Seit ihrem ´96er Debüt "Dischord 101" waren BLUETIP aus Washington. D.C. eine Band, die ich immer mit großem Wohlwollen verfolgte, verkörperten sie doch das Ideal einer Dischord-Band: eigenwillige, aber nicht unzugängliche Musik zwischen Punkrock und Post-Hardcore, integer und abseits der Trends, die da so kamen und gingen.
Mit "Join Us" von ´98 und "Polymer" von 2000 nahm der Vierer um Sänger und Gitarrist Jason Farrell drei hörenswerte Alben auf, mit "Post Mortem Anthem" ist kürzlich Nr. 4 erschienen, bei dem es sich aber leider um das Abschiedswerk handelt, eine Zusammenstellung von je fünf veröffentlichten und unveröffentlichten Songs.
Jason Farrell über das Ende seiner alten Band und die Pläne mit der neuen.
Jason, was geht?
Ich bin gestresst! Ich bin gerade umgezogen und habe erst seit gestern wieder einen Telefonanschluss. Ich wohne schon seit zwei Jahren nicht mehr in Washington, sondern in New York und habe erst jetzt eine schöne Wohnung gefunden. Zum Proben bin ich die letzte Zeit immer hin- und hergefahren.
Apropos Proben: Wie sieht´s aus mit BLUETIP? Das aktuelle Album erweckt den Eindruck, die Band sei Vergangenheit.
Wir hatten bei BLUETIP am Schlagzeug immer wieder Besetzungswechsel und mit Dave Bryson vor einer Weile endlich den richtigen Mann gefunden, der perfekt zu uns passte. Vor einem halben Jahr teilte er uns jedoch mit, er steige aus, und da wussten wir, dass wir ein Problem haben. Ich hatte keine Lust mehr auf noch einen neuen Schlagzeuger und stellte mir die grundsätzliche Frage, was ich da eigentlich mache mit dieser Band, ob es überhaupt noch Sinn macht und so weiter. Wir hatten schon immer viel über neue Songs debattiert, was nicht gerade eine produktive Arbeitsweise ist, und so entschloss ich mich, fünf Songs, die wir nie vollendet hatten, im Alleingang und nach meinen Vorstellungen fertigzustellen und sie mit fünf nicht mehr erhältlichen Tracks als viertes BLUETIP-Album zu veröffentlichen. Es ging in der Zwischenzeit dann doch noch ein bisschen weiter, denn mit Arif von REGULATOR WATTS fanden wir doch noch einen Drummer für die Europa-Tour und diverse Shows in den USA, doch letztendlich war mir dadurch nur klar geworden, dass ich nach sechs Jahren was Neues machen will.
Also sind BLUETIP Geschichte.
Ja... Nein, also wir sind von der letzten Tour zurückgekommen und anstatt neue Pläne zu schmieden, war uns nur klar, dass wir erstmal nichts machen. Ich kümmerte mich noch um das letzte Album, aber wir probten nicht mehr und jeder von uns fing an, mit anderen Leuten zu spielen. Ich denke, sechs Jahre und vier Alben sind eine okayne Bilanz für eine Band.
Das war jetzt aber immer noch kein richtiges Ja oder Nein.
Stimmt. Im Augenblick denke ich einfach, dass wir nicht wieder zusammen spielen werden, aber sicher kann ich das nicht sagen und vor diesem Hintergrund konzentriere ich mich lieber auf meine neue Band. Die heisst RETISONIC, wie der BLUETIP-Song auf dem letzten Album, und es ist ein Duo, bestehend aus mir und Joe, dem Drummer von GARDEN VARIETY, der einst auch mal bei BLUETIP trommelte und ebenfalls hier in New York lebt. Wir haben schon eine Menge Songs geschrieben, wollen ab dem Frühjahr live spielen, dann im Sommer eine EP rausbringen und im Herbst vielleicht nach Europa kommen. Mal sehen, ob das alles so klappt, aber die Chancen stehen ganz gut, denn im Gegensatz zu BLUETIP wissen Joe und ich genau, was wir wollen. Bei BLUETIP dagegen ging viel Energie dafür drauf, einfach mal loszurennen, ohne zu überlegen, ob das auch Sinn macht oder funktioniert. Es war interessant und aufregend, so zu arbeiten, und wir haben ja trotzdem was erreicht, aber es kann auch sehr frustrierend sein. Bei RETISONIC wissen wir schon recht genau, was wir wollen und wie wir klingen wollen.
Dischord nimmt ja aus Prinzip nur Bands aus Washington D.C., die Chancen einer Zusammenarbeit im Falle von RETISONIC stehen also nicht sehr gut, nehme ich an.
