Der Herbst: die Blätter werden gelb, rot und fallen irgendwann von den Bäumen, es wird kälter und man kramt den dicken Pullover wieder aus dem Schrank. Wie gut, dass es dann auch immer wieder Künstler gibt, die einen in dieser trüben Zeit nicht alleine lassen. Mit „Reverence For Fallen Trees“ erzeugt die niederländische Band BLACK ATLANTIC um Geert van der Velde eine intime und zerbrechliche Atmosphäre, die einen zudecken möchte, wenn man allein im Bett liegt. Musikalisch irgendwo zwischen ALBUM LEAF und etwas völlig Neuem, nehmen einen die zehn Songs mit auf eine Runde Gedankenkino. Am Eingang steht van der Velde und lässt gerne jeden herein, der sich auf BLACK ATLANTIC einlässt.
Zunächst möchte ich dir zu eurem neuen Album gratulieren: Es fühlt sich gut an, „Reverence For Fallen Trees“ zu hören. Mit eurer Hilfe kann man scheinbar für eine Weile die Welt um sich herum vergessen.
Vielen Dank. Es ist irgendwie lustig, dass du beim Hören des Albums das Gleiche empfindest, wie die anderen Leute, mit denen wir darüber gesprochen haben. Interessant, welchen Effekt unsere Musik auf andere hat.
Vielleicht liegt es gerade an der intimen Stimmung, die ihr auf dem Album erzeugt, oder daran, wie sehr Gitarre, Klavier und ein wenig Schlagzeug einen doch in ihren Bann ziehen können. „Reverence For Fallen Trees“ klingt wirklich alles andere als hektisch.
Es war unsere Absicht, ein intimes Album aufzunehmen. Das perfekte Adjektiv, mit dem ich die Platte beschreiben würde, wäre „nachdenklich“ oder „gedankenvoll“. Man kann, während man das Album hört, gut einfach nur da sitzen und vor sich hin starren und seine Gedanken schweifen lassen. Natürlich nehmen einen die Lyrics immer ein Stück mit und stoßen einen zu einem Gedanken an. Generell kann man sich und seinen Gedanken aber freien Lauf lassen.
Wie entwickelt ihr diese Stimmung während des Aufnahmeprozesses?
Bei ein paar Songs hatte ich schon Texte geschrieben, bevor wir damit anfingen, uns die passenden Gitarren- oder Klavierparts zu überlegen. Das hat dann immer die Stimmung vorgegeben. Ich hatte wirklich eine Menge Notizbücher voll mit Texten, die ich am Ende dann doch zum größten Teil verworfen habe. Ich wollte während der Aufnahmen die Gedanken verwenden, die ich gerade im Kopf hatte. Es gab da zum Beispiel die Situationen, dass ich in einer bestimmten Stimmung war und eine Melodie vor mich hin summte. So entstand dann zu allererst die Gesangslinie und danach die Texte und der ganze Rest. Unterm Strich ist die Zahl der Songs, in denen die Instrumente quasi die Stimmung diktieren, und der anderen, bei denen es der Gesang tut, ausgeglichen.
Wenn ihr schon ein so intimes Album aufgenommen habt, müsst ihr doch super in der Band harmonieren, oder?
Dadurch dass meine Frau Megan mit in der Band ist, bin ich sowieso total ausgeglichen ... Aber du hast schon Recht, mit Kim und Stef fühle ich mich auch sehr eng verbunden. Vor allem Kim ist so was wie ein adoptierter Sohn – er ist noch sehr jung, dafür aber schon ein fantastischer und sehr vielseitiger Musiker. Stef ist ein alter Freund , mit dem ich schon immer Musik machen wollte. Ich würde sagen, das passt bei uns alles im Moment richtig gut.
Obwohl du in der Band international vielleicht am bekanntesten bist, entstand bei mir nie das Bild, dass es sich bei BLACK ATLANTIC um dein Soloprojekt handelt. Vor allem nicht, seitdem ich gesehen habe, wie gut ihr auf der Bühne harmoniert.
