Nach dem Lesen von „Jeder Ton eine Rettungsstation“ von Christian Broecking aus dem Jahr 2007 stand für mich fest, dass diese Sammlung von Interviews mit afroamerikanischen Künstlern ein Buch ist, das es verdient hat, auch über den Jazzkosmos hinaus gelesen zu werden. Der Mut und die Energie der Musiker, gesellschaftliche Veränderungen durch ihre Musik herbeizuführen, sorgte für ein beeindruckendes und berührendes Leseerlebnis, das noch lange nachwirkte. Musikwissenschaftler, Soziologe und Musikkritiker Broecking ist Kolumnist für die taz, den Tagesspiegel und Jazz Thing sowie Gründer und Leiter des Broecking Verlages. Gerade erschien sein neues neues Buch, „Gregory Porter. Jazz, Gospel & Soul“.
Worum geht es in Ihrem neuen Buch, „Gregory Porter. Jazz, Gospel & Soul“?
Darin geht es um soziale Kämpfe im Motown der Sechziger Jahre und den Blues. Porter versteht sich nicht in erster Linie als Kämpfer gegen Rassismus, ihm geht es um Musik und ihre Kraft, die Menschen zu ermutigen. Für ihn ist der Blues der ultimative Protestsong. Er erinnert an die großen Sänger und Sängerinnen des Blues, Gospel und Soul, ihre Geschichten über Liebe und Schmerz, die Musik der Sechziger und Siebziger Jahre, so wie er sie hört. Marvin Gaye und dessen Optimismus, diese Trotzhaltung gegen das ganze Übel, die Hoffnung auf Liebe, Familie und Zukunft, so habe er die Botschaft verstanden, die er früher im Radio hörte. Wenn es diese Botschaft, diesen Funken nicht mehr gibt, braucht diese Musik keiner mehr.
Wenn man sich Ihre Veröffentlichungen ansieht, liegt einer Ihrer Schwerpunkte in der gesellschaftlichen Betrachtung des afroamerikanischen Jazz. Wie wurde Ihr Interesse für diese Thematik geweckt?
Es mag heute vielleicht sehr konstruiert wirken, aber in den frühen Siebziger Jahren wollte ich Musik hören und erleben, die nah am Puls des Widerstands ist. Der Jazz gehörte jedenfalls dazu, und die gesellschaftliche Umgebung dieser Musik hat mich von Anfang an interessiert. Amiri Barakas Schriften über afroamerikanische Musik, deren politische Signalwirkung und gesellschaftliche Relevanz haben mich fasziniert, zu einem Gutteil kam ich auch als Leser zu dieser Musik. Der Blues war die Basis, Free Jazz atmete den ästhetischen, politischen und gesellschaftlichen Umbruch. Als ich im Mai 1992 in New York war, besuchte ich eine Diskussionsveranstaltung an der Brooklyn Academy of Music, bei der auch Baraka und Stanley Crouch auftraten und sich heftigst über Black Music, afroamerikanische Tradition, Avantgarde und Politik stritten. Als ich wieder in Berlin war, ging ich bei der taz vorbei und fragte, ob ich darüber einen Artikel schreiben dürfte. Das Thema fand in der Kulturredaktion Interesse und so kam ich zu meinem ersten Artikel in der taz: „Blue Note der Wissenschaften“ – eine ganze Seite. Das Thema ließ mich dann nicht mehr los, ich verfolgte die aktuelle neotraditionalistische oder neokonservative Revolution im afroamerikanischen Jazz und bildete sie in unzähligen Artikeln und Interviews mit den Protagonisten ab. In meinem 1995 erschienenen Buch „Der Marsalis-Faktor. Gespräche über afroamerikanische Kultur in den neunziger Jahren“ sind die wichtigsten Diskurse jener Tage dokumentiert.
Insbesondere der Free Jazz der Sechziger Jahre war stark mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden. Haben Sie das Gefühl, dass von diesem Willen zur Veränderung des Status quo in der heutigen Jazzmusik noch etwas vorhanden ist?
