Tom Hazelmyer, der Gründer des Labels, das wir im Weiteren in alter Gewohnheit mit AmRep abkürzen, ist ein Veteran der US-Indie-Szene. „Haze XXL“, Jahrgang 1965, gründete das Label 1986 im Bundesstaat Washington während seiner Zeit bei den US Marines, eigentlicher Stammsitz ist aber Minneapolis, von wo aus er zuerst Releases seiner eigenen Band HALO OF FLIES, bald aber auch die von Freunden wie MELVINS, HELMET, Helios Creed, COWS, GOD BULLIES, CHOKEBORE, COSMIC PSYCHOS, PARTY DIKTATOR, HAMMERHEAD (nicht die deutsche Band!), NASHVILLE PUSSY, TODAY IS THE DAY, UNSANE und zig andere Platten veröffentlichte.
Mit dem Beginn des Grunge-Booms in den frühen Neunzigern wurde seine Label immer größer und bekannter, in Deutschland hatte er zu jener Zeit mit dem Sub Pop-Lizenznehmer Glitterhouse einen starken Partner, was der Beliebtheit seiner Bands enorm half. Musikalisch machten die AmRep-Releases dem mit dem Wort „Noise“ hinterlegten Labellogo alle Ehre, viele Releases füllten eine Lücke zwischen „normalem“ Punk und Hardcore einerseits und dem oft ins Konservative abdriftenden Grunge – das Genre Noiserock war seinerzeit fast synonym mit AmRep. Im weiteren Verlauf der Neunziger gab es einen Wechsel in der Europa-Dependance, ein gewisser Anthony X. Martin verwaltete ab 1996 das Label von Hamburg aus und gründete nebenbei das Boomba-Label, auf dem das epochale „Ass Cobra“-Album von TURBONEGRO erschien und dann auch „Apocalypse Dudes“. 1999 waren Boomba wie auch AmRep-Europe schon wieder Geschichte, und auch das Mutterlabel hatte zu jener Zeit (1998) seine vorerst letzte Platte veröffentlicht – das Musikgeschäft änderte sich, Majorlabels wilderten immer erfolgreicher auf einem Terrain, das bislang Indies vorbehalten gewesen war. Erst ab 2005 und verstärkt ab 2008 verzeichnet die allwissende Discogs-Datenbank wieder Releases. Hazelmyers Label-Auszeit, in der er sich unter anderem der Gastronomie und der Kunstgalerie „OX-OP“ widmete, war vorbei, und seitdem ist die unüberschaubare Diskografie mit zig verschiedenen Katalognummernreihen auf über 450 Titel angewachsen. Dabei ist „AmRep 2.0“ längst kein „normales“ Label mehr, sondern ein Kleinserienspezialist mit Schwerpunkt MELVINS: in Auflagen von wenigen hundert Stück werden Vinylscheiben mit Siebdruckcover verkauft, oft mit Artwork von Haze selbst.
Im November 2013 weilte Hazelmyer zu Besuch in Düsseldorf, Anlass war eine Ausstellung in der Galerie Slowboy (mit angeschlossenem Plattenladen), und während bei der Vernissage noch DIE NERVEN ihre Anlage aufbauten, um den Release ihrer 7“ auf AmRep live zu untermalen, zog ich mich mit dem Chef in die kalte Siebdruckwerkstatt im Hinterhof zurück, um über den Mythos AmRep zu plaudern. Mir war kalt, Tom nicht, der hatte sich mit einer halben Flasche Jack Daniel’s warmgetrunken und mir dann zu verstehen gegeben, es sei besser, das Interview jetzt zu führen, bevor er nichts Brauchbares mehr von sich zu geben in der Lage sei. Gesagt, getan.
Bitteschön, hier ist die aktuelle Ausgabe des Ox.
Sieht cool aus. Was hat es mit dem Namen auf sich? Ich hatte ja mal eine Galerie mit dem Namen OX-OP.
Ach, das war nur der Name der dicken Katze von Ox-Mitgründerin Biggy.
Haha, okay. Mein Name hat einen anderen Background: Ich fuhr vor vielen Jahren mal mit meinem Bruder quer durchs Land, ich döste auf dem Beifahrersitz, und als ich aufsah, fuhr gerade ein Lkw neben uns, die großen Buchstaben O und X direkt neben mir – die standen für „Overnight Express“. Das Logo sah cool aus, und ich dachte mir, den Namen muss ich mal für irgendwas verwenden, und bei der Galerie machte dann die Verbindung mit Op Art – für „optical art“ – zu OX-OP Sinn.