Vielleicht liegt das auch daran, dass ich auf „Reverence For Fallen Trees“ nur ganz selten wirklich alleine zu hören bin. Wir haben in jedem Song diese Chöre, wo jeder von uns die Hauptstimme singt. Live werde ich zwar in den Vordergrund gemixt, aber eigentlich ist da kein Unterschied zwischen mir und den anderen. Kim und ich sind die beiden Hauptsongwriter in der Band und auch die anderen sind stark in den Schreibprozess involviert. Für uns ist auch die Stimme nur das Skelett des Songs. Die Instrumente sind das Fleisch, die Nerven und die Muskeln, die den Körper erst wirklich komplett machen. Unsere Stimmen geben die Stimmung vor, die wir mit BLACK ATLANTIC erzeugen wollen, deswegen arbeiten wir auch viel mit Harmonien.
Im ersten Song „Baiulus“ kann man das Knarzen der Dielen des Studios hören, in dem ihr aufgenommen habt. Dadurch wird man als Hörer noch tiefer in die Musik hineingezogen. Es scheint, man säße mit euch in einem Raum.
Viele der Bassdrums, die man auf dem Album hören kann, sind eigentlich keine richtigen Bassdrums. Das sind vielmehr wir, die mit den Füßen auf den Boden stampfen. Wir haben das dann verstärkt für das Album benutzt. Überhaupt war die Holzhütte, in der wir aufgenommen haben, irgendwie immer ein Teil des Albums. Wir hatten auch nie vor, Sachen wie das Knarzen der Dielen aus den Aufnahmen zu löschen. Stattdessen wollten wir ein organisches Album, das in einer natürlichen Umgebung entstanden ist. Zumindest in einer Umgebung, in der wir uns zu Hause fühlen. Wenn du bei „An ocean and peril“ genau hinhörst, kann man sogar das Feuer im Hintergrund knistern hören. Es war damals nämlich richtig kalt und wir haben den Kamin angemacht.
Du hast vorhin von „nachdenklich“ und „gedankenvoll“ gesprochen, als es um die Stimmung eurer Musik ging. Versuch doch bitte mal, eure Songs mit Bildern zu beschreiben, die in deinem Kopf entstehen, wenn du eure Musik hörst.
Wenn ich das ganze Album beschreiben sollte, würde ich sagen, dass es mir wie ein Flug vorkommt. Ich kann aber auch eher die Musik beschreiben, als dass mir einzelne Bilder einfallen, und so würde ich sagen, dass das Album fließt. Es steht nie still und ist auch nicht fest im Boden verankert. Es fliegt. Ja, ich glaube, das ist ein gutes Bild.
Aber es ist nicht so, dass du es bist, der gerade „fliegt“ und sich dabei andere Personen und Plätze anguckt?
Manchmal schon. Bei einigen Songs sind da natürlich diese speziellen Themen, über die ich schon nachgedacht habe, als ich die Texte geschrieben habe. Daran würde dann auch meine Fantasie scheitern, da mich die Songs dann doch an konkrete Dinge erinnern. Ich möchte aber nicht darüber sprechen, weil ich es für wichtig halte, dass den Gedanken des Hörers keine Schranken auferlegt werden. Manchmal erkläre ich auf der Bühne, wovon zum Beispiel ein Songs wie „Old, dim light“ handelt – nämlich diesem Gefühl, das einen umschleicht, wenn man sich richtig zu Hause fühlt oder nach einem verregneten, langen Arbeitstag nach Hause kommt.
Was steckt hinter dem Albumtitel„Reverence For Fallen Trees“?
