Die BLACKBERRIES um den Solinger Sänger/Multi-Instrumentalisten und Songschreiber Julian Müller haben sich als feste Größe in der „Neo-Kraut“- und Psychedelic-Rock-Szene etabliert. Mit dem aktuellen Album „Vorwärts rückwärts“ haben sie sich nach längerer, pandemiebedingter Pause zurückgemeldet. Zudem ist Müller beteiligt an Bands wie Suzan Köchers SUPRAFON und im Umfeld der „Rockcity Is Electric“-Projekte als „Szene-Historiker“ tätig. Nun äußert er sich über die Entstehung des Albums, die kreativen Prozesse und blickt auf künftige Projekte.
Gut vier Jahre sind seit eurem letzten Release „Disturbia“ vergangen. Die Welt ist seitdem eine spürbar andere geworden, nicht zuletzt durch die Pandemie. Wie hat sich das in eurer Produktionsweise niedergeschlagen?
Aufgenommen haben wir die Platte tatsächlich schon vor der Pandemie. Dadurch, dass dann so vieles stillgelegt werden musste, haben wir die Zeit genutzt, um an den Mixen zu feilen. Wir hatten das Gefühl, dass wir die Energie unserer Live-Shows bislang nie so richtig auf Platte einfangen konnten. Ich glaube, dieses Mal sind wir dem sehr nah gekommen. Wir haben alle Songs live in einem Raum eingespielt und nur noch hier und da ein paar Overdubs hinzugefügt. Es sind dabei einige magische Momente entstanden, die nur im direkten Zusammenspiel passieren konnten.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema „Krieg“ durch viele Nummern des Albums. Lag es für euch bereits in der Luft, dass es so kommen würde?
Das Thema Krieg ist ja leider allgegenwärtig. Die Brutalität und Sinnlosigkeit und die Frage, wie man so etwas im Nachhinein erklären und rechtfertigen will, sind etwas, das mich immer wieder beschäftigt. „After the war“ haben wir schon auf der Tour zu „Disturbia“ 2019 live als „Blick in die Zukunft“ gespielt. Ich meinte damals eigentlich einen musikalischen Blick und habe nicht geahnt, dass das auch textlich prophetisch sein würde.
„Vorwärts rückwärts“ ist ein hektischer, unentschlossener Titel, der mit Richtungslosigkeit assoziiert werden kann. Ganz im Gegensatz dazu stehen die in sich selbst ruhenden Vibes des Albums. Bis auf gelegentliche Ausbrüche, etwa beim krawalligen Finale von „Vorwärts“, bleibt ihr im gechillten Midtempo. Ist das bewusst so angelegt, als Kontrast?
Die Idee von ständiger Bewegung, in der wir uns befinden, zieht sich thematisch auch durch das Album. Manchmal habe ich das Gefühl, dass gewisse Weiterentwicklungen uns eher zurückwerfen. Manchmal ist es auch gut zurückzuschauen, nicht ständig hektisch voranzulaufen und am Ende gar nicht mehr zu wissen, wo man eigentlich hin möchte. In dem Song „Vorwärts“ geht es zum Beispiel darum, dass man immer weiter und schneller läuft, um den Anforderungen standzuhalten, auch wenn es sowieso nie reicht. In „The moor“ geht es um Eskapismus und Entschleunigung. Und diese verschiedenen Komponenten von Bewegung, Stillstand und Erholung stecken für mich alle in der Dualität dieses Titels.
Zum ersten Mal wird, wenn auch nur bei anderthalb Nummern, auf Deutsch gesungen. Warum nicht mehr davon? Wegen der internationalen Fanbase oder sind die Skrupel vor deutschem Befindlichkeitskitsch doch zu groß?
