Nach eineinhalb Jahrzehnten, in denen BURY TOMORROW ihren Metalcore bis in die Top Ten der kommerziellen Albumcharts führten, folgte eine Phase, in der die Musiker aus Southampton das Genre und sich selbst hinterfragten. Sänger Daniel Winter-Bates erzählt, wie sie sich neu definieren und welche Faktoren dazu beigetragen haben.
Daniel, auf dem letzten Album hattest du deine schlechte psychische Verfassung thematisiert. Wie geht es dir mittlerweile?
Sehr gut, danke der Nachfrage. „Cannibal“ markiert den Punkt, an dem ich mich wirklich mit meinen Erlebnissen auseinandergesetzt hatte. Beim Schreiben selbst war mein Zustand auch schon besser – was wichtig ist, da es eine retrospektive Betrachtung ermöglicht. Aber ich werde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens mit meiner psychischen Gesundheit zu kämpfen haben, das ist ein Auf und Ab.
Ist das Musikerdasein dabei eher Hilfe oder Bürde?
Musik wird immer eine Rolle spielen, da sie schon fast mein ganzes Leben lang ein so wichtiger Teil von mir ist. Ich glaube, die Kreativität ist ein Ventil, um über Gefühle zu sprechen, die Realität zu verarbeiten oder sich in die dunklen Seiten der Seele zu vertiefen, was einem kathartischen Prozess gleicht. Gleichzeitig macht es ziemlich verletzlich, weil man sehr exponiert ist – besonders als Frontmann einer Band. Aber mir hat es geholfen, diese Person zu schaffen und manchmal einige der Gefühle zu maskieren. Selbst wenn ich mich richtig schlecht fühle, kann ich immer noch auftreten und die Leute genießen es. Das gibt dem Ganzen eine Bedeutung.
In der jüngeren Vergangenheit habt ihr euch intensiv über die Zukunft von BURY TOMORROW Gedanken gemacht. Sogar eine Trennung stand im Raum.
Jede Veränderung ist hart und manchmal auch schwierig. Aber man sollte sich nie darauf einlassen, wenn kein positives Ergebnis sichtbar ist. Ich glaube, diese Entwicklungen haben es uns ermöglicht, unsere Musik und unseren Blick in die Zukunft neu auszurichten. Natürlich wird es immer Stimmen geben, die enttäuscht sind oder sich aufregen. Wir haben realisiert, dass eine Veränderung nötig ist, wir aber weitermachen wollen, denn die Band ist viel größer als die Summe der einzelnen Mitglieder.
Welche Neuerungen habt ihr für euch bei diesem Prozess angestoßen?
Früher gingen wir ins Studio und sagten: Let’s go! Wir wollen ein Metalcore-Album schreiben – und zwar das Beste, das man machen kann. Dieses Mal sind wir ins Studio gegangen mit dem Anspruch, die beste Musik zu schreiben, zu der wir in der Lage sind – ohne es schon vorab in ein Sub- oder ein Sub-Sub-Genre zu pressen. Wir sehen es jetzt als eine Art Reise mit offenem Ausgang. Die härteren Elemente sind noch härter geworden, und damit sind nicht nur Breakdowns gemeint. Das bedeutet, dass es stilistisch wirklich sehr schwer und düster ist. Gleichzeitig gibt es leichte, atmosphärische Kontraste. Wir haben versucht, die selbst angelegten Ketten in Bezug auf unsere Kreativität zu sprengen.
„Cannibal“ war kommerziell sehr erfolgreich. Gibt es keine innere Stimme, die dazu animiert, alles einfach noch mal zu wiederholen, weil es gut ankam?
Wir versuchen eher, das weiterzuentwickeln. Wenn wir uns nicht irgendwie verändert hätten, hätten uns die Leute ein paar ernsthafte Fragen gestellt, oder? Es gibt zwei neue Mitglieder und somit ganz andere Einflüsse in der Band. Hätten wir das gleiche Album noch einmal machen wollen, hätten wir wohl versucht, etwas zu kopieren, das es nicht mehr gibt. Eigentlich möchten wir jetzt über das hinausgehen, wo wir uns als Band vor der Pandemie verortet haben.
Wie sah dein Plan B für eine mögliche Zukunft ohne BURY TOMORROW aus?
Ich verfolge schon seit den Anfängen der Band eine zweite Karriere beim National Health Service, dem staatlichen Gesundheitssystem, und bin irgendwie schon vorbereitet. Aber es gibt noch viel mehr zu bedenken. Einer der wichtigsten Faktoren bei den Überlegungen waren unsere Fans. Sie waren die treibende Kraft hinter dem Entschluss, als Band weiterzumachen. Sie haben so viel Zeit und Mühe investiert und uns bei unserer Entwicklung unterstützt. Es wäre schwach, das einfach wegen einer stressigen Phase aufzugeben.
Du hast eure Fans erwähnt. Welche Rolle spielen deren Erwartungen konkret?
