Es kann durchaus etwas dauern, bis eine Band das Attribut „neu“ abschütteln kann. Umso mehr, wenn sie in die Fußstapfen einer bekannten Band tritt. Und genau das ist der Fall bei THE CASTING OUT. Nachdem BOYSETSFIRE 2006 ihre Auflösung bekanntgegeben und 2007 die letzten Shows gespielt hatten, machte sich deren Sänger Nathan Gray gleich an die Arbeit, sich ein neues musikalisches Zuhause aufzubauen. Rund zwei Jahre später haben THE CASTING OUT nun ihr Debütalbum weltweit veröffentlicht. Und natürlich sind sie immer noch für jedermann „die neue Band des BSF-Sängers“.
Während sich andere in so einer Situation vermutlich erst mal eine Auszeit nehmen, kündigte Nathan seinerzeit schon bei der letzten Show von BOYSETSFIRE an, bald mit einer neuen Band zurückzukehren. Parallel zu BSF hatte er schon jahrelang Songs geschrieben, die für ein Soloprojekt geplant waren. In klassischer Singer/Songwriter-Manier waren die Songs als Akustikstücke gedacht. So sollten all die persönlichen Themen behandelt werden, für die kein Platz in der politischen Band BOYSETSFIRE war, die Nathan aber immer mehr beschäftigten. Er hatte sich vorgenommen, eine Lücke zwischen Aufnahmen und Touren dafür zu nutzen, um diese nur teilweise fertig ausgearbeiteten Lieder aufzunehmen und zu veröffentlichen. Schwer zu sagen, was letztendlich der Grund war, dass diese Gedanken nie Wirklichkeit geworden sind.
Mit dem bevorstehenden Ende von BSF jedenfalls wurde dem charismatischen Sänger bewusst, dass er unbedingt mit Musik weitermachen wollte und sich ihm nun die Chance bieten würde, diese alten Songideen erneut aus der Schublade zu kramen. Wenn Nathan über diese Zeit spricht, hört man gleichzeitig sowohl Freude über die neue Herausforderung als auch noch Spuren von Frust über die letzten Tage mit BOYSETSFIRE heraus. Zu festgefahren war die Band, zu unterschiedlich die fünf Personen, zu starr die Erwartungen der Fans. All das sollte sich mit dem neuen Projekt ändern. Auch wenn Nathan schon bei BSF erheblichen Anteil am Songwriting hatte, war er eben doch nur einer von fünf Entscheidungsträgern. Bei THE CASTING OUT nun wollte er alleine die Kontrolle über alles haben, die Band sollte sein persönliches Projekt werden. Vor allem galt diesmal die Maxime, sich die Inhalte seiner Texte nicht mehr vorgeben zu lassen. Bei BOYSETSFIRE beklagte er die Erwartung der Fans, dass jeder Song politisch sein müsste. Erst nach und nach traute er sich damals, persönliche Themen anzusprechen, die ihn zu diesem Zeitpunkt mehr beschäftigten als Politik.
Nathan versteht sich auch heute noch als politischer Mensch, aber THE CASTING OUT wollen bewusst keine politische Band sein. Texte, die sich mit politischen Fragen beschäftigen, schließt Mr. Gray für die Zukunft nicht kategorisch aus. Wenn ihn eine Frage zur Gesellschaft oder zum politischen Geschehen beschäftige, würde er sie auch bei seiner neuen Band musikalisch verarbeiten. An dieser Stelle betont er aber, es würden „konkrete Fragen sein, mit denen ich mich auseinandersetze zu einem bestimmten Thema. Wenn ich früher das Thema Müllbeseitigung ansprechen wollte, hieß es immer, es müsse da gleich um Revolution gehen.“
BOYSETSFIRE steckten demnach in der Schublade fest, sich immer radikal äußern zu müssen und große politische Umwälzungen statt kleiner politischer Schritte zu propagieren. Natürlich sei er sich bewusst, dass er diese Erwartung durch seine politischen Ansichten in der Frühphase der Band selbst geweckt habe, räumt Nathan ein. „Aber irgendwann habe ich erkannt, dass man dadurch keine Veränderung erreichen kann. Wenn man etwas verändern will, muss man es Schritt für Schritt angehen, statt immer nur den großen Umbruch zu fordern. Kleine Einzelfragen haben da Vorrang gegenüber dem großen Ganzen. Nur dass das bei BOYSETSFIRE niemand hören wollte.“
Die persönlicheren Texte gewannen für Nathan Gray an Bedeutung, weil er durch diese Selbstreflexion mit einigen Phasen seines Lebens abrechnen und so die Geister alter Tage vertreiben konnte. Dieses Motiv zieht sich als roter Faden durch die Entstehungsgeschichte von THE CASTING OUT. Nach dem Aus von BSF zog Nathan für einige Monate nach Richmond, Virginia, um Abstand zu gewinnen. In der Heimatstadt von Bands wie STRIKE ANYWHERE oder AVAIL (deren Gitarrist Joe Banks in den ersten Tagen sogar mitgewirkt hat) nahm das neue Projekt erste Züge an. Zunächst bewegte sich die Band in dem Rahmen, den der Sänger für seine Soloaufnahmen schon vorher angedacht hatte. Statt harter Riffs und Geschrei beherrschten nun Akustikgitarre und Piano das Klangbild. Aber auch der kurze Aufenthalt in Richmond half Nathan nicht dabei, die in früheren Tagen entstandenen Probleme hinter sich zu lassen. Zurück in Delaware, ergaben sich einige Besetzungswechsel bei THE CASTING OUT – so verließ die ursprüngliche Keyboarderin die Band und wurde letztendlich nicht ersetzt, und auch BSF-Kollege Josh Latshaw entschied sich endgültig gegen ein Leben zwischen Studio und Tourbus. All das hatte erheblichen Einfluss auf den Sound der Band. Geblieben ist der Name, der für dieses Austreiben alter Geister steht (to cast out = austreiben, vertreiben). Musik als Selbsttherapie.