Wir haben musikalisch immer gemacht, was wir wollten. Dadurch saßen wir auch gerne mal zwischen den Stühlen und haben nicht so ganz irgendwohin gepasst. Deutschen Bands, die englisch singen, wird ständig gesagt, dass sie es besser mal auf Deutsch versuchen sollten, weil sich das besser vermarkten lässt. Für mich war aber klar, dass ich das nur dann mache, wenn ich dazu Lust habe und inspiriert bin und nicht, um erfolgreicher zu werden. Selbst wenn das irgendwie funktioniert hätte, möchte man doch nicht mit etwas erfolgreich sein, hinter dem man gar nicht steht. Zu dieser Platte hatte ich dann diese Textideen auf Deutsch, die sich richtig angefühlt haben und auf die wir alle Lust hatten. Mittlerweile habe ich genug Songs geschrieben für eine komplette Platte auf Deutsch und ich kann es kaum erwarten, daran weiterzuarbeiten. Übrigens war schon auf unserem 2016er-Album „Greenwich Mean Time“ der Song „Rhabarbara“ auf Solinger Platt drauf.
Neben deinen eigenen musikalischen Arbeiten bist du auch gelegentlich als Produzent tätig, unlängst hast du Jay Otways Album „World On Fire“ aufgenommen. Wie gehst du an solche Produktionen heran?
Bislang habe ich vor allem Solo-Singer/Songwriter produziert, für die ich auch die Songs arrangieren und viele der Instrumente selbst spielen konnte. Da sie meinen Stil mochten, hatte ich freie Hand und konnte ihre Songs nehmen und sie so umsetzen, wie es natürlich aus mir herauskam. Ich durfte da viel von meinen Visionen einfließen lassen. Allerdings kann ich mir auch gut vorstellen, in Zukunft mit Bands zu arbeiten, wo meine Rolle eine andere sein könnte.
Die BLACKBERRIES setzen in der Regel auf eine Vintage-Backline, lediglich Joscha Justinski scheint mit seinen digitalen Keyboard-Sounds dagegen „aus der Zeit gefallen“. Wie nutzt ihr die Spannung zwischen „alt“ und „modern“ zu euren Gunsten?
Unser Ziel ist es nicht, den Sound einer bestimmten Ära möglichst perfekt nachzustellen, sondern uns von verschiedensten Einflüssen – nicht zuletzt dem Hier und Jetzt – inspirieren zu lassen, die dann etwas ergeben, das unsere eigene Handschrift trägt. Verweise, Zitate und Vorlieben lassen sich natürlich erkennen und die wollen wir auch nicht krampfhaft verstecken. Letztendlich geht es um den kreativen Prozess – wir suchen immer wieder neu nach der Art und Weise, die zu uns passt und uns herausfordert. Und das kann ein digitaler Aufnahmeprozess mit alten Instrumenten sein oder auch ein Kassettenrecorder oder eine Bandmaschine. Letztendlich eröffnet einem moderne Aufnahmetechnik ja Möglichkeiten, Platten zu machen, die in dieser Form früher gar nicht umsetzbar gewesen wären. Und das gibt uns kreative Freiräume – aber manchmal ist es eben auch die Reduktion eines Zweispur-Recorders, die einen inspiriert. Wir leben im Hier und Jetzt und sind beeinflusst von allem, was um uns herum passiert. Wenn man dafür offen ist, macht man automatisch Musik, die ganz klar von der Gegenwart geprägt ist und damit auch in diese Zeit gehört. Generell geht es uns bei den Instrumenten – zugegebenermaßen neben dem Look – vor allem um den Sound und die Individualität. Alte Instrumente, Verstärker und Effektgeräte sind oft unberechenbarer, machen merkwürdige Dinge, sind weniger von der Stange und prägen auch die Art, wie man spielt.
Für viele eurer Videos, aber auch für Bandfotos habt ihr auf Jens Vetter zurückgegriffen. Was macht dessen Bildsprache so speziell, was bedeutet das Visuelle für die Bandidentität und wofür braucht man heutzutage überhaupt noch Videoclips?
