Rodrigo Alfaro ist genau der richtige Gesprächspartner für jemanden wie mich. Für einen aus der „Generation ‚Basket case‘“, der dank des gleichnamigen GREEN DAY-Songs überhaupt erst mit Gitarrenmusik in Berührung kam, sich dann insbesondere für Melodycore begeisterte und somit natürlich auch Fan der SATANIC SURFERS war. Jener Band, deren Kopf Alfaro war, und die mit MILLENCOLIN sowie NO FUN AT ALL zu den erfolgreichsten schwedischen Melodycore-Bands zählte und so dazu beitrug, dass das etwas hölzerne Label „Schwedencore“ entstand, das Bands aus Schweden bezeichnete, die kalifornisch klangen. „Klangen“ ist genau das richtige Wort, denn die großen Tage des Schweden- und Melodycores sind längst vorbei, die SATANIC SURFERS haben sich 2007 aufgelöst und die fünf Bandmitglieder gingen getrennte Wege. Für Rodrigo hieß das, sofort neue Bands zu gründen oder seine diversen Projekte zu intensivieren, die er schon zu Surfers-Zeiten verfolgte. So war er schnell mit ENEMY ALLIANCE aktiv, drummte für VENEREA und vertiefte sich insbesondere in ATLAS LOSING GRIP, eine wunderbar subtile Hardcore-Punkband, deren zweites Album „State Of Unrest“ soeben erschienen ist. Es ist schwer, ATLAS LOSING GRIP genau zu klassifizieren. Man neigt dazu, in ihnen eine politische Hardcore-Band zu sehen, weil das Artwork von „State Of Unrest“ um diverse Bilder von Protesten herum aufgebaut ist. Dann sind da aber diese verworren-persönlichen Texte, wegen derer es fraglich ist, ob ATLAS LOSING GRIP wirklich eine politische Band im üblichen Sinne sind. Rodrigo findet das jedenfalls nicht, allerdings sprach ich mit ihm auch ausführlich über seine Vergangenheit bei den SATANIC SURFERS – schließlich ist diese für einen aus der „Generation ‚Basket case‘“ mindestens genauso interessant wie ATLAS LOSING GRIP.
Rodrigo, wie hat sich die Auflösung der SATANIC SURFERS auf dich persönlich ausgewirkt?
Erstaunlicherweise habe ich erst lange nach der Auflösung der SATANIC SURFERS gemerkt, wie wichtig mir die Band war und welches Loch das in mein Leben riss. Das war ein ganz komischer Moment, denn ich hatte ja 17 Jahre bei den SATANIC SURFERS gespielt, ihre Texte geschrieben und gesungen, und trotzdem nie so richtig realisiert, wie sehr mir die Band ans Herz gewachsen war. Ich spielte ja parallel noch bei INTENSITY, veranstaltete Konzerte von Death Metal-, Hardcore- und Grindcore-Bands und veröffentlichte deren Platten auf meinem eigenen Label. Deswegen habe ich, so lange es die SATANIC SURFERS gab, auch immer einen, nun ja, emotionalen Abstand zur Band gehabt, weil mir INTENSITY, meine anderen Bands und die ganzen Metal-, Hardcore- und Grindcore-Bands mindestens ebenso sehr am Herzen lagen. Deswegen hatte ich auch lange das Gefühl, dass ich bei den SATANIC SURFERS „nur“ singen und texten würde, während ich mich innerlich sehr viel stärker den anderen drei Szenen verpflichtet fühlte. Insofern ging die Welt wegen der Trennung erst einmal nicht unter. Als mir aber irgendwann klar wurde, dass es mit den SATANIC SURFERS nun wirklich vorbei ist, merkte ich, was für eine wichtige Phase zu Ende gegangen war.
Kannst du das näher ausführen?
Die Surfers waren die kommerziell erfolgreichste Band, in der ich je gespielt habe. Auch wenn wir nicht den Plan hatten, Berufsmusiker zu werden, so war es doch ab Mitte der Neunziger möglich, und dadurch habe ich unvergessliche Dinge erleben dürfen. Die Musik, vorher mein Hobby, war jetzt mein Job und ich konnte mit meiner Band auf der ganzen Welt touren. Das war schlichtweg unglaublich, und wenn ich heute daran zurückdenke, dann vermisse ich die SATANIC SURFERS und die weltweiten Fans doch sehr.
