Seit 1988 gibt es in Berlin-Kreuzberg den Plattenladen Coretex, der sich über Jahre auch zum Label weiterentwickelt hat und mit seinem heutigen Standort in der Oranienstraße vielmehr ist als nur eine Einkaufsquelle für die aktuellsten LPs und CDs, sondern auch so eine Art Szenetreffpunkt. Anlässlich des 20. Geburtstages beantwortenen Ex-Chefin Annette und Jetzt-Chef Udo ein paar Fragen zum Laden an sich, zur heutigen Situation von Plattenläden und zu Kreuzberg mit und ohne Mauer.
Erzählt doch mal, wie das damals alles losging: Wer wann was wo warum?
Udo: Also, das ist eine Frage, die ich nur schwer beantworten kann, jedenfalls, was CoreTex betrifft. Für mich ging es 1993 im Hinterraum eines Skateboardladens los, der hieß Funsports, sehr originell, nicht wahr? Also war nahe liegend, den Plattenladen Funrecords zu nennen. Ich hatte zuvor eine Autogarage, wo ich für Bekannte und Freunde deren alte Kisten TÜV-fertig machte und reparierte. Ich hatte auch in einem Harley-Laden gearbeitet, aber die Schnauze voll vom Schrauben. Also kam die Überlegung: Auf was haste Lust, was sind deine Interessen? Da stand schon immer Punk- und Hardcore-Musik im Mittelpunkt, also ein Plattenladen? Okay, ich fing, an mir Geld zu leihen, Sachen zu verkaufen, und bekam eine Menge Kommisachen von meinem damaligen Freund Micha gestellt, der hatte in den 80ern ein Fanzine und einen Mailorder. Micha half mir auch bei dem ersten Umzug in die Mittenwalder Straße ungemein, bei der Mission: Kellerloch zu Laden machen. Das war Ende 1993. 1994 kam dann Andy dazu, der hing eh jeden Tag stundenlang im Laden rum, also wurde er mein Partner. Wir hatten sehr guten Kontakt zu Mike und Dennis in Kalifornien, die derzeit New Age und Conversion Records machten, also übernahmen wir den Europart für sie. Das waren unsere ersten Erfahrungen mit Labelarbeit. Dann kam 1996 die Idee, sich mit CoreTex zusammen zu tun. Wir waren alle in Kreuzberg ansässig, hatten teils ähnlichen Background und Freunde und dachten, zusammen können wir mehr bewegen als nebeneinander. Also folgte im Oktober 1996 der Zusammenschluss, mit der Ladenadresse, wie sie heute noch existiert. Ich wurde Hauptmieter des Ladengeschäfts, was doch eine gewisse Kuriosität ist, hatte ich doch 1981 noch eine Anzeige wegen Landfriedensbruchs bekommen in den selben Räumen des damals besetzten Hauses. Auch gehörte David beim Zusammenschluss dazu. Er hatte bei M.A.D. Tourbooking gearbeitet und startete die Labels Mad Mob Records und Bad Dog Records. Auch David kam mit ins Boot, war die Idee doch, die gesamte Szene zu repräsentieren. Zu den 88er Anfängen des CoreTex kann ich recht wenig sagen, ich weiß, Annette startete in der Adalbertstraße in einem kleinen Laden ...
Annette: Das CoreTex wurde am 8. Februar 1988 in der Adalbertstraße 89 in Berlin Kreuzberg eröffnet. Gründungsmitglieder waren Stoffel, Maretta, Toddel und ich. Es war ähnlich wie Udo sagt, auch wir haben unser Hobby zum Beruf gemacht. Endlich hielt man alle die Originalscheiben von Musikern/Bands in der Hand, von denen man vorher nur selbstaufgenommene Kassetten hatte - damals das gängigste Mittel, um Musik zu verbreiten ... Im Sommer 1988 gab es einen Wechsel: Toddel verließ die Crew und Olaf, der vorher im Wedding im Moondance, eher ein Metal-Laden, gearbeitet hatte, stieß zu uns. In dieser Besetzung arbeiteten wir einige Jahre zusammen. Der Laden in der Adalbertstraße war auf Dauer viel zu klein, und als wir das Angebot bekamen, ein Geschäft in der Oranienstraße 3, einem ehemaligen besetzen Haus, anzumieten, zogen wir 1991 in die jetzigen Geschäftsräume um. Im Laufe der nächsten Jahre verließen erst Olaf, später dann Maretta das Team. Franco, der früher Konzerte im Ex veranstaltet hatte und dann bei M.A.D. arbeitete, bereicherte hingegen unsere Crew. Janni, Ilja, Jaqueline, Karin, Benny, Mocca und Thom waren nur einige unserer Mitarbeiter. Die letzten beiden kümmerten sich hauptsächlich um das Mailorder-Geschäft, welches wir damals im kleineren Stil auch schon betrieben. CoreTex war ja zu Beginn ein Plattenladen, später kamen das Label und der Mailorder dazu.
