Es passiert selten, dass mir ein einziger Film direkt zwei Interviews wert ist, aber es handelt sich auch um einen ganz besonderen Film und einen ganz besonderen Menschen, den Regisseur Kirby Dick in seiner Dokumentation “Sick - The Life & Death Of Bob Flanagan, Supermasochist” bis zu seinem Tod “begleitet”. Ausführlich besprochen habe ich den Film in diesem Heft übrigens auch zweimal, das zweite Mal in der Nr. 51 anlässlich seines deutschen Kinostarts in diesem Jahr, trotz guter Kritiken leider eher mal ein Totaldebakel. Chance vertan! Dafür gibt es in den Staaten inzwischen eine DVD des Films, allerdings ohne besondere Extras. Und bitte bloß nicht die englische DVD des British Film Institutes kaufen, denn die haben die bigotten Engländer um fast zehn Minuten geschnitten.
Bob Flanagan starb 1996 im Alter von 43 Jahren an der unheilbaren Erbkrankheit Mukoviszidose, eine extrem schmerzhafte Funktionsstörung der sekretproduzierenden Drüsen. Ein Jahr später stellte Dokumentarfilmer Kirby Dick seinen Film fertig, der in 90 Minuten zeigt, wie Flanagan seine Krankheit als Performance-Künstler verarbeitete und daraus einen von Sadomasochismus dominierten Lebensstil entwickelte, zusammen mit seiner Partnerin Sheree Rose, einer Fotografin. Vieles an diesem Film wird zartbesaiteten Menschen tatsächlich etwas „krank“ vorkommen, denn Flanagans Leben wurde von permanenten Grenzüberschreitungen und Extremen geprägt. Ebenso zeigt der Film aber einen sehr warmherzigen, humorvollen und intelligenten Menschen, vor dessen Überlebenswillen man wirklich nur den Hut ziehen kann. Ein wirklich mitreißender, nicht ganz leicht zu verdauender Film, nicht zuletzt, weil die Hauptfigur deutlich vom Tod gezeichnet ist. Gleichzeitig gelang Flanagan durch seine Kunst auch der Brückenschlag zur Popkultur, zum Beispiel durch seine Beteiligung an „100 Reasons“, einer Performance von Mike Kelly, die später bei SONIC YOUTH auf deren Platte „Dirty“ auftauchte, und seinen Auftritt im NIN-Video „Happiness in slavery“ von Jonathan Reiss. Wer mehr über Bob Flanagan erfahren will, empfehle ich, sich das hervorragende Re/Search-Buch „Bob Flanagan: Supermasochist“ zuzulegen oder „The Pain Journal“, ein von Flanagan in seinem letzten Lebensjahr verfasstes Tagebuch.
Allerdings wird der positive Gesamteindruck von „Sick“ dadurch überschattet, dass sich der Regisseur und Flanagans Witwe Sheree Rose nach Fertigstellung der Films völlig überwarfen, was auch ein wenig den Wahrheitsgehalt dieses bemerkenswerten Zeitdokuments schmälert. Jede Geschichte hat zwei Seiten, und die Wahrheit liegt wahrscheinlich wieder irgendwo dazwischen. Wem soll man also mehr Glauben schenken, demjenigen, der bisher alleinig von dem Film profitieren konnte, oder der Frau, die gut 15 Jahre an der Seite des selbsternannten „Supermasochisten“ verbracht hat? Macht euch selbst ein Bild, ich sprach mit beiden.
Kirby, glaubst du, es gibt einen richtigen und einen falschen Weg, eine Dokumentation zu drehen?
Was meine Filme angeht, gerate ich da einfach rein. Sicher gibt es einerseits sehr ambitionierte, aber auch sehr stereotype Wege, so was zu machen. Aber im Prinzip kann sich jeder eine Kamera nehmen und so was machen – man filmt einfach mal alles. Was es interessant macht, sind eigentlich die Fehler, wenn man das so nennen will, die dabei entstehen bzw. eine gewisse Naivität.
Und wie sieht es dabei mit dem Wahrheitsgehalt aus?
