine Musik eingeflossen sind. Inwiefern?
Wenn ich sage, dass ich für Geld arbeite, dann hat das den einfachen Grund, dass man irgendwo wohnen muss, was essen muss. Aber die Arbeit in der Korruptionsbekämpfung kann sehr frustrierend sein. Es gibt viele kaputte Anti-Korruptionsermittler da draußen. Um in diesem Kontext zu überleben, musst du akzeptieren, dass es nicht diesen einen Tag geben wird, an dem du morgens aufwachst und alles in Ordnung ist. Es geht also immer um kleine Siege und Niederlagen. Ich wollte lange Zeit nur an diese eine Sache glauben. Könnte ich diese eine Sache finden, an die ich wirklich glaube? Und die würde dann den Rest meines Lebens bestimmen? Ich bin zur Erkenntnis gelangt, dass ich diese eine Sache im Leben nie finden werde. Und deshalb geht es auf diesem Album um den Wunsch, diese eine Sache zu finden, sowie um die Erkenntnis, dass man diese nicht finden kann. Und es geht um das Chaos, das darauf folgt, und schlussendlich um die Akzeptanz von Unsicherheit und Veränderung. Es ist eine Art Befreiung zu akzeptieren, dass es nicht das eine große Ding gibt, das alle Fragen beantwortet. Für manche Menschen gibt es das, das ist großartig und schön für sie, aber ich selbst habe das nicht erlebt bislang. Der Philosoph Isaiah Berlin hat dazu diesen Satz von Fuchs und Igel aufgegriffen, der vom antiken griechischen Lyrikers Archilochos überliefert ist: „Der Fuchs weiß viele verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große.“ Es wird seit Ewigkeiten darüber gestritten, was das eigentlich bedeutet. Isaiah Berlin sagte, dass der Igel eine große Sache weiß. Und das gibt ihm eine Menge Gewissheit. Der Fuchs hingegen weiß eine Menge kleiner Dinge und ist so viel anpassungsfähiger. Ich denke, du brauchst beides. Aber es ist gut zu wissen, welcher Typ von Mensch du bist. Für mich gibt es keinen Zweifel, dass ich der Fuchs bin. Das heißt also, dass mein Leben ungewiss ist. Es wird mich in viele verschiedene Richtungen führen. Und wenn ich im Leben Frieden finden will, muss ich das akzeptieren. Das ist sozusagen meine Lebenslektion. Für alle Füchse da draußen bietet diese Platte also einen Hoffnungsschimmer.

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Timeline
1977
Sänger Simon Bonney gründet die Band in Sydney mit Don McLennan an den Drums, Harry Zantey an der Gitarre, Phil Kitchener am Bass und Dave MacKinnon am Saxofon.

1978 Simon Bonney und Don McLennan ziehen nach Melbourne und gründen die Band neu, mit Dan Wallace-Crabbe an der Gitarre, Lindsay O’Meara am Bass, Chirs Astley am Keyboard und Kim Beissel am Saxofon.

1979 Die Band löst sich nach einigen Live-Auftritten und einem unveröffentlichten Demo auf.

1983 Bonney zieht nach London.

1985 Abermals gründet Bonney die Band neu. Jetzt mit Mick Harvey an den Drums, Rowland S. Howard an der Gitarre und seinem jüngeren Bruder Harry Howard am Bass. Im Juni veröffentlichen sie ihre erste EP „The Dangling Man“ auf Mute Records. Im September folgt „Just South Of Heaven“. Als Schlagzeuger Epic Soundtracks (von SWELL MAPS) der Band beitritt, übernimmt Mick Gitarre und Keyboard.

1986 Mit diesem Line-up nimmt die Band ihr Debüt „Room Of Lights“ in West-Berlin auf, das im Oktober bei Mute Records veröffentlicht wird. Die Howard -Brüder und Epic Soundtracks verlassen die Band, um sich ihrem eigenen Projekt THESE IMMORTAL SOULS zu widmen.

1987 Das Line-up um Simon Bonney verändert sich erneut, mit Mick Harvey wieder an den Drums, Bronwyn Adams an der Geige, Alexander Hacke übernimmt die Gitarre, Chrislo Haas spielt Synthesizer und Thomas Stern Bass.

1988 Im April kommt mit „Shine“ das zweite Album der Band heraus, erneut bei Mute Records. Es gilt vielen als ihr bestes.

1989 Im April folgt das dritte Album „The Bride Ship“, für das Mick Harvey viel an der Orgel einspielt und Simon Bonney Einflüsse von Country & Western in seinen Gesangsstil einfließen lässt.

1990 Das vierte Album „Paradise Discotheque“ wird von Chrislo Haas produziert und erscheint im September.

1991 Die Band löst sich Ende des Jahres auf und Bonney zieht nach L.A., wo er im Laufe der Jahre zwei Soloalben aufnimmt, „Forever“ (1992) und „Everyman“ (1994).

2011 Mittlerweile in Detroit ansässig, verkündet Bonney, dass er die Band für ein neues Album reaktivieren will.

2013 Das fünfte Album „American Twilight“ entsteht mit neuem Line-up: Simon Bonney als Sänger, seine Ehefrau Bronwyn Adams an der Geige und Alexander Hacke an der Gitarre kehren wieder zurück, an der zweiten Gitarre kommt David Eugene Edwards dazu, Troy Gregory ist am Bass, Keyboard/Synthesizer spielt Matthew Smith und die Drums übernimmt Jim White.

2022 Nun wieder in Berlin, kehrt Simon Bonney nach längerer Pause erneut mit einem neuen Line-up zurück: Bronwyn Adams an der Geige, Chris Hughes an den Drums, Georgio Valentino am Synthesizer und der Gitarre, Baron Anastis am Bass und Donald Baldie an Gitarre und Piano. Die Band beginnt mit den Aufnahmen für ein neues Album, das Martin J. Fiedler produziert.

2023 Das neue Album „The Killer“ erscheint am 20. Oktober 2023 und die Band tourt durch Europa/UK.

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Diskografie
„The Dangling Man E.P.“ (12“, Mute, 1985) • „Just South Of Heaven“ (LP, Mute, 1985) • „The Kentucky Click / Adventure“ (12“, Mute, 1986) • „Room Of Lights“ (LP/CD, Mute, 1986) • „Rarities“ (MC, Self-Released, 1986) • „Shine“ (LP/CD, Mute, 1988) • „On Every Train (Grain Will Bear Grain)“ (12“, Mute, 1988) • „The Shadow Of No Man“ (12“, Mute, 1989) • „The Bride Ship“ (LP/CD, Mute, 1989) • „I Have The Gun“ (12“/CD, Mute, 1990) • „Paradise Discotheque“ (LP/CD, Mute, 1990) • „The Dolphins And The Sharks“ (10“/CD, Mute, 1991) • „The Adversary – Live“ (LP/CD, Mute, 1993) • „A History Of Crime (Berlin 1987-1991)“ (CD, Mute, 2012) • „American Twilight“ (LP/CD, Mute, 2013) • „The Killer“ (LP/CD, Mute, 20. Oktober 2023)