Richtig, das ist eine Grundregel bei Dischord, und es war schon etwas problematisch, als ich vor zwei Jahren nach New York zog. Wir argumentierten dann damit, dass die meisten Bandmitglieder, also drei von vier, in D.C. leben, haha. Das war damals ja auch bei GIRLS VS. BOYS ein Problem, die wohnten dann auch in New York, und ich akzeptiere dieses Dischord-Prinzip absolut. Und so freunde ich mich jetzt mit dem Gedanken an, mit RETISONIC mit einem neuen Label zu arbeiten.
Welche Rolle spielt denn die Musik in deinem Leben?
Eine große, aber nicht in finanzieller Hinsicht. BLUETIP war eine Band, die sich getragen hat, also wir konnten Flugtickets und Bandbus und so weiter bezahlen und mussten auf Tour nicht hungern, wobei wir immer sehr sparsam waren, so dass wir mit den Eintrittsgeldern auch hinkamen. Für die Miete hat´s aber nie gereicht, wir mussten also alle nach einer Tour wieder richtig ranklotzen, um finanziell über die Runden zu kommen. Wir haben auch immer versucht, möglichst alles selber zu machen, so dass wir jeden Aspekt der Band unter Kontrolle haben.
Und welche Priorität hat die neue Band in deinem Leben?
Das versuche ich gerade für mich selbst zu klären. Sechs Jahre lang habe ich alles in meinem Leben der Band geopfert: mir war egal, wo ich wohnte, mir war egal, wann und was ich arbeitete, es musste sich alles der Band unterordnen. Ich wohnte in einer richtig schäbigen Kellerwohnung, die eben mal $100 kostete, aber den Vorteil hatte, direkt neben dem Proberaum zu liegen. Das war einerseits praktisch, andererseits fehlt dir völlig die Distanz zu dem, was du tust. Du fängst dann an, alles was mit der Band zu tun hat persönlich zu nehmen, ärgerst dich über jede schlechte Besprechung, fasst die als persönlichen Angriff auf. Aber das ist echt nicht gesund auf Dauer, und als mir dann klar war, dass BLUETIP wohl Geschichte sind, war ich einerseits in Trauer, andererseits hatte ich auch das Gefühl, als sei eine große Last von meinen Schultern genommen. Ich habe dann erstmal versucht, mein Leben auf die Reihe zu bekommen, und habe jetzt mit der neuen Band das Gefühl, dass alles ganz gut läuft.
Du hast dich bei BLUETIP auch um die grafische Gestaltung gekümmert und da echt einen sehr guten Job gemacht, aber auch für andere Bands gearbeitet.
Ja, das ist auch mein "normaler" Job. Ich arbeite als Grafiker und baue am Rechner für andere Bands die Cover zusammen. In letzte Zeit habe ich unter anderem für AT THE DRIVE-IN das "Relationship Of Command"-Cover gemacht, die letzten fünf FUGAZI-Cover und auch die meisten anderen Dischord-Releases. Dann habe ich für DeSoto gearbeitet, unter anderem BURNING AIRLINES und JUNO, und noch verschiedene andere Sachen. Damit bezahle ich die Miete, und da ich viel auf Tour bin, lerne ich ständig andere Bands kennen, die mich dann für sich arbeiten lassen, und das ist ganz okay. Darüber hinaus arbeite ich noch für eine Firma hier in der Stadt, die mich mal hierhin, mal dahin schickt, um bei anderen Firmen als Grafiker auszuhelfen.
Was werden wir denn von RETISONIC musikalisch erwarten können? Wird es da eine musikalische Kontinuität von BLUETIP zu RETISONIC geben?
Ja. Ich schreibe die Songs, spiele Gitarre und singe, und da die meisten BLUETIP-Songs auf Songideen von mir zurückgehen, wird es bei der neuen Band nicht anders sein. Nur ist es jetzt viel leichter für mich, da ich meine Ideen nicht gegen drei andere Leute durchsetzen muss. Manche Lieder werden also nach BLUETIP klingen, andere nicht, da ich viele Ideen dort nie umsetzen konnte. Bei BLUETIP hatten wir uns irgendwie nie getraut, einen straighten Hardcore-Song zu spielen, aber ich liebe Hardcore immer noch, und so kann es jetzt auch mal in diese Richtung gehen. Andererseits liebe ich auch schöne Melodien und Harmonien, was ich bei BLUETIP auch nicht ausleben konnte, und so wird das sich jetzt auch ändern.
Jason, danke für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #46 März/April/Mai 2002 und Joachim Hiller
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