Das Thema ‚Wahrheit‘ ist natürlich sehr angreifbar. Wenn ich einen Film sehe, denke ich, dass irgendwo in einem Bild eine bestimmte Wahrheit stecken muss, was natürlich immer vom Willen und der Sorgfalt des Filmemachers abhängt. Sicher gibt es auch bei einer Doku eine Form von Manipulation, wie bei jedem filmischen Erlebnis, aber bei einer Doku gibt diese ‚Wahrheit‘ dem Ganzen eine andere Dynamik, die ansonsten nicht existiert.
Was mich bei „Sick“ immer wundert, ist, dass er überall unheimlich gute Kritiken bekommt und auf Festivals ausgezeichnet wurde, aber darüber hinaus nicht besonders hoch in der Publikumsgunst steht.
Für manche Leute sind Themen wie SM in so einer direkten Form sehr anziehend, das gilt auch für mich, aber viele haben Angst davor. Wenn sie wüssten, dass es in dem Film auch diese anderen Ebenen der Beziehung gibt, wenn sie die Welt durch Bobs Augen sehen könnten, würden sie sich auch den Film anschauen wollen, aber sie haben Angst vor einer Szene, in der jemand einen Nagel durch seinen Penis schlägt und glauben, sie können das nicht ertragen – aber es geht. Ich hatte mich schon sehr früh entschieden, dass diese Szene in voller Länge im Film sein muss. Und dass ich den Film so strukturieren müsste, dass man an dieser Stelle versteht, warum es im Film ist, nicht unbedingt, warum Bob es tut.
Sind denn solche Szenen wirklich notwendig gewesen, die ein „normales“ Publikum eher mal abschrecken?
Es würde vielleicht auch ohne diese Sachen funktionieren, aber das hätte mich nicht interessiert. Wenn ich das nicht zeigen würde, hätte ich auch einen wichtigen Aspekt von Bobs Persönlichkeit zensiert. Ich war auch von dem Gedanken begeistert, dass eine Menge Leute in einem Raum eingesperrt sein würden und sich ansehen müssten, wie sich jemand einen Nagel durch den Penis schlägt. Ich habe den Film inzwischen auf der ganzen Welt gezeigt und kann ihn mir wirklich nicht mehr anschauen, aber immer, wenn diese Szene kommt, gehe ich rein und schaue mir die Reaktionen an, das ist wirklich amüsant, haha. Es gibt immer Leute, die dann rausgehen, aber ich wäre auch enttäuscht, wenn das nicht so wäre. Denn das würde bedeuten, dass ich zu vorsichtig gewesen wäre.
Würdest du das, was Bob tut, als pervers bezeichnen?
Wenn man das unter einem klinischen, medizinischen Gesichtspunkt betrachten würde, wäre es sicher pervers – selbst Bob würde es so nennen. Aber bei ihm kommt das ja von seinen frühen Erfahrungen mit SM, wo man beginnt, die Schmerzen zu lieben und so mit ihnen umzugehen. Bob benutzt das natürlich im Kontext einer Performance und präsentiert es auch so.
Wie kam es überhaupt dazu, dass du über Bob Flanagan einen Film gemacht hast?
Mitte der 90er saß ich an einem Drehbuch namens ‚Guy‘. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, es wäre an der Zeit mal einen wirklich persönlichen Film zu machen und das Leben von jemand zu beobachten. Und ich wollte einen Film über einen Künstler machen, über den kreativen Prozess, der meistens immer romantisiert wird. Außerdem interessierte mich das Thema Tod, und ich wollte einen Film über jemand machen, der sehr krank ist, über den Prozess des Sterbens. Das kam alles irgendwie zusammen und ich dachte, Bob wäre die perfekte Person. Zumal ich ihn kannte, und er nur fünf Minuten von mir entfernt wohnte. Während des Films kam ich ihm sehr nahe, das gilt auch für Sheree. Ich wusste, dass sie sich sehr nahe standen, aber mir war nicht klar, dass sie so in den kreativen Prozess involviert war. Es war ziemlich faszinierend, sie gab ihm wie eine richtige Domina all diese Aufgaben, die er erfüllen musste. Aber er war natürlich der kreative Teil, der es umsetzte, auch wenn sie ihn dazu zwang. Es gab eine Phase, wo sie ihn zwang, jeden Tag etwas zu schreiben, da er sehr faul sein konnte. Und wenn er es nicht tat, bekam er Prügel ... Diese Kollaboration war ein sehr faszinierendes Element für mich. Weil diese Befehle auch etwas Sexuelles hatten, ihn stimulierte das.
