BALTIC ROCK

Foto© by Chris Fuhrmann

Punkrock und mehr in Litauen

Eigentlich hatte ich Joachim schon eine Weile genervt, mal eine meiner Bands in Litauen vorzustellen, aber da wir wegen Geldmangel bisher keinen physischen Tonträger vorzuweisen haben, hat er mir vorgeschlagen, einen Artikel über die lokale litauische Punk-Szene zu schreiben. Nun lebe ich zwar schon seit sechs Jahren in Vilnius* und bin auch musikalisch sehr aktiv, kenne die Punkbands aber eher als Zuschauer, denn als echter Insider. Litauisch ist zudem eine schwere Sprache, und auch wenn alle problemlos Englisch sprechen, bekommt man nicht immer alles mit. Da ich eigentlich nur drei Jahre bleiben wollte, hatte ich den Sprachkurs nach ein paar Stunden wieder aufgegeben. Ich möchte euch nun stattdessen mitnehmen auf meine eigene musikalische Reise durch Litauen. Dabei gibt es einigen Metal, ein bisschen Punk und viele seltsame andere Sachen. Und schamlos werde ich auch meine eigenen Bands unterbringen, die ich hier im Laufe der Zeit mit mehr oder weniger Erfolg hatte.

Ende 2017 kam ich beruflich mit Familie nach Litauen und machte mich sofort daran, mir eine Band zu suchen. Ich spiele seit 35 Jahren Bass (Klassiker: mit 15 einen Bass geliehen und zwei Wochen später der erste Auftritt) und habe schon alle Stile auf Amateurniveau gespielt. Tatsächlich stand ich bereits im Februar 2018 auf einer kleinen Bühne mit litauischen Liedern zum Gedenken an die „Singende Revolution“ 1990/91. Hier sollte man sich als Deutscher mal in die litauische Unabhängigkeitsbewegung einlesen, darüber wissen wir nämlich gar nichts und wundern uns dann, warum Gorbatschow hier kein bisschen beliebt ist – 1991 noch hat er Panzer nach Vilnius geschickt und es gab 14 Tote. Danach wurde es erst mal dünn. Ich hatte eine Vorspielen mit einem coolen Typen, der schnellen, vertrackten Thrash Metal spielen wollte, aber da konnte ich nicht mithalten ... Er hat dann später bei PEKLA und ALCOTOPIA gespielt. Er wird mir aber noch öfter begegnen.

Bis Sommer 2019 tat sich gar nichts, abgesehen von ein paar Jazzkeller-Jams mit dem Kontrabass. Dann saß ich auf dem PartySan Festival, wo ich seit ein paar Jahren als Drum- oder Guitartech arbeite, hinter der Bühne und dachte mir so, als eine kleine Grindcore-Band spielte: Das kann ich doch auch! Noch am gleichen Tag ein Post auf der litauischen Musiker-Facebook-Seite: „Looking for low talented musicians.“ Und dann kamen die Rückmeldungen! Ergebnis davon war ALUS SATANAS (das heißt so etwas wie „Biersatan“) und war stümperhafter Thrash Metal, der es auf zwei Songs brachte. Kann man bei YouTube finden. Danach suchten der Drummer Liviu und ich neue Musiker. Bei den Auditions tauchte Danas als Sänger auf. Als er hörte, dass ich auch ein bisschen Recording mache, fragte er, ob ich seinen Kumpel Eddie und ihn aufnehmen könnte, sie hätten ein paar Songs. Als wir dann dasaßen, fand ich die Musik ziemlich klasse und sagte, lass mich mal Bass dazu spielen. Kurz darauf waren wir zu viert komplett und sind bis heute zusammen als die BASTERDS. „Basterds Lithuania“ findet man gut bei Google.

Das war nun mein Einstieg in die litauische Musikszene. Da schon einige Songs fertig waren, dauerte es nicht lange, bis wir ein paar Konzerte spielten und ich mehr Leute kennen lernte. Besonders lieb gewonnen habe ich ein Festival, wo wir nun schon zweimal gespielt haben: Šerna tusas, was übersetzt ungefähr „wilde Sau“ heißt. Glaube ich ... Das ist ein kleines Zero-Kommerz-Fest. Die Bands bekommen eine Flasche Schnaps, als Eintritt bringt man einen großen Stein mit und verkauft wird nichts. Wenn jemand das Bier ausgeht, gibt es für 1 Euro einen Shuttle ins Dorf. Morgens Kaffee, Suppe umsonst, abends freier Selbstgebrannter und Buffet mit Mitgebrachtem der Besucher. Als Publikum 200 bis 300 Leute , was aber nach Corona anwuchs. Inzwischen kostet es auch 30 Euro für zwei Tage. Bei unserem zweiten Auftritt dort waren wir happy, den Slot am Samstag um 20 Uhr zu haben, als am Freitagabend ein Gast im See ertrank und abgebrochen wurde. Am nächsten Tag wurde neu sortiert und wir spielten um 17 Uhr. Schade, aber angemessen.

