Vor rund zwei Jahren absolvierte ich mein Praktikum im Ox-Headquarter. Diese drei Monate waren die härteste Zeit meines Lebens. Tag für Tag musste ich übelste Schmähreden und Witzchen seitens der Verantwortlichen dieses Fanzines über mich ergehen lassen. Dabei wollte ich nur Farbe bekennen, die Karten sofort auf den Tisch legen, indem ich Woche für Woche in einem frisch gewaschenen ANTHRAX-Shirt in der Redaktion erschien. Es ist wahr: ich bin seit vielen Jahren eingefleischter Fan dieses Thrash Metal-Urgesteins und ich besitze mehrere T-Shirts der Band. Die meisten sind schon total verblasst und deformiert, trotzdem habe ich nie eines weggeschmissen sondern trage sie weiterhin offen zur Schau.
Seit Herbst 2002 fiebere ich einer neuen Platte des New Yorker Quintetts entgegen. Jetzt ist der Zeitpunkt meiner Rache gekommen. „We’ve come for you all“ steht seit Februar in den Läden, im März gab es eine Deutschland-Tour, und im Rahmen dieser traf ich Drummer Charlie Benante vor dem Kölner Konzert in der Live Music Hall. Dabei erwies sich das, neben Gitarrist Scott Ian, dienstälteste Bandmitglied als äußerst geduldiger Zeitgenosse. Denn obwohl mein Diktiergerät streikte und mir die Nervosität deutlich anzumerken war, beantwortete Charlie meine Fragen mit professioneller Gelassenheit.
Eigentlich hätten ANTHRAX allen Grund gehabt, nervös zu sein. Kaum einer hätte noch einen Cent darauf gegeben, dass die Band noch mal eine Platte herausbringt. Fast fünf lange Jahre zogen ins Land, seit das letzte Album „Volume 8“ veröffentlicht wurde. Zweimal verloren sie ihren Plattendeal, weil das jeweilige Label pleite machte. Für den 1995 gefeuerten Lead-Gitarristen Dan Spitz, der sich laut Charlie mittlerweile auf einem religiösen Trip befinde, konnte lange kein Ersatz gefunden werden. Erst 2002 wurde der Posten mit Rob Caggiano neu besetzt. Caggianno ist Mitglied des New Yorker Produzententeams Scrap 60, das auch für die Produktion des neuen Albums verantwortlich ist.
Schlagzeilen machten ANTHRAX in den letzen Jahren vor allem durch den nächtlichen Einbruch Scott Ians im Stadion der New York Yankees. Für das Entwenden einer Fußmatte bekam Ian eine saftige Geldstrafe aufgebrummt. 2001 rückte die Band durch die Kontroverse um den Bandnamen ins Blickfeld der amerikanischen Öffentlichkeit. Im Zuge der 11. September-Hysterie und der Angst vor weiteren Terroranschlägen mit biologischen Waffen wollten sich viele Leute im Internet über den gefährlichen Milzbranderreger (med. Anthrax) informieren. Unter der Domain www.anthrax.com fanden sie aber nur die Homepage einer New Yorker Heavy Metal-Band. Zahlreiche Besucher der Website forderten ANTHRAX auf, den Bandnamen zu ändern. „Plötzlich hatte der Name nicht mehr dieselbe Bedeutung wie noch zu unseren Anfangstagen“, erzählt Charlie. „Damals vor 22 Jahren dachten wir, ANTHRAX sei ein cooler Name, weil er nach einer harten Metalband klinge. Die meisten Leute wussten überhaupt nicht, was Anthrax eigentlich bedeutet, und dann verschicken ein paar Witzbolde anonyme Briefe mit einem weißen Pulver darin an irgendwelche Leute, und plötzlich ist der Name nicht mehr cool, weil niemand mehr uns, sondern eine tödliche Seuche damit in Verbindung bringt. Wir haben in der Band lange diskutiert, ob wir unseren Namen beibehalten sollten, kamen aber zu keiner Entscheidung. Letztendlich waren es unsere Fans, Freunde und Verwandte, die uns rieten, unter dem Namen ANTHRAX weiter zu machen. Es wäre schön, wenn die Leute mit dem Namen ANTHRAX in 20 Jahren die Band in Verbindung brächten und nicht die Seuche. Vorausgesetzt natürlich, dass sich in zwanzig Jahren überhaupt noch jemand an uns erinnert, haha.“