Was waren die ersten Releases, wie ging es weiter?
Udo: Da der Laden Funrecords ziemlich abgelegen in der Mittenwalder Straße gewesen war, wir trotzdem sehr viel Kundschaft auch aus dem Umland hatten, die extra anreisten, entstand die Überlegung, den Leuten doch die Platten zu schicken. Der erste Katalog wurde noch fotokopiert und alles mit der Schere ausgeschnitten. Computertechnisch war ein 386er das Höchste der Gefühle, der Katalog wurde mit der Hand zusammengebastelt, da steckte sehr viel Herzblut drin. Die ersten Releases, um die wir uns als Euro-Network Sound und Conversion kümmerten, waren von IGNITE, TEMPERANCE und GATHERING GROUND. Bei David war der erste Release ein Berlin-Hardcore-Sampler namens „We’ll Never Be Tamed“ - gerade haben wir als Cheapo einen zweiten Teil mit dem Namen „Berlin Hardcore Volume 2“ veröffentlicht, unter anderem mit ANTICOPS, ALITHIA, FINAL PRAYER, WAR FROM A HARLOTS MOUTH, MAKE IT COUNT und MÖNSTER. Die Idee von Mob Mob war, den europäischen Bands eine Plattform zu geben. Zu jener Zeit schaute alles nur nach Amerka, Bands von diesseits des Atlantiks hatten kaum die Chance, ihre Sachen über Labels mit Vertriebsmöglichkeiten zu veröffentlichen. Es gab zwar noch Lost & Found, We Bite und X Mist, die teils Euro-Bands eine Chance gaben, aber das war es auch schon. Kurze Zeit später gründete David noch in Anlehnung an Mob Mob Records das Label Bad Dog Records, anfänglich um der Band TROOPERS die Chance ihrer ersten Veröffentlichung zu geben. Dieses Label entwickelte sich dann aber am rasantesten. Es kamen im Laufe der Zeit Veröffentlichungen von Bands wie BIERPATRIOTEN oder VERLORENE JUNGS hinzu, dann noch Lizenzen für DOA, BONECRUSHER oder THE FORGOTTEN und auch KINGS OF NUTHIN’. 1997 kam noch unser drittes Label hinzu namens Grapes Of Wrath, für Übersee-Bands. Der erste Release hier war die erste CD einer Band namens HATEBREED. Aktuelle Releases auf Bad Dog sind von SHAM 69 und OHL, und Bad Dog ist natürlich nach wie vor die Heimat von TROOPERS. Das nächste Release wird von THE BUSINESS sein.
Ihr seid seit einer halben Ewigkeit in Kreuzberg ansässig, in 36. Wie wichtig ist für den Laden die Umgebung, wie hat die euch geprägt, wie habt ihr die geprägt?
Udo: Es ist wirklich schwer zu sagen, welchen Einfluss man selber auf eine Szene hat. Aber das ganze Umfeld, der Bekanntenkreis, den wir vom CoreTex immer hatten, war immer sehr eng verbunden mit maßgeblichen Machern der Szene, ob es nun die Leute von der Bookingagentur M.A.D. sind oder politisch aktive Kreuzberger. Wir alle waren und sind immer sehr stark in unserem Kiez verwurzelt gewesen, und natürlich auch dementsprechend in der Punk- und Hardcore-Szene. SO 36 ist einfach unser Zuhause.
Wie hat sich das Team über die Jahre verändert, was ist aus den alten CoreTexlern geworden, wer ist heute dabei?
Annette: Stoffel betreibt das Watergate, einen Tanzclub, vorwiegend mit House- und Techno-Musik. Ich machte eine Umschulung zur Fremdsprachensekretärin und arbeite nun im A&O Hostel, gehe ab und zu noch auf Punk- und Hardcore-Konzerte. Olaf war lange Zeit in Wien als Booker beim Veranstaltungsort Arena beschäftigt. Maretta hat nach einigen Jahren Erziehungspause auch im Watergate gearbeitet.
