14. Juni 2002, 18.00 Uhr, Köln, Underground. Der Support aus der Schweiz, die TREEKILLAZ, absolvieren gerade ihren Soundcheck, Georg von Deep Dive Music, irgendjemand von einem Hochschulradiosender, ein weiterer Typ von Viva und Leute von der spanischen Musikpresse warten mit mir auf ATTAQUE 77. Um 20 Uhr sind die Argentinier noch 150 Kilometer von Köln entfernt und niemand rechnet eigentlich mehr mit ihrem Auftritt im Underground. Aber es geschehen noch Zeichen und Wunder, und Mitch, der Booker vom Underground, drückt ein Auge zu und läßt die Band weit über den Zeitplan hinaus spielen. Das vorwiegend spanische Publikum ist entzückt und auch ich bin begeistert. Obwohl ich eigentlich gleich die Party verlassen wollte, aufgrund einer Interview-Alternative am darauffolgenden Tag im Hotel, kam es dann doch noch am selben Abend zu einem Gespräch mit dem Bassisten der Band, Luciano Scaglione.
Was genau steckt eigentlich hinter der Bandbezeichnung ATTAQUE 77?
1977 steht für den Start der Punkbewegung in England und in New York mit Bands wie THE SEX PISTOLS, THE RAMONES oder SHAM 69. Eine Art Tribut an das Jahr 1977, von dem alles aus ging, und das unsere Musik wesentlich beeinflusst hat.
In Argentinien seid ihr so was wie Rockstars. Wie lebt es sich dort mit diesem Status?
Wir leben in der Hauptstadt Buenos Aires und haben wirklich überall in Argentinien gespielt. Wir sehen uns als Argentinier, aber um Grenzen, Städte oder Länder kümmern wir uns nicht.
Ich bin immer sehr interessiert an der Szene in anderen Ländern. Erzähle mir davon doch bitte.
Die Punkszene wächst und es gibt immer mehr zu sagen und erade jetzt ist die Zeit günstig, um vieles zu verändern. Mehr denn je sind die Leute regelrecht verrückt auf Konzerte und reagieren sich ihren Frust durch Pogo ab. Zwei Stunden, in der sie die derzeitige beschissene Realität mal vergessen können.
War es früher für eine Punkband einfacher hinsichtlich der momentanen politischen und wirtschaftlichen Probleme Argentiniens?
Als wir anfingen, war noch das Militär an der Macht. Vor zehn Jahren entspannte sich alles etwas. Mittlerweile haben wir dieses Inflationsproblem und dadurch eine wachsende Armut. Unabhängig davon gibt es aber immer noch Bands und Künstler, die unentwegt ihren Weg gehen.
Inwiefern seid ihr persönlich von dieser Entwicklung betroffen?
Unsere Familien sind nicht so sehr von all dem betroffen, dennoch wird es für uns auch schwieriger, ausgebuchte Tourneen zu bekommen. Den Menschen fehlt einfach das Geld, umso mehr haben sie das Bedürfnis, Konzerte zu besuchen und Musik zu hören, und umso mehr Spaß haben sie an all dem, was wohl das Wichtigste dabei ist.
Was bedeutet „Punk“ in diesem Zusammenhang für euch?
Punk ist für uns das klassische D.I.Y-Ding. An sich war Punk ja immer eine Bewegung für Leute, die in der Gesellschaft keinen Platz fanden. Im Vergleich zu Pop oder Heavy Metal hat Punk nie einen richtigen Platz gefunden. So kann man behaupten, dass wir unseren eigenen Platz gefunden haben. Punk hat Zukunft, ganz anders als zu den Anfangszeiten 1977, mit den ganzen ‘No Future’-Typen. Glaube an dich selbst und an das, was du machst und arbeite daran. In Argentinien ist heute jeder irgendwie Punk. Waren vorher nur die Jugendlichen Gegner der Polizei und der Politik, stehen jetzt auch ihre Eltern hinter ihnen, die von der Regierung belogen und betrogen wurden. Wichtig ist, seine eigene Kultur, seine eigene Bewegung und seine eigene Musik zu haben.
In Argentinien werden eure Platten auf einem Major veröffentlicht. Warum wurde erst jetzt eine Platte für den deutschen Markt produziert?
Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass wir aus Südamerika sind und insgesamt mehr dem englischsprachigen und amerikanischen Markt Beachtung geschenkt wird. Wolverine und Deep Dive Music haben uns jetzt gezeigt, dass die Zeit für ATTAQUE 77 reif ist, auch in Europa Platten zu veröffentlichen und hier zu touren.