Auf jeden Fall ist die Band nach fünf „harten Jahren“, wie Charlie sagt, nicht in Vergessenheit geraten. Man merkt ihm und später auch der Band beim Konzert an, dass man schier überwältigt ist von der Resonanz der Fans: „Es ist unglaublich. Wir sind seit zwei Wochen auf Europa-Tour ohne einen zugkräftigen Support zu haben, unser neues Album ist seit vier Wochen draußen und fast jede Show ist ausverkauft. Und die Fans feiern die neuen Songs ab, als wären es unsere Klassiker.“
Den Enthusiasmus der Fans belegt auch folgende kleine Anekdote von Charlie, als ein Fan nach einem Konzert in Schottland eine Unterschrift des Drummers auf sein kurz zuvor im Moshpit gebrochenes Handgelenk haben wollte: „Ich war ganz verdutzt. Der Kerl sagte nur: Sign this! Sign this! Ich forderte ihn auf, sich zuerst behandeln zu lassen, aber er wollte nicht eher gehen, bevor ich unterschrieben hatte. Danach ist er einfach verschwunden. Ich hoffe wirklich, dass der Kerl noch zu einem Arzt gegangen ist.“
Dass das neue Album bei den Fans und in der Presse so gut angenommen wird, ist um so verwunderlicher, da ANTHRAX gar keinen Wert darauf legten, es irgendjemand recht zu machen: „Wir haben einfach das getan, worauf wir Lust hatten.“ Vor allem Charlie darf sich auf „We’ve come for you all“ richtig austoben. Der Opener „What doesn’t die“ treibt jedem Doublebass-Fetischisten die Freudentränen in die Augen, über den Drumpart bei „Nobody knows anything“ könnten Musikstudenten eine Diplomarbeit verfassen, „Black Dahlia“ zerstört jeden Lautsprecher mit aberwitzigen Blast Beats. Charlie versichert, dass er ohne technische Hilfsmittel ausgekommen ist: „Das heißt, bei ‚Black Dahlia’ hab ich mich zumindest von dieser norwegischen Death Metal-Band DIMMU BORGIR inspirieren lassen. Ich liebe dieses wahnsinnig schnelle Geknüppel mit dem hysterischen Kreischgesang. Das ist einfach durchgeknallter Scheiß.“
Für zwei Songs holten sich ANTHRAX auch wieder ihren langjährigen Freund Dimebag Darrell von PANTERA an Bord. „Dimebag wollte unbedingt bei ‚Cadillac Rock Box’ mitspielen“, erzählt Charlie. „In dem Song geht es einfach darum, mit einem aufgemotzten Schlitten durch die Gegend zu fahren, die Stereoanlage voll aufzudrehen, Mädels abzuschleppen, all der pubertäre Scheiß halt, der Spaß macht. Dimebag meinte, dieser Song sei genau das Richtige für einen verrückten Texaner wie ihn, haha. Er ist auch auf dem Anrufbeantworter am Anfang des Liedes zu hören.“
Der Kontakt zu PANTERA besteht schon seit langem. Dass aber eine Legende wie THE WHO-Sänger Roger Daltrey jemals auf einem ANTHRAX-Album singen würde, ist laut Charlie doch ein kleines Kuriosum: „Der Kontakt kam über Scotts Freundin zustande. Deren Mutter ist mit Roger und dessen Frau befreundet. Eines Tages rief die Mutter bei Scott an und fragte, ob er Lust habe mit Roger und ihr Essen zu gehen. Als Daltrey von Scott dann erfuhr, dass wir an einem neuen Album arbeiteten, wollte er unbedingt bei einem Song dabei sein. Wir überlegten dann, welches Lied für ihn geeignet sei. Die Band ANTHRAX war ihm zwar durchaus ein Begriff, aber natürlich hat er keine Platten von uns im Schrank stehen. Er ist halt eher einer von der, tja, Oldschool-Fraktion. Den Stadionrocker ‚Taking the music back’ hielten wir für am geeignetsten. Als Roger den Song hörte, sagte er, dass das ja ganz schön harter Stoff sei. Wir spielten ihm dann unsere anderen Songs vor, und er sagte: ‚Okay, das ist wohl das softeste, was ihr zu bieten habt.’ Und so sang er seinen Part in Los Angeles ein.“