War es mehr ein Spiel oder eine Form sexueller Abhängigkeit?
Keins von beiden, es war ein erotischer Kick wie jede Form von intensivem Sex. Es gab ihrer Beziehung eine besondere Bedeutung. Sex ist natürlich immer ein Spiel, wo manipuliert und gequält wird. Außerdem war Bob ein Masochist, das hat ihn schon in jungen Jahren erregt. Der Film zeigt auch, dass man so was nicht einfach überwindet. Es wäre natürlich eine amüsante Vorstellung, wenn es ein Programm für Anonyme Masochisten geben würde, haha. Wie bei jedem Paar, das mit SM zu tun hat, gibt es einen Erfahrungsprozess. Sie fingen sehr früh damit an, gingen in Clubs und machten Performances und lebten das öffentlich auf Partys aus. Es gab da auch einen sozialen Aspekt.
Könnte man Bob Flanagan als SM-Pionier bezeichnen?
Ich denke schon, zumal man dieses Element in seiner Kunst schon sehr früh findet. Er hatte sicher einen großen Einfluss, auch wegen des Re/Search-Buches. Es gab sicher auch andere Leute, aber man muss ihn definitiv dazu zählen.
Das Re/Search-Buch erschien schon 1993, inwiefern hatte das einen Einfluss auf den Film gehabt?
Als ich das Buch las, hatte ich bereits angefangen, den Film zu machen. Es gibt tolle Sachen, die darin abgehandelt werden, aber es gibt auch genug anderes, was nicht vorkam, und das wollte ich im Film haben. Auch bezüglich Sheree, denn in dem Buch war nur ein kurzes Interview mit ihr. Außerdem wurde Bob darin mehr aus einer SM-Perspektive betrachtet und weniger als Künstler. Es war auch nicht besonders humorvoll, mal abgesehen von den Bildunterschriften, die von Bob stammen. Der Film sollte das Re/Search-Buch abdecken und noch mehr zeigen.
Wie bei jeder Doku stellt sich natürlich die Frage, inwieweit Bob Flanagan im Film mit dem echten Bob Flanagan deckungsgleich ist?
Man darf dabei nicht vergessen, dass Bob ein Performer war. Man bekommt hier einen bestimmten Charakter zu sehen, wie eigentlich bei jeder Doku. Wenn man einen Film über einen Performer macht, kommt da noch eine andere Ebene hinzu. Ein guter Performer ist sich natürlich darüber im Klaren, dass er aufgezeichnet wird und versucht, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Selbst in den Momenten, die sehr intim wirken, gibt es ein Element dieser Professionalität. Auch nicht im Film ist, dass er sehr aggressiv und gemein werden konnte. Zum Teil, weil Menschen eben nun mal so sind, und natürlich, weil er oft starke Schmerzen hatte. Wenn er angepisst war, ließ er das an anderen Leuten aus, vor allem an Sheree. Aber selbst, wenn er richtig gemein war, hatte das immer noch etwas humorvolles. Es konnte sehr amüsant sein, sich von ihm zur Schnecke machen zu lassen, haha. Aber es gab auch so schon genug provokante Themen im Film, und es war mir wichtiger, dass eine Verbindung zwischen Bob und dem Zuschauer entsteht. Es gibt da eine ‚Superhelden‘-Qualität bei ihm, die ich erhalten wollte. Bob war für viele Leute ein Held, für Leute, die krank waren, oder aus der SM-Szene kamen. Deshalb hat der Film auch diesen Kultstatus, weil Bob diese ‚Larger than life‘-Qualitäten besitzt. Er selbst spielte ja auch mit diesem Superhelden-Image. Jeder Mensch hat auch eine abstoßende Seite, aber es ist schwer, so was vernünftig zu integrieren.