Mit Jens und seinem Bruder habe ich vor vielen Jahren die BLACKBERRIES gegründet. Die beiden sind zwar nicht mehr dabei, aber wir haben uns nie aus den Augen verloren und mit Jens mache ich auch heute noch – unter anderem bei Suzan Köchers SUPRAFON – zusammen Musik. Seine bevorzugte Bildsprache – das Klare und Direkte – passt gut zu meinen Texten, die häufig auch weniger abstrakt sind und Dinge direkt ansprechen. Generell finde ich es wichtig, wenn eine Band einen Look hat und etwas ausstrahlt. Das muss nicht heißen, dass man sich verkleidet. Genauso wie man sich Gedanken macht, wie ein Plattencover designt wird, kann man sich auch Gedanken darüber machen, wie man auf der Bühne aussehen möchte oder wie ein Video gestaltet werden soll. Das sind alles Puzzleteile, die dann ein Gesamtkunstwerk ergeben. Ich selbst finde es faszinierend, Musikvideos von anderen Bands zu gucken und zu sehen, wie dort die Komponenten Musik und Visualität zusammenkommen. Deswegen macht es mir auch selbst viel Spaß, wenn wir für unsere Musik eine weitere Dimension erschaffen.
Es ist schön, dass auch nach dem Tod von Henry Storch das Unique-Label mit seiner langen Tradition für Sechziger-Sounds weiterhin aktiv bleiben konnte. Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit dem Label für euch? Wollt ihr dem treu bleiben? Welche Releases habt ihr noch in der Pipeline?
Henry war einer der Ersten, der uns wirklich eine Chance gegeben hat, zuerst mit PALACE FEVER. Und er hat dabei überhaupt keinen Druck aufgebaut. Wir konnten künstlerisch genau das tun und lassen, was wir wollten. Seine Unterstützung wird uns für immer viel bedeuten. Das erste BLACKBERRIES-Album auf Unique, „Greenwich Mean Time“ von 2016, war direkt eine Doppel-LP und hatte einen Song auf Solinger Platt drauf. Seine Einstellung war: „Wir machen jetzt einfach mal eine Platte, gucken, was passiert, und dann machen wir noch eine.“ Seit wir mit Unique zusammenarbeiten, ist auch Ina Schulz dabei, die auch heute noch unsere wichtigste Ansprechpartnerin ist. Sich zu vertrauen und zu schätzen, ist einfach eine schöne Grundlage, um zusammen Musik zu veröffentlichen. Gerade haben wir angefangen, an unserer nächsten Platte zu arbeiten, ein neues Album von Suzan Köchers SUPRAFON steht an und vor kurzem haben wir eine Platte mit dem Solinger Soulsänger Hermann Daun aufgenommen, der 1968 seine erste Single mit der Band PROMOTION SOUL CONCERN veröffentlicht und in den Siebzigern mit Conny Plank gearbeitet hat. Außerdem habe ich einen Stapel Songs auf Deutsch, die ich demnächst anfangen möchte aufzunehmen. Es steht also einiges an, auf das ich mich schon sehr freue.
Als verhältnismäßig „unbekannte“ Band ist es euch gelungen, Auftritte in den USA, Kanada und selbst in China an Land zu ziehen. Dazu noch diverse TV-Auftritte, nicht zuletzt im „Rockpalast“. Seid ihr so gut vernetzt, wer managet das bei euch?