Warum enthält die Compilation „Cana“ keinen Song von eurem letzten Studioalbum „Radio Insomnio“?
Wir hatten bereits vor den Aufnahmen zu ‘Radio Insomnio’ die jeweils zwei besten Songs unserer bisherigen Alben für die Zusammenstellung ausgewählt.
Auf „Radio Insomnio“ beginnt fast jeder Song mit diversen Textpassagen, die ich aufgrund der Sprachbarriere nicht verstehe. Um was also handelt es sich hierbei?
Diese Textpassagen sind gesammelte Aufnahmen von Radioansagen verschiedenster Stationen in den unterschiedlichsten Ländern über ATTAQUE 77. Wir fanden, es wäre interessant, diese auf einem Album zu verwenden, um den Leuten zu zeigen, wo wir bereits auf Tour waren.
„Radio Insomnio“ – ist das eine spezielle argentinische Radiostation?
Nein. Damit ist das Medium Radio im allgemeinen und weltweit gemeint. Uns hat das Radio zu dem verholfen, was wir heute sind. Man kann kostenlos jede Menge neuer Bands kennenlernen und vor allem Independent-, Punk- und Underground-Sachen hören. Das sollte man zu schätzen wissen.
Einige eurer Plattentitel scheinen einen etwas christlichen Touch zu haben. Purer Zufall oder gibt es so was wie einen religiösen Background bei ATTAQUE 77?
Nein, überhaupt nicht nicht. Wir sind absolute Atheisten und hassen jegliche Art von Religion. Religion grenzt Menschen aus, somit kommt es zu Konflikten und diesen verdammten Kriegen überall auf der Welt. ‘Merry Christmas’ handelt genau vom Gegenteil und hat mit Frieden und Freude nichts zu tun. ‘Heaven Can Wait’ ist gegen die argentinische Polizei, die uns ständig im Nacken sitzt. Der Himmel wird allerdings trotzdem noch eine Weile warten müssen, da diese Bastarde uns nicht kriegen werden. Wir lehnen also Religion, Politik und alles, was die Menschen unglücklich macht, ab.
Einige Stichworte, zu denen ich von dir gerne jeweils eine kurze Stellungnahme hätte. Die SEX PISTOLS?
Großartig. Das Beste war ihre ‘Filthy’-Tour. Wir spielten 1996 mit ihnen. Eine Band aus den Siebzigern mit dem Sound der Neunziger. Sie machen keinen Hehl daraus, dass sie es nur der Kohle wegen machen. Verdammte Scheiße, wir alle machen das nur des Geldes wegen. Wir alle brauchen Geld, um zu leben.
MOTÖRHEAD?
Lemmy ist mein Daddy. Wir lieben ihn.
THE RAMONES?
Eine der größten und bedeutendsten Bands, die Punkrock hervorgebracht hat. Eine Band, die Musikgeschichte geschrieben hat.
DIE TOTEN HOSEN?
Sie waren mit uns auf Tour in Argentinien. Wir hoffen, im nächsten Jahr in Deutschland mit ihnen auf Tour gehen zu können.
Und welche deutschen Künstler kennt man sonst noch in Argentinien?
Nicht viele. DIE ÄRZTE und Nina Hagen fallen mir da gerade noch ein.
Wann kann man das erste Studioalbum mit neuem Material und einer darauffolgenden Tour in Deutschland erwarten?
Wir arbeiten derzeit an neuem Material und werden auf Wolverine im kommenden Jahr eine neue Platte veröffentlichen, mit der eine weitere Deutschlandtournee folgen wird.
Morgen endet eure erste Deutschlandtour. Was verbindet ihr nach dieser Zeit mit Deutschland?
Oh, wir haben viel deutsches Bier getrunken. Wenn man bedenkt, dass man uns hier in Deutschland nicht kennt, war das Publikum in jedem Club hervorragend. Die Leute gingen ab und forderten Zugaben. Was die Medien betrifft, da waren gut unterrichtete Rock’n’Roller und Punkrocker ganz klar an erster Stelle, sprich, wir hatten mit keinem Popmagazin ein Interview. Wir freuen uns auf nächstes Jahr und hoffen in noch mehr Clubs spielen zu können. Und vor allem wird mir folgender Sachverhalt in Erinnerung bleiben: Argentinien scheidet in der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft 2002 aus.
Vielen Dank für das Interview.
Danke an euch alle, die ihr euch für ATTAQUE 77 interessiert und wir hoffen natürlich euch im nächsten Jahr in Deutschland auf einer unserer Shows zu sehen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #48 September/Oktober/November 2002 und Simon Brunner
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