Warum ging es mit den SATANIC SURFERS abwärts?
Puh, das ist schwer zu sagen. Ich habe das Gefühl, dass Melodycore ganz allgemein ab etwa 1999 mit einem Mal wieder out war. Es interessierte irgendwie keinen mehr, weswegen diverse Bands fix wieder aus der Mode waren. Dazu kam aber sicherlich auch das Filesharing, das natürlich Bands wie die Surfers bis ins Mark traf. In den Neunzigern hatten wir gut von den Plattenverkäufen leben können. Keiner wurde reich, aber mit ein paar tausend verkauften Einheiten war alles okay. Illegales Filesharing machte uns und anderen Bands aber einen Strich durch diese Rechnung. Die Plattenverkäufe waren unsere Lebensgrundlage, und auch wenn so keiner reich wurde, war es okay. Als sie wegbrachen, brach unsere Lebensgrundlage mit weg und das ruinierte die SATANIC SURFERS. Trotzdem ist es mir wichtig zu sagen, dass ich das Internet nicht verdamme. Es ist ein technologischer Fortschritt und man muss mit ihm leben, und darf sich nicht bloß beschweren. Schließlich bietet das Internet für junge Bands ja auch das Potenzial, ihre Musik mehr Menschen für wenig Geld nahe zu bringen, und das ist toll! Man muss nur aufpassen, dass man den Wert der Musik und der Texte nach wie vor schätzt und einen Song nicht bloß als inhaltsleere Datei ansieht.
Ich fand es fast überraschend, dass die Texte des neuen ATLAS LOSING GRIP-Albums sehr persönlich und selten explizit politisch sind.
Ich verstehe, dass man von mir politische Songs erwarte, schließlich schrieben die SATANIC SURFERS zum Ende hin immer ernstere Texte, die teilweise politisch waren. Außerdem waren auch INTENSITY schon immer eine hochpolitische Band. Und auch auf dem ersten ATLAS LOSING GRIP-Album gab es einige politische Statements von uns. Aber „State Of Unrest“ sollte anders sein. Es sollte ein Konzeptalbum werden, das politisch wie auch persönlich interpretiert werden kann. Das zentrale Thema des Albums ist, dass wir alle eben Menschen sind. Ob du es willst oder nicht, jeder von uns hat seine eigene Geschichte, seine eigenen Probleme und Frustrationen, und alles zusammen kanalisiert sich in unseren alltäglichen Entscheidungen. Dieses Thema versuchen wir im Artwork, den Texten und dem Albumtitel deutlich zu machen. In einem „state of unrest“ bist du einfach unruhig; deine persönliche Geschichte, die politisch sein kann, treibt dich um und lässt dich nicht los. Deswegen hat jeder Mensch, der im Coverartwork abgebildet ist, eine Bombe an der Stelle des Herzens. Diese Bilder, die Ästhetik des Artworks und die Zeichnungen von Protesten kannst du natürlich als politische Statements lesen. Das ist aber nur eine Lesart. Du kannst darin auch den sehr persönlichen Lebensweg und die sehr persönlichen Probleme sehen, die jeder von uns hat. Was die Texte betrifft, so versuche ich heutzutage, vielschichtigere Texte zu schreiben als früher. Und daher kommt wahrscheinlich auch deine Überraschung. Anders als zuvor geht es mir auf „State Of Unrest“ mehr denn je darum, den Hintergrund der einzelnen Texte zu verschleiern. Jedem Text liegt ja irgendeine Story oder irgendein Ereignis zugrunde, das die Lyrics inspiriert hat, und ich habe mich beim Schreiben hingesetzt und diese Storys und Ereignisse stark abstrahiert; sie mit Worten beschrieben, die keinen direkten Rückschluss mehr auf die Inspirationsquelle zulassen. Die eigentliche Bedeutung der Texte erkennt man damit nicht mehr, was gut ist, denn so kann sie jeder Mensch auf seine Art interpretieren.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #97 August/September 2011 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #118 Februar/März 2015 und Christina Wenig
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #117 Dezember 2014/Januar 2015 und Christina Wenig
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #81 Dezember 2008/Januar 2009 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #96 Juni/Juli 2011 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #88 Februar/März 2010 und Lauri Wessel