Udo: Ich hab mal durchgezählt, wie viele Leute schon im CoreTex über die Jahre gearbeitet haben. Ich kam auf circa 30 Leute, von denen ich weiß, was sie zur Zeit machen ... Franco hat heute eine Securityfirma namens Shelter. Ilja arbeitet bei Adidas. Micha ist Schriftsteller. Basti arbeitet in Kneipen und in einer Galerie in der Oranienstraße. Die derzeitige Besetzung ist: Andy, David, Udo, Tom, Thomas, Daniel, Anne, Andreas, Eddy und Sandra.
Wie hat sich die Berliner Punk- und Hardcore-Szene über die Jahre verändert? 1988 stand ja die Mauer auch noch ...
Annette: Die Szene war relativ überschaubar, man kannte sich. In den ersten Jahren waren Ami-Hardcore, aber auch italienischer und baskischer Punk total angesagt. Es gab auch den so genannten Alternativtourismus, wobei ausländische Punks extra nach Berlin zu uns ins CoreTex kamen, um sich mit „Stoff“ zu versorgen. Später, als die Mauer fiel, kamen viele Punks aus dem Osten, die tierisch Nachholbedarf hatten und alles, aber auch alles an Punkrock in sich einsaugten. Das war schon geil, so eine Begeisterung. Sowieso, Maretta und ich waren zeitweise sowas wie die Punkrock-Prinzessinnen. Dreiviertel unserer Kunden waren einfach Männer, wenn Frauen kamen, hab ich mich voll gefreut, das war echt was Besonderes.
Udo: Wie Annette schon sagte, man kannte sich. Bis zum Mauerfall war West-Berlin eine Insel. Die Anzahl der Clubs war begrenzt, ob nun Punk, Ted oder Hardcoreler, man ging auf die gleichen Shows, man besuchte die gleichen Läden und Clubs. Im Laufe der Jahre verschwanden immer mehr der „alten“ Leute, Jüngere kamen nach, einige blieben. Die Szene änderte sich ...
Und wie siehst du die Veränderung der Szene generell?
Udo: Für mich als „Bürohengst“ ist das etwas schwerer zu beurteilen als für die Jungs im Laden, an der Front. Aber die Entwicklung sehe ich schon. Anfang der Achtziger gab es nur Punk, jeder kannte jeden in West-Berlin. Damals, das erste Mal, dass ich den Begriff Hardcore hörte, das war bei Tante Vinyl, Vinyl Boogie. Der hatte eine Platte, die hieß „Back From Samoa“ von den zu jener Zeit großartigen ANGRY SAMOANS. Die billigere Euro-Version der Platte hatte so einen Werbeslogan mit draufgedruckt, da stand: „Ami-Hardcore“. Aha, das ist also kein Punk, das ist also Hardcore. Na ja. In den Achtzigern war Punk und Hardcore noch nicht so getrennt, alle gingen auf die gleichen Konzerte. Es waren aber auch wesentlich weniger Konzerte als heute, wo du dir in Berlin jeden Tag eine Show anschauen kannst. Seit den Neunzigern waren es zwei Szenen, die Punks gingen zu ihren Bands, und die Hardcore-Leute interessierten sich nicht für Punk. Das zersplitterte immer weiter, dann kam Straight Edge, die verachteten die Nicht-Edger, dann spielte die Mode eine immer größere Rolle, dann die Metal-Hardcoreler, die Deutschpunker, die England 77er, die Turbopunks, die Psychos, Rockabillys, die Emokids, die Crusties und und und. Keiner interessiert sich für das, was über den eigenen Tellerrand hinaus passiert. Eigentlich sehr schade, wäre doch insgesamt die Punk/Oi!/Hardcore-Szene sehr stark und groß. Auch ist im Hardcore der politische Aspekt immer mehr flöten gegangen. Für viele ist da doch heute das Interesse an der eigenen Frisur wichtiger als alles Politische. Hardcore war mal sehr politisch, das scheint leider in Vergessenheit geraten zu sein. Das CoreTex hat immer versucht, dies alles zusammenzuhalten, deswegen haben wir uns nie auf einen Teil, ob Punk oder Hardcore, festgelegt. Wir alle sind zu verschieden, als dass eine Festlegung überhaupt möglich wäre. Aber man sieht durchaus, dass das CoreTex dazu beiträgt, den Horizont des geneigten Menschen dann auch zu erweitern. Es schwindet die Eingefahrenheit, die Leute fangen an, sich zu interessieren, und siehe da, was da sonst noch läuft, ist manchmal dann doch gar nicht so schlecht. Das macht doch eine wirkliche Szene aus!