Die Bäume im Titel sind meine Großeltern und die Ehrfurcht, die ich ihnen gegenüber empfinde. Ich wollte den Titel ein wenig offen halten, damit er nicht so speziell klingt. Meine Großeltern sind im letzen Jahr gestorben. Ich hatte eine schöne Kindheit und damals auch eine interessante Beziehung zu meinen Großeltern: Sie traten immer eher an der Peripherie meiner Familie auf. Es war mehr eine Art eine stumme Präsenz, die sie ausstrahlten. Es war so wie bei Bäumen, die man auch nicht immer bewusst wahrnimmt, bis sie plötzlich verschwunden sind. Erst als sie gestorben sind, wurde mir bewusst, was sie mir und meinen Eltern wirklich bedeutet haben. Ich wollte ihnen mit diesem Albumtitel eine letzte Ehre erweisen. Einer der Songs auf dem Album handelt auch von meiner Großmutter: Sie hatte die Angewohnheit, Blumen aus fremden Gärten zu klauen und sie dann zu verschenken. Es war sogar mal so, dass sie ihrem Nachbarn Blumen aus seinem Garten geschenkt hat, nachdem sie diese in der Nacht abgeschnitten hatte. Sie war wirklich gut drauf.
Wenn du jetzt Musik machst, fehlt dir da nicht der Lärm deiner Hardcore-Tage bei SHAI HULUD?
Wir haben mit BLACK ATLANTIC einige Rock-Songs aufgenommen, die aber nicht zu den anderen Songs gepasst haben. Also war es eher künstlerische Notwendigkeit. Es ging uns darum, ein homogenes Album zu veröffentlichen, was aber nicht bedeutet, dass ich nicht gerne richtig aufdrehe. Neulich war ich sogar noch mit meinen Freunden von SHAI HULUD in Asien auf Tour und es hat mir riesigen Spaß gemacht. Jedoch liegt mir die Musik, die ich jetzt mache, mehr. Aber wer weiß schon, wo wir mit BLACK ATLANTIC mal hinkommen werden.
Aber es ist doch auch so, dass deine Zeit bei SHAI HULUD viele Türen für BLACK ATLANTIC geöffnet haben, oder?
Das war ganz sicher so. Nur ist zu bezweifeln, ob es wirklich hilfreich für BLACK ATLANTIC war. Schon zu Beginn haben viele die Band nur als Projekt von mir abgestempelt und ich wurde oft mit Dallas Green oder Chuck Ragan verglichen – obwohl das meiner Meinung nach gar nicht geht. Beide sind ohne Zweifel fantastische Musiker, aber beiden hört man auf ihren Soloalben auch ihre Hardcore-Vergangenheit an. Bei BLACK ATLANTIC verfolgte ich einen ganz anderen Ansatz und ich denke, dass man eigentlich keine Verbindung zwischen SHAI HULUD und BLACK ATLANTIC sehen kann.
Ihr habt „Reverence For Fallen Trees“ zuerst zum kostenlosen Download angeboten, bevor es auf Vinyl und CD veröffentlicht wurde. Ist es nicht ein komisches Gefühl, seine Musik zu „verschenken“? Ihr habt schließlich Geld und Arbeit in die Sache gesteckt.
Wir haben in den Niederlanden das Glück, dass Musiker bis zu einem gewissen Grad finanziell von der Regierung unterstützt werden. Um das Album fertig zu bekommen, haben wir aber noch einmal mehrere tausend Euro in die Platte gesteckt. Jedoch wollte ich auch, dass das Album von so vielen Menschen wie möglich gehört werden kann. Ich sehe unsere jetzige Arbeit als Stützpfeiler unseres späteren Schaffens an: Wenn wir es jetzt schaffen, die Leute für uns durch gute Musik zu begeistern, beginnen sie irgendwann unsere Musik zu schätzen. Sie wissen dann, was sie bekommen, und sind dann auch vielleicht bereit, etwas dafür zu bezahlen. Es ist ein Angebot, das hoffentlich viele annehmen werden.
Aber finanziell ist das schon gewagt, vor allem wenn man irgendwann eine Familie davon ernähren will.
Das ist richtig. Aber da ich mehrere Sachen mache – ein Künstlerforum, Booking, Kinderbuch schreiben –, muss ich nicht krampfhaft darauf hoffen, dass jemand meine Musik so gut findet, dass er sie nicht irgendwo herunterlädt, sondern dafür bezahlt. Meine Familie ist glücklich und das ist das Wichtigste.
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