An Grays depressive Phase erinnert aber nur noch die erste Nummer des Albums, geschrieben als Abschiedsbrief eines enttäuschten und gescheiterten Don Quichotte. Auch wenn Nathans Interpretation des großen Helden von Cervantes an einigen Stellen etwas zweifelhaft sein mag, so ist doch der Vergleich mit ihm durchaus interessant. Das Lied ist in der Endphase von BOYSETSFIRE entstanden und Parallelen zwischen Quichotte, der auszog, um die Welt zu retten, und nun feststellen muss, dass es hoffnungslos ist und er versagt hat, und dem Sänger einer sich in Auflösung befindenden Band sind wohl ausdrücklich erwünscht. Gleichzeitig ist der Song aber der munterste auf dem Album, wäre ohne den Text geradezu eine Wohlfühlpowerpopnummer. Dieser Gegensatz zeigt, dass sich Herr Gray mittlerweile erheblich wohler in seiner Haut fühlt. Die Zeiten von Panikattacken, Depressionen oder Drogenproblemen etwa, die in „A sort of homecoming“ verarbeiten werden, sind vorbei.
Selbst die lange Suche nach einer Plattenfirma kann dem TCO-Sänger die Laune nicht verderben. „Go Crazy! Throw Fireworks!“ war letztes Jahr schon fertig aufgenommen, während die Band noch auf die Suche nach einem Label war. Die erhoffte positive Resonanz blieb einfach aus. „Die gegenwärtige Lage der Plattenfirmen gibt einfach nicht mehr her. Sie trauen sich immer weniger, neue Bands unter Vertrag zu nehmen, weil sie Angst um ihr Geld haben. Also haben wir beschlossen, das Album selbst herauszubringen“, fasst es Nathan zusammen. So war die CD letztes Jahr zunächst nur auf Tour erhältlich, dann über einen Vertrieb aus Großbritannien. Mittlerweile hat sich die Band für Europa mit Revolver Distribution zusammengetan. In den USA haben sich TCO für das kleine Label Fail Safe Records aus Gainsville, Florida entschieden, bei dem Bands wie OK PILOT oder ANCHOR ARMS unter Vertrag stehen.
Mit dem nun auch offiziell in Deutschland erschienenen Album begab sich die Band im Juli nun schon zum dritten Mal auf Europatour. Auch dieses Mal wurden Nathan und Co. nicht vor Ankündigungen als „ex-BSF“ verschont. Selbst auf den CDs fällt einem gleich der Aufkleber mit dem Hinweis „With the voice of BOYSETSFIRE“ auf. Anscheinend hat sich Nathan Gray damit abgefunden, weiß er doch, dass die Popularität seiner alten Band sich durchaus hilfreich auf TCO auswirkt.
Seine größte Sorge war rund um die ersten Shows, dass so mancher Konzertgänger BSF-Songs erwarten und hinterher enttäuscht sein könnte. Der stete Zuwachs von Tour zu Tour zeigt aber, dass sich diese Sorge nicht bewahrheitet hat. Vielmehr hat man sich als eigenständige Band etabliert. Nur die Vergleiche werden Nathan auch weiterhin begleiten. Allerdings trägt auch er dazu bei, indem er von sich aus in den meisten Antworten auf seine alte Band Bezug nimmt, ohne dass sein Gesprächspartner in diese Richtung fragt. Fast könnte man meinen, er erwarte überall diesen Vergleich und liefere ihn daher gleich selbst.
Auch die musikalische Entwicklung von THE CASTING OUT beschreibt er als Erstes mit dem Hinweis, TCO hätten mittlerweile mehr Ähnlichkeit mit der Vorgängerband als am Anfang. „Der Unterschied zwischen beiden Bands ist aber die Herangehensweise an die Musik. Während BSF aus dem Hardcore kamen und zwischendurch auch mal ruhigere Töne angeschlagen haben, sehe ich TCO definitiv als Punkband, die wesentlich rockiger ist, aber manchmal eben auch eine schnellere Nummer spielt. Für mich ist das ein sehr großer Unterschied.“
Nicht nur das Kommen und Gehen von Bandmitgliedern hat zu dieser Veränderung geführt. Nathan selbst zeigte sich nach kurzer Zeit mit dem allzu ruhigen Material der ersten Stunden nicht zufrieden. So interessant es für ihn war, Akustiksongs aufzunehmen, so sehr vermisste er es nach den ersten Auftritten, „wie ein Idiot herumspringen“ zu können.
Die mittlerweile gefundene musikalische Ausrichtung dagegen gefällt Gray sehr gut und soll so beibehalten werden. Auch seien THE CASTING OUT nicht mehr sein neues Projekt, sondern eine richtige Band geworden, bei der sich seine Rolle hauptsächlich auf die des Sängers und Texters reduziert habe. Momentan arbeite man auch schon gemeinsam fleißig an neuem Material, so dass es schon bald einen Nachfolger für „Go Crazy ...“ geben könnte. Dann allerdings hofft Nathan Gray, nicht mehr „auf diese andere Band“ angesprochen zu werden. Ob dieser Wunsch so ernst gemeint ist, lässt sich schwer sagen. Schließlich musste er auch bei diesem Satz wieder lachen. Wir werden aber versuchen, uns daran zu halten, wenn auch er es schafft.
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