Auch wenn afroamerikanische Jazzmusiker ihre Musik historisch in einer Tradition von Widerstand und Protest verstehen, konnte man angesichts einer zunehmenden Schwächung der afroamerikanischen Position während der George-W.-Bush-Regierung 2001 bis 2009 kaum von einer widerstandsorientierten Künstlerbewegung sprechen. Der Widerstandscode der afroamerikanischen Musik hat für die Rezeption des Jazz gerade in Europa eine große Rolle gespielt. Doch während die Konstruktion eines widerständigen, rebellischen Jazz auch während des vergangenen Jahrzehnts noch in Europa gefeiert wurde, hatte kein namhafter Künstler dieser Richtung, weder Ornette Coleman, Archie Shepp, Steve Coleman noch David Murray, einen Plattenvertrag mit einer amerikanischen Tonträgerfirma. Im Unterschied zu einer gefühlten gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung während der Präsidentschaft Bill Clintons, 1993 bis 2001, war in späteren Interviews mit afroamerikanischen Musikern feststellbar, dass die politischen Ereignisse infolge der Anschläge vom 11. September 2001 und des Irak-Kriegs als Lähmung und Rückschlag hinsichtlich der schwarzen Erfahrung empfunden und mit einer Zunahme des Rassismus in Verbindung gebracht wurden. Eine folgenschwere Zäsur stellte die Wiederwahl Bushs im November 2004 dar. Für zahlreiche Jazzmusiker, die sich dagegen mit künstlerischen Mitteln engagiert hatten, endete ihr öffentlich bekundetes politisches Interesse mit dem Rückzug ins Private. Das Ausmaß dieser Paralysierung wurde in vielen Interviews deutlich, die ich 2008 in der Hochphase von Obamas Wahlkampf führte. In Interviews während der Amtszeit von George W. Bush sahen sich viele Künstler mit einer zunehmend anti-amerikanischen Stimmung beim europäischen Publikum konfrontiert, die sie für eine Zäsur in der Programmierung der für sie beschäftigungspolitisch sehr wichtigen, da teils hochsubventionierten europäischen Jazzfestivals verantwortlich machten. Jene Stimmung sollte erst mit der Wahl von Obama leicht umschlagen. Das Gefühl, wieder einmal das Opfer gesellschaftlicher Prozesse zu sein, trug bei den von mir Befragten hingegen zu einer weiteren Desillusionierung bei. Dass sich afroamerikanische Nachwuchsmusiker dennoch für die Improvisationskunst Jazz entscheiden, werte ich als deutliches Zeichen für dessen gesellschaftliche Relevanz. Mittlerweile gibt es eine neue Generation amerikanischer Jazzmusiker, die ihre Musik auch als politisches Statement betrachten.
Sie haben für Ihre Bücher viele Musiker interviewt. Was hat Sie an diesen Persönlichkeiten am meisten beeindruckt?
Ihre unterschiedlichen Antworten geben etwas von der Heterogenität der schwarzen Community preis. Respekt vor der Tradition wird hier als Mittel der Selbstvergewisserung in einem unsicheren Hier und Jetzt thematisiert. Die Suche nach Identität schleicht wie ein roter Faden durch die verschiedenen Statements. Es ging mir nicht darum, reaktionäre Formen der Respekterweisung vor einem vermeintlich besseren Alten, Gewesenem abzufragen oder gar einzuklagen.
Mit „Visualizing Respect“ ist 2012 ein Fotoband mit Aufnahmen von Ihnen erschienen. Wie kam es zu der Idee?
Ich wollte in diesem Buch mit Schwarzweißabbildungen Interviewsituationen zu Fragen nach schwarzer Geschichte und Identität dokumentieren. Die Gespräche handeln von der Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe, einer Neubestimmung des künstlerischen Ausdrucks unter den Bedingungen von Globalisierung und internationaler Netzwerkbildung und der Erfahrung, dass Respekt nach wie vor ein knappes Gut ist. Ich fand es reizvoll, die Distanz und Nähe, die für diese Gesprächs-Interaktionen wichtig waren, abzubilden. Die Fotos entstanden während der Recherchen und Interviews für meine Bücher „Der Marsalis-Komplex. Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz“ und „Respekt! Die Geschichte der Fire Music“. Ich hatte den Fotos ein Interviewzitat von Ornette Coleman vorangestellt: „Beethoven was black“. Eines dieser komplexen Statements jenes Musikrevolutionärs, den ich auch in seinem Loft in Manhattan besucht habe. In seiner Wohnung gab es ein Musikzimmer, in dem er gelegentlich kleine Sessions veranstaltete. Dort fotografierte ich ihn vor einer großen Kunst-Installation unter Verwendung des Fotos, das zeigt, wie General Nguyen Ngoc Loan 1968 in Saigon auf offener Straße einen gefangenen Vietcong erschießt. Für dieses Foto wurde der AP-Fotograf Eddie Adams mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #121 August/September 2015 und Jörg Masjosthusmann