Man muss immer respektieren, was die Fans mögen. Natürlich würdige ich Bands, die konsequent ihren eigenen Weg gehen. Aber unsere Fans sind der einzige Grund, warum wir noch hier sind. Das gilt es permanent zu berücksichtigen. Trotzdem denke ich, dass sie nicht nur Metalcore mögen. Die Verbindung zwischen melodischer und harter Musik ist vielschichtiger und erlaubt es, sich in verschiedene Richtungen zu entwickeln. Letztlich schreiben wir Songs, die auf den Reaktionen der Leute basieren. Wir wissen es, weil wir sie live spielen. Und ich habe über die Jahre Hunderte von Shows gespielt, kenne die Stücke. Ich denke mir: Okay, das wird ihnen aus diesem oder jenen Grund gefallen oder das wird sich live wirklich gut umsetzen lassen. Ich möchte die Leute, die uns am meisten bedeuten, nicht im Stich lassen, und deshalb ist diese Überlegung sehr wichtig. Aber gleichzeitig gilt es auch, unseren Fans dabei zu helfen, ihre musikalischen Grenzen zu erweitern. Unabhängig von einzelnen Elementen, bei denen sich die Meinungen spalten, wollen die Leute einfach, dass man das Beste gibt, wozu man in dem Moment in der Lage ist. Wenn das dazu anspornt, die erfolgreichste Band im eigenen Genre zu sein, ist das großartig. Wenn es bedeutet, dass man das Genre, in dem man sich bewegt, erweitern will, ebenso. Manche Bands entscheiden sich auch dafür, eine ganz andere Richtung einzuschlagen. Oft funktioniert es und oft werden Bands, die sich das trauen viel, viel größer. Aber natürlich bedarf das einer Sensibilität, man kann so etwas nicht abrupt umsetzen. Es gibt für uns auch ein gewisses Maß an Treue, aber mehr gegenüber unseren Fans als gegenüber dem Genre, das wir selbst geprägt haben, mit Bands wie UNEARTH, DARKEST HOUR, ATREYU oder KILLSWITCH ENGAGE. Als wir uns 2006 gründeten, war das Genre gerade im Entstehen. Damals repräsentierte es die Verbindung aus Melodie und Härte. Mittlerweile denke ich, dass im Metal allgemein viel mehr mit Melodie und atmosphärischen, melodischen Momenten gearbeitet wird und Metalcore nicht mehr das einzige Subgenre ist, das Licht und Dunkelheit verbindet.
Wo siehst du sonst noch Parallelen oder Unterschiede zwischen BURY TOMORROW damals und in der Gegenwart?
Es ist wirklich schwer, mich in diese Zeit zurückzuversetzen, weil ich so jung war. Ich denke, was man vergleichen kann, ist diese wiederkehrende Energie und Aufregung hinsichtlich einer Veröffentlichung und der damit verbundenen Tour. Wichtig ist sicherlich, aus Fehlern oder Erfahrungen zu lernen. Wären wir also die Band, die wir heute sind, wenn wir nicht all das durchgemacht hätten? Ich denke, dass ich nichts ändern wollen würde. Wir wären sonst vielleicht nicht da, wo wir heute sind. Was sich nie verändert hat und gleichzeitig eine der schlimmsten Facetten im Bandleben darstellt, ist der Moment, in dem man das fertig gemasterte Material zurückbekommt und sich die Wartezeit bis zur Veröffentlichung wie eine Ewigkeit anfühlt. Das geht sicher nicht nur uns so. Eines der aktuell elementarsten Probleme für UK-Bands ist zudem der Brexit. Wir waren von Anfang an massiv dagegen und uns war klar, welche Probleme und Kopfschmerzen es verursachen würde, wenn es darum geht, Touren in der EU zu planen. Diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben, kümmern sich nicht um Leute wie uns in der Rockwelt oder der Musikindustrie, weil sie es nicht als wichtig erachten. Für uns hingegen ist es unser Leben.
Die Konzerte zur Veröffentlichung von „Cannibal“ sind aufgrund der Pandemie zum Großteil ausgefallen. Setzt ihr daher mehr Songs davon auf eure aktuelle Setlist? Nach welchen Kriterien sucht ihr die Songs aus, die ihr auf der Bühne performt?
Heutzutage ist die Auswahl viel schwieriger, denn wir haben inzwischen so viele Stücke aufgenommen. Selbst jedes Album hat in der Regel drei oder vier Singles. Die Setlist zu erstellen, ist also regelmäßig eine echte Herausforderung. Ich denke, die Leute können von uns erwarten, dass wir auf ältere Songs zurückgreifen, aber ich denke, dass wir in der nächsten Zeit vor allem das aktuelle Album pushen werden. Einfach weil wir denken, dass es unser bestes Material ist. Und dazu gehört auch, dass sich das live umsetzen lässt. Wir denken außerdem darüber nach, was beim Publikum ankommt, was die Leute in Bewegung bringt und ihnen Spaß macht. Als Frontmann bin ich bislang immer gut in die Interaktion mit der Menge gekommen, worauf ich stolz bin.
Ihr habt nach eigenen Angaben euren Stil auf dem neuen Album etwas verändert. Wie offen bist du für andere Genres, in welchem Bereich könntest du dir als Musiker noch vorstellen, aktiv zu werden?
Es gibt viele fantastische Menschen, mit denen ich gerne auftreten würde, zum Beispiel Corey Taylor, der diese Welt für mich und für viele andere bereichert hat. An der Spitze unseres Genres stehen aktuell Bands wie BAD OMENS, SPIRITBOX oder SLEEP TOKEN. Das sind alles großartige Acts, die innovativ arbeiten und das Genre so weit ausreizen, wie sie nur können. Mit allen kann ich mir eine Zusammenarbeit vorstellen. Darüber hinaus habe ich kommerziellere und elektronische Musik schon immer geliebt. Dancemusic und Drum&Bass vor allem. Aber auch akustische Stücke. Ich könnte mir überall vorstellen, etwas auszuprobieren, und glaube wirklich, dass man in jedem Genre etwas finden kann, das einem gefällt. Es sind nur die Unwissenden, die sagen, dass sie etwas nicht mögen, bevor sie sich darauf eingelassen haben. Ganz konkret fände ich es spannend, eine Art elektronisches Ambient-Projekt zu versuchen. Ich glaube, das wäre wirklich cool ... oder ein akustisches Projekt, das ein bisschen mehr in Richtung Folk geht. Also wenn jemand ein Angebot hat, schickt es mir gerne zu.
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