Auf dem Festival lernte ich Lina von PHRENETIX kennen, eine großartige Gitarristin und Frontfrau. Als ich erfuhr, dass sie Gitarre unterrichtet, buchte ich Stunden für meinen Sohn, der nie richtig auf den Geschmack gekommen war – nach ein paar Wochen übte er Tag und Nacht und ist heute deutlich besser als ich an irgendeinem meiner Instrumente. PHRENETIX sollte man mal antesten, die Band war im Herbst 2023 auf einer kleinen Europatour und verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit. Mit den BASTERDS geht es seitdem stetig weiter, aber leider ohne große Höhepunkte. Da in Litauen das Geld überall etwas knapp ist, versuchen wir seit Corona, selbst ein Album aufzunehmen, das aber immer noch Stückwerk ist.

Jetzt kommt der Punk ins Spiel. Bei einem Straßenmusikfestival sah ich eine Punkband aus alten Recken und ebenso war das Publikum drauf, Punks in den Vierzigern und älter, die ich noch nie irgendwo gesehen hatte – eine komplette Parallel-Szene. ARMATURA sind Punk-Legenden in Litauen, Grundtenor ihres Schaffens ist das Leben als Bauarbeiter und dabei zu trinken (soweit habe ich es verstanden). Sie nennen sich die einzige Stroike-Punk-Band Litauens (Baustellenpunk). Seitdem bearbeite ich den Sänger, dass wir mit ihnen auftreten wollen, was auch ein paar Mal fast geklappt hätte, aber eben nur fast.

Langsam bekam ich auch ein paar Dinge über die Punk-Unterströmungen in Vilnius mit. Leider am eigenen Leibe. Ich bemühte mich um einen Auftritt für die BASTERDS im XI20, kaum mehr als ein Kellerloch, aber sehr elitär – unser Hardrock war ihnen nicht recht und das ließen sie uns auch ziemlich schnöselig wissen. Es mag dann noch ein paar böse Worte gegeben haben ... seitdem bin ich dort als Kontakt verbrannt. Das XI20 ist schwer auffindbar unter dem größeren Kablys-Club und wird als alternatives Projekt betrieben, mit vielen Diskussionen und Abstimmungen, wer würdig ist zu spielen. Besonders publikumsfreundlich ist, dass die Konzerte in der Regel BYOB sind! Ein anderer wichtiger Club in Vilnius ist das nArauti – eigentlich der Rock- und Metalclub schlechthin. Dieser wird allerdings von einigen Punks boykottiert, da der Wirt sich um nichts als Bierverkauf kümmert und die Bands alles selbst stemmen müssen. Dafür ist man eben aber auch eben Veranstalter mit viel Freiheit und Kontrolle. CONTRA 98 zum Beispiel spielen aber dort, kürzlich erst wieder gesehen. Dazu muss man wissen, dass Fußball in Litauen eine totale Nullnummer ist, interessiert niemand – Basketball ist aber Religion! Folgerichtig ist CONTRA 98 eine Basketball-Ultras-Band, die auch die Antifa feiert: „Love Rytas – Hate racism“.

2022 hatte ich dann wieder einen schicksalhaften Moment, als ich backstage beim PartySan rumhing und auf litauischen Kleinanzeigenseiten surfte – ein Kontrabass aus Sowjetzeiten (1981), gebaut im Theater von Vilnius und total in Trümmern, für 90 Euro! Sofort zugeschlagen – seitdem habe ich zwei von diesen riesigen Hundehütten! Zu Hause in Vilnius einen Kontrabassbauer kontaktiert, der aber ablehnte, ihn instandzusetzen: Schrott und zu teuer. Also konnte ich wohl nicht viel Schaden anrichten und habe ihn selbst restauriert. Ziemlich grob und unprofessionell, er hat nur noch drei Saiten, jemand hat eine Schraube quer durchs Griffbrett gedreht, aber er funktioniert und mit Tonabnehmer und ein bisschen Verstärkung macht er Laune. Damit spiele ich nun seit einem guten Jahr mit Karolis und Stiklas von GANGRENA (Black Punk’n’Roll – was immer das auch ist ...) Psychobilly.

THE THUNDERCOCKS sind die einzige litauische Psychobilly-Band (in Lettland gibt es noch eine weitere: O’MORALES) und wir sind bisher moderat erfolgreich und haben jede Menge gute Laune. Wichtig zu erwähnen, weil es immer die erste Frage ist: THUNDERCOCKS haben nichts mit Sexismus zu tun, es klingt einfach cooler als „Thunderrooster“. Den Proberaum muss man erwähnen, er ist etwa neun Quadratmeter groß und befindet sich im Sigma-Komplex, einer ehemaligen sowjetischen Industrieanlage, in deren Katakomben jede Menge Proberäume sind. Nebenan proben DANCING CROW und auf der andere Seite NIGHT SLASHER. Hier begegnet mir mein erster Audition-Host wieder, der inzwischen aus den vormals schon erfolgreichen ALCOTOPIA eine neue Band geformt hat, NIGHT SLASHER, die aus dem Stand sehr guten Thrash Metal produzieren. Reinhören! Der Sigma-Keller in den Katakomben der Anlage ist ein Treffpunkt für Musiker aus dem gesamten Untergrund zum Proben, Abhängen, Feiern und Kommunizieren. Die Anlage ist ein großes Glück, denn auch in Litauen sind Proberäume rar.