Wir sind schon recht lange dabei und mit der Zeit trifft man natürlich immer mehr Leute. Wenn man aus Solingen kommt, ist es extrem wichtig, möglichst schnell überregionale Kontakte zu knüpfen, wenn man rumkommen möchte. Aber das dauert oft seine Zeit. Wir haben mit Unique Records als Label und Magnificent Music fürs Booking zwei tolle Partner:innen, die uns unterstützen, und zusammen geben wir unser Bestes. Wenn man dranbleibt, gehen nach und nach immer mehr Türen auf, die vielleicht zu neuen Türen führen. Neben dem „Rockpalast“ waren gerade die Trips ins Ausland für uns sehr prägend. In Ländern wie den USA oder China zu spielen, ist einfach etwas Besonderes, das uns als Band vorangebracht und zusammengeschweißt hat. Außerdem haben wir dort viele Erinnerungen gesammelt, die wir niemals vergessen werden.
Du schreibst Songs und spielst in weiteren Bands. Wie kanalisierst du dabei deine Kreativität? Wann weißt du, ob eine Idee besser zu SUPRAFON oder den ’Berries passt?
Manchmal ist es sofort klar, weil der Song eine bestimmte Stimmung oder Energie hat, die klar zu der einen oder anderen Band passt. Manchmal ist es einfach Zufall, wann die Idee entsteht und wer sie zuerst hört oder mit wem ich sie zuerst ausprobiere und weiterentwickle. Und es gab auch schon Songs, die ich zuerst mit der einen Band gespielt habe, die aber im Endeffekt bei der anderen gelandet sind, weil sie dort einfach besser hingepasst haben. Bei der Frage, ob SUPRAFON oder BLACKBERRIES, kommt es ja auch sehr darauf an, ob der Song besser zu Suzans oder meiner Stimme passt. Es ist auf jeden Fall schön, verschiedene Möglichkeiten zu haben, sich inspirieren zu lassen und mit anderen Musiker:innen zusammen zu arbeiten und zu schreiben.
Du hast das „Rockcity Is Electric“-Projekt, also die Ausstellung/Show über die umtriebige Musikszene Solingens mit aus der Taufe gehoben. Was war für dich die wesentlichste Erkenntnis daraus? Und wie weit ist das geplante Buch über „Klingenstadt-Rock“ bereits gediehen?
Die Idee zu diesem Projekt habe ich schon länger mit mir herumgetragen und als der erste Lockdown kam, hatte ich plötzlich Zeit dafür. Ich habe angefangen, alle möglichen Leute zu interviewen und das alles in eine Chronologie zu bringen. Aus dieser ursprünglich für das Solinger Tageblatt geschrieben Zeitungsreihe haben sich unter anderem in Zusammenarbeit mit Jens Stuhldreier und Jens Vetter viele weitere Projekte entwickelt: eine Ausstellung, ein Film und eine Show im Solinger Theater und Konzerthaus, bei der wir viele Musiker:innen wie Harry Rag von S.Y.P.H., Hermann Daun von PROMOTION, Lina Holzrichter von LYSCHKO und Suzan Köcher zusammen in eine Show gebracht haben. Ich habe bei dem Projekt wahnsinnig viel gelernt, weil ich zum einen viele Gemeinsamkeiten erkennen konnte, aber auch von ganz anderen Ansätzen profitieren konnte. Mich haben zum Beispiel die Gespräche mit Harry Rag dazu gebracht, mehr auf Deutsch zu schreiben. Und so kitschig es klingt, ist Musik natürlich ein großartiger gemeinsamer Nenner, selbst wenn man vordergründig ganz andere Sachen macht und mag. Man hat eben doch sehr viel gemeinsam und es war schön, dieses Gemeinschaftsgefühl – gerade in Zeiten der Pandemie – so deutlich zu spüren. Und das Buch? Ich bin dran und auch schon sehr weit mit meinen Texten – es sind aber noch Gastbeiträge geplant, die Fotos müssen ausgewählt und abgeklärt werden und es gibt auch noch ein paar Ecken, in die ich noch nicht genügend geschaut habe. Ich bin gespannt, wo das alles noch hinführen wird. Solingen hat jedenfalls eine faszinierende Musikgeschichte, die einige Überraschungen zu bieten hat, die man auf den ersten Blick leicht übersehen kann.
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