Charlie reagiert sichtlich erfreut darüber, als ich ihm sage, dass ANTHRAX nicht unwesentlich zu meiner Punksozialisation beigetragen haben. Schuld daran waren die zahlreichen Coverversionen von für mich damals noch exotischen Acts wie SEX PISTOLS, TRUST, VENTURES oder Joe Jackson. Ohne Scott Ians gebelltes „Protest and survive“ hätte ich mir niemals eine DISCHARGE-Platte gekauft. Glücklicherweise haben ANTHRAX mit der Tradition nicht gebrochen und mit „We’re a happy family“ wieder ein Punkrockcover auf das Album gepackt, was nach Aussage von Charlie fast schon überfällig war: „Wir wollten schon immer mal einen RAMONES-Song einspielen. Als Sony das gleichnamige RAMONES-Tribute-Album ankündigte, bewarben wir uns für einen Beitrag. Der Song war schon fix und fertig, als plötzlich eine Absage kam. Co-Produzent Rob Zombie wollte uns nicht haben, einen Grund hat er uns nicht genannt. Rob Zombie sucks. Nun ist der Song also als Bonustrack auf der europäischen CD-Version enthalten.“
Dass Rob Zombie ursprünglich METALLICA für den Titeltrack eingeplant hatte, war Charlie wohl nicht bekannt. Im Sommer werden ANTHRAX mit den einstigen Konkurrenten nach langer Zeit mal wieder die Bühne teilen. Auf die Frage, was er sich von diesem Treffen erwarte, antwortet Charlie nur mit einem verächtlichen Schulterzucken.
Zum aktuellen Punkgeschehen kann Charlie nicht viel sagen. Er vermisse den guten alten Punk der SEX PISTOLS, von THE CLASH oder GBH. Das waren die Bands, deren Songs er früher mit ein paar Kumpel nachgespielt habe, deren Konzerte er besuchte. Mit Metalbands wie SYSTEM OF A DOWN kann Charlie mittlerweile mehr anfangen, vor allem weil ihn diese Band sehr an ANTHRAX erinnere: „Sie vermischen Old- und Newschool-Elemente, kombinieren gegensätzliche Musikstile miteinander und beschreiten damit neue Wege. So wie wir es mit ANTHRAX seinerzeit getan haben.“
Leider ohne nachhaltigen Erfolg. Von Resignation jedoch weit und breit keine Spur. Ans Aufhören habe Charlie selbst während der letzten fünf Jahre nie gedacht: „Obwohl... heute habe ich daran gedacht. Unzählige Autogrammstunden und Interviewtermine, dann die üblen Nachrichten über den Krieg. Ehrlich, diese Berichte, bei denen man angeblich mitten im Kriegsgeschehen drin ist, dienen doch nur dazu, den Zuschauern Angst zu machen. Den Leuten soll suggeriert werden, dass dieser Irak-Krieg wirklich notwendig sei. Ich sollte mir diese CNN-Scheiße gar nicht ansehen, da wird mir nur schlecht von. Aber was das Aufhören angeht: ANTHRAX sind das, was ich seit über zwanzig Jahren tue. Das wirft man nicht einfach hin. ANTHRAX ist meine Leidenschaft.“
Am Abend ist die Live Music Hall bis auf den letzten Quadratzentimeter gefüllt. Ich stehe relativ weit vorne, um Fotos zu machen, die alle nichts werden sollten. Der Mob tobt, bei „Indians“ sogar auf der Bühne in Form von fünf Fans, die sich als Indianerhäuptlinge verkleidet haben und einen Kriegstanz vollführen. Neben mir stehen ein paar Milchbärte von vielleicht fünfzehn Jahren, die zuvor bei „Antisocial“ abgegangen waren, als gäbe es kein Morgen mehr. Als ANTHRAX diesen Song rausbrachten, haben die Jungs sich noch von ihrer Mami in den Schlaf singen lassen. Sage noch einer, ANTHRAX seien nicht mehr wichtig.
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