Weitere Musikclubs in Litauen, in denen harte Gitarrenmusik läuft, sind schnell aufgezählt. In Vilnius gibt es noch das Loftas mit einer größeren Bühne, wo hauptsächlich kommerziell erfolgreichere Bands aus Litauen und international auftreten. In Kaunas ist noch der Lemmy Klubas, wo ich eines meiner besten Konzerte erlebt habe: Blaze Bayley, ex-IRON MAIDEN, mit seiner Musik und alten Maiden-Songs auf einer kleinen Bühne mit etwa fünfzig Gästen. Große Klasse, wie ein IRON MAIDEN-Konzert im Wohnzimmer! Toller Typ im Übrigen, nicht ganz freiwillig raus aus der großen Karriere, aber unermüdlich mit Herzblut weiter auf Tour.

Während ich den Artikel halb fertig habe, wurden meine THUNDERCOCKS noch zum Vilniaus Gatves eingeladen, das alternative Musikfestival fand 2005 zum ersten Mal statt. Die Idee der Veranstaltung war, die besten Bands der Vilniuser Oi!-, Ska- und Punk-Stile zusammenzubringen und die Street Culture zu unterstützen. Obwohl die Initiative ihren Ursprung in der Punkrock-Szene hat, laden die Organisatoren Vertreter aller Subkulturen ein. Und damit konnten wir endlich auch mit den erwähnten ARMATURA auftreten. Stars des Abends waren dann aber TORO BRAVO, Oi!-Punk aus Vilnius. Seit über 25 Jahren im Geschäft. Bassist und Gitarrist identisch mit ARMATURA, aber der Sänger Čiubas ist obercharismatisch und beschreibt sein Publikum als „ivairus, spalvingas, ivairaus amžiaus“ (diverse, colorful and of all ages) – sehr sympathisch.

TURETO SINDROMAS sah ich an dem Abend auch zum ersten Mal und musste auch gleich ein T-Shirt haben. Bis dahin wusste ich auch nicht, dass mit Aiste eine Frau an den Drums sitzt, die auch einige Vokalparts übernimmt. Kommt toll rüber. Meine THUNDERCOCKS spielten schon um 18 Uhr, wir waren aber recht zufrieden mit dem Publikum. Vielleicht hilft es auch , dass unser Sänger Bosistas zur Eröffnung und wann immer er Pause braucht von der Bühne herunter Wodka ausschenkte. Auch sonst geht die Karriere der THUNDERCOCKS voran. Psychobilly ist so etwas Schräges in Litauen, dass wir auch schon zweimal im öffentlich-rechtlichen Radio LRT zum Interview waren, wo auch zwei Songs mehrmals gespielt wurden. Vielleicht ist es um die litauische Musikszene doch nicht so schlecht bestellt?

Eine interessante Überlegung dürfte sein, ob und wie sich die Musik- und Konzertszene verändert durch die im Sommer 2023 beschlossene Stationierung von über 4.000 deutschen Soldaten samt Familien in Litauen. Diese wären nicht wie bei Einsätzen hauptsächlich auf Kasernen beschränkt, sondern würden bei einigen Jahren Anwesenheit wohl auch am sozialen Leben teilnehmen. Dies wäre wahrscheinlich kein so umfangreicher Einfluss wie die US- und britischen Soldaten in Westdeutschland mit ihrer Musik und den Radiosendern, aber wenn nur 100 von 4.000 regelmäßig auf Konzerte gehen, wäre das für eine solch kleine Szene ein Faktor. Und vielleicht ist ja der nächste Elvis, Bill Ramsey oder Lee Hollis dabei. Hoffentlich nur keine Onkelz-Epigonen.

Insgesamt bleibt zu sagen: Einerseits ist es schwer, als Ausländer Einblick in eine Szene zu bekommen, andererseits ist Litauen ein tolles Land mit tollen Menschen, die das Leben dort unglaublich schön und auch einfach machen. Wer die Chance hat, sollte nicht nur ein bisschen bei den angesprochenen Bands reinhören, sondern auch mal den Urlaub in Palanga (Vorsicht: keine Musik hier) oder Vilnius verbringen. Man erreicht Vilnius von Berlin, Frankfurt oder Nürnberg direkt und es gibt einige erschwingliche Hostels. Vilnius ist zwar nicht so billig, wie man erwarten könnte und wie es beim allgemeinen Durchschnittseinkommen angemessen wäre, aber von Deutschland aus gesehen schon in Ordnung. Ich gebe gerne Tipps und vielleicht trifft man sich mal vor einer Bühne hier!

*Full Disclosure: Der Autor des Artikels ist Bundeswehrsoldat und dient seit sechs Jahren in einem NATO-HQ in Vilnius.