Wie schwer ist es heute, sich mit einem Plattenladen gegen Amazon und Media Markt/Saturn zu behaupten? Wo liegt euer Vorteil?
Udo: Ich war gerade am Samstag im Media Markt in der Plattenabteilung. Ist ja echt grausam, was die da einem anbieten. Liebloser geht es ja kaum. Und das Sortiment war echt schrottig. Na klar, Major-Releases und hier und da ein Indie. Und die fangen gerade wieder an, Vinyl mit reinzunehmen. Aber insgesamt ist das wohl nur etwas für Leute, die nicht die Chance haben, das CoreTex zu kennen. Amazon ist da schon eine größere Konkurrenz. Die haben ja echt viel, und durch ihre Konzerneinkaufspolitik können die ja ganz andere Einkaufpreise bekommen - wie auch Saturn & Co. - als ein Einzelladen, wie wir es sind. Da werden ganz andere Stückzahlen bewegt. Aber dort gibt es auch nur, was die deutschen Vertriebe anbieten. Da wir regelmäßig importieren, kann man bei uns doch das eine oder andere Goldstück finden, was über diese Konzerne nicht zu bekommen ist. Und wir haben eine riesige Merchandise-Abteilung, bei uns bekommst du um die 2.000 verschiedene Bandshirts! Das gibt es bei denen einfach nicht. Ich denke aber nicht, dass die Zukunft der rein physische Tonträger ist, was die Musik betrifft. Immer wichtiger werden Downloads, bezahlt oder gesaugt. Das kann man klar an den Verkäufen beim Label feststellen. Die Zukunft liegt da wohl in allem, was neben dem eigentlichen Tonträgerverkauf passiert. Ein weiterer ganz klarer Vorteil ist für unseren Laden, dass die Leute einfach mit ihresgleichen kommunizieren können. Im Laden weißt du einfach, was derjenige das letzte Mal gekauft hat, du kannst beraten, wenn es die Zeit erlaubt. Auch ist es für die Leute möglich, einfach im Laden Gleichgesinnte zu treffen. Wir veranstalten regelmäßig Instore-Gigs ohne Eintritt, und auch tourende Bands hängen oft bei uns ab, die kann man da persönlich treffen.
Was für eine Labelpolitik habt ihr? Was macht ihr, warum - und was niemals?
Udo: Grundsätzlich machen wir das, was mindestens einem von uns gefällt. Wenn wir dann noch an die Zukunft der Band glauben und wir uns mit der Band auch persönlich verstehen, machen wir es. Wir haben einige Male mit Bands zusammengearbeitet, die den Ruf hatten, sie wären offen nach rechts. Als wir mit diesen Bands geredet haben, stellten wir fest, das dem gar nicht so war beziehungssweise diese Bands auch ein Interesse hatten, sich durch uns nach rechts abzugrenzen. Warum soll man da Türen zuschlagen? Man treibt sie dann schlimmstenfalls ja noch in diese Ecke. Auf allen unseren CDs ist das „Fuck Racism“-Logo abgebildet. Damit ist alles gesagt. Rechte Bands würden wir nicht mit der Kneifzange anfassen, das würde Mord und Totschlag geben. Never ever!
Was sind die nächsten Releases auf dem Label, was waren die Bestverkauften, was der größte Flop?
Udo: Die für uns wohl wichtigste und bestverkaufte Band ist TROOPERS. Daneben haben sich Releases wie HATEBREED oder KINGS OF NUTHIN' sehr gut verkauft. OHL ist konstant okay und SHAM 69 lässt sich sehr gut an. Flops hatten wir einige, ich will jetzt nicht unbedingt Namen nennen, aber Bands, die sich direkt nach dem Release auflösen, haben kaum eine Chance, viele CDs zu verkaufen. Das ist uns leider einige Male passiert.
Und was wird in zwanzig Jahren sein ...?
Udo: Ich hoffe, es wird das CoreTex noch ewig geben. Wir haben nicht vor, unseren Lifestyle zu ändern. Und solange Interesse an dem, was wir tun, besteht, wird es auch wohl so weitergehen. Keiner von uns ist noch fähig, für irgendeinen Boss zu arbeiten, Befehle zu empfangen und seinen ganzen Tag für irgendwelches seelenloses Zeugs zu opfern. Lieber arbeiten wir hart und lange für kleines Geld und wissen am Ende des Tages, dass wir mit unseren Freunden an einer Sache arbeiten, an der unser Herz hängt und an die wir glauben.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #76 Februar/März 2008 und Joachim Hiller