Allerdings stammt viel von dem Material, was man in „Sick“ zu sehen bekommt, gar nicht von dir, sondern von Sheree. Schmälert das nicht deine Eigenleistung?
Nein, überhaupt nicht, gerade dieser Prozess hatte mich ziemlich gereizt, da mir klar wurde, wie interessant es sein könnte, mit diesem Material zu arbeiten. Sheree ist eine tolle Fotografin, sollten ihre Photos mal veröffentlicht werden, wäre das fast eine historische Aufarbeitung einer kompletten Szene in LA, aber als Filmemacherin war sie weniger versiert. Aber man kann die Welt von Bob durch ihre Augen sehen, durch das Material, das sie aufgenommen hat.
Sheree sieht das allerdings anders, ich fand im Internet folgenden Kommentar von ihr: „As co-producer of ‚Sick‘ I have mixed emotions about the film. Contrary to screen credits, I ‚directed‘ at least 58 minutes of the film over a period of 14 years. Kirby Dick came along when Bob was near the end, and I wanted another person to take on the role of documentor of Bob‘s life, as I wanted to be close to Bob without the burden of a camera in my hands. To my horror, not only did Kirby let me down – he was not present for the last three days of Bob’s life, so all the footage of Bob in the hospital was taken by me under much stress, he then took control of the footage and edited it to suit his own agenda. Kirby distorted the time line, left out some important details, and did his best to put me in an unfavourable light.“
Ich weiß, dass Sheree nicht gut auf mich zu sprechen ist. Es gibt Dinge, die wahr sind und andere nicht. Ich bin sehr früh in der Entstehungsphase des Film ihr ganzes Material durchgegangen. Bob, Sheree und ich kamen überein, so viel wie möglich davon zu verwenden. Es war tolles Material und passte gut in den Film, aber viel davon lag einfach unbenutzt rum, wie irgendwelche Homemovies. Ich habe regelmäßig Material davon in den Film eingefügt, und das hat sie auch gesehen, es gab deswegen nie Probleme. Erst als der Film herauskam, kamen diese Probleme auf. Vorher war sie eigentlich ganz glücklich, wie ich das Material verwendet hatte, und wie ich sie dargestellt hatte. Sicher hat sie die Sachen gefilmt, aber für einen anderen Zweck – diesen Film habe ich gemacht. Es gab nie eine Diskussion darüber, wer der Regisseur des Films ist. Aber es sind ein paar unglückliche Sachen passiert. Zum Beispiel hätte ich damals nie gedacht, dass man den Film auf dem Sundance Festival zeigen würde, oder dass er sogar einen Preis bekommen würde. Und da ich die erste Hälfte des Festivals immer interessanter fand, arrangierte ich, dass Sheree und die anderen in dieser Zeit anwesend waren, mehr konnte ich mir auch nicht leisten. Sheree fuhr dann wieder ab, und der Film bekam einen Preis, und sie war unglücklicherweise nicht mehr da. Dadurch gab es gewisse Spannungen.
Warum ich nicht da war, als Bob starb, hatte folgenden Hintergrund. Wir hatten ja keine Ahnung, wann Bob sterben würde, und sechs Monate zuvor akzeptierte man mich als Regisseur für ‚Guy‘, ein 1 Million Dollar-Film. Was passierte war, dass der Film zwei oder drei Tage bevor Bob starb in die Vor-Produktion ging. Ich hatte noch nie zuvor mit so einem Budget gearbeitet und konnte da nicht einfach weg. Ich hatte Sheree aber eine der Kameras gegeben, denn der Moment des Todes sollte unbedingt im Film sein. Für den Film war das letztendlich ein Glücksfall, denn wie sich herausstellte, waren die Photos, die Sheree stattdessen von Bobs Tod machte, viel besser, als wenn man es gefilmt hätte. Wie auch immer, ich will Sherees Beteiligung nicht schmälern, denn ihre Photos, ihr Filmmaterial und meine Beziehung zu ihr waren sehr wichtig, um den Film überhaupt machen zu können. Aber sie war nie der Regisseur des Films.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #53 Dezember 2003/Januar/Februar 2004 und Thomas Kerpen