In jedem Text über AmRep oder über dich taucht irgendwo auf, dass du angeblich ein „Ex-Marine“ bist. Warst du mal so ein Typ, wie man ihn aus zig Filmen kennt, ein Elitekämpfer, der mit dem Messer zwischen den Zähnen Spezialeinsätze durchführt, so ein „Full Metal Jacket“-Typ?
Exakt so einer war ich, haha! Als „Full Metal Jacket“ 1989 erschien, war ich seit zwei Jahren bei den Marines und ging mit meiner Frau ins Kino, um mir den anzuschauen, und ich merkte dann nach zwanzig Minuten, dass ich völlig steif im Sessel saß, so exakt hatte Kubrick den Drill der Rekruten dargestellt: Hände an der Hosennaht, Füße an den Fersen geschlossen und im 45-Grad-Winkel geöffnet. Ich erschrak richtig: „Fuck, das ist doch nur ein Film!“ Den Film bezeichne ich immer gerne als sehr gut choreografierte Vergewaltigungsszene – blöd nur, wenn man selbst das Vergewaltigungsopfer ist und dann alles nochmal erlebt ... Beim ersten Mal mochte ich den Film überhaupt nicht, später, als ich etwas Distanz hatte, wurde er einer meine Lieblingsfilme.
Wie kamst du dazu, als Punk – und du warst Punk, bevor du zu den Marines gingst – freiwillig zum Militär zu gehen? In Deutschland haben damals so gut wie alle Punks verweigert und Zivildienst gemacht.
Ich war ein ziemlich geltungsbedürftiger Typ damals, wollte besser und cooler und mehr Punk sein als alle anderen. Und so dachte ich mir, ich mache irgendwas, was total „unpunk“ ist. Meine Freunde dachten damals, mit Ronald Reagan als Präsident wird es bald zu einem Krieg kommen, und meine Reaktion war: „Wenn es Krieg gibt, will ich den aus der ersten Reihe mitbekommen.“ Das war eher so eine Art der Reaktion wie Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Künstlern des Futurismus, die vom Krieg erst begeistert und hinterher enttäuscht waren. Ich war 18, ich hatte aus politischen Gründen nichts gegen Krieg, aber die Leute um mich herum waren sehr wohl dieser Meinung, aber ich dachte mir, die wissen ja nicht, wovon sie reden. Rückblickend habe ich erkannt, dass meine Entscheidung auch was mit meiner sozialen Herkunft zu tun hatte: aus meiner Familie hatte keiner studiert, also war klar, dass ich auch nicht studieren würde, es war ja auch kein Geld dafür da. Und so stehe ich da, bin 18, mein Vater hat mich gerade aus dem Haus geschmissen, mein älterer Bruder war beim Militär, und ich hatte das negative Beispiel einiger älterer Punks vor Augen, die mit ihren dreißig Jahren nichts auf die Reihe bekommen hatten. So wollte ich nicht werden, nicht in zwölf Jahren in einem winzigen Zimmer im Slum wohnen, mich mit Scheißjobs durchschlagen müssen. Ich wollte was tun, die Welt sehen. Und so ging ich zu den Marines, landete zuerst in Memphis, und der Süden der USA war für ein Kid aus dem Mittleren Westen schon eine bizarre Welt. Später landete ich in Seattle, und das war das Beste, was mir passieren konnte.
Warum?
Weil ich das große Glück hatte, das nicht vielen Menschen zuteil wird, nämlich eine kreative Explosion direkt mitzuerleben. Ich meine so was wie den Dadaismus, die New Yorker Musikszene des Jahres 1975, solche Phasen, und ich hatte schon das Glück gehabt, in Minneapolis die Hochzeit von Bands wie REPLACEMENTS, HÜSKER DÜ und SOUL ASYLUM mitzubekommen. Und dann landete ich im Seattle der Zeit vor der großen musikalischen Explosion. Man kann das schwer beschreiben, die Szene dort brummte schon Mitte der Achtziger, die Luft war wie elektrisch aufgeladen, da war so viel Energie, die sich vom einen zum anderen übertrug. Die seltsamsten Gruppen von Leuten fanden zusammen, all die ganzen mutantischen Weirdo-Kids, die Außenseiter, Schwule, Künstler kamen zusammen und es ergab ein seltsames Feedback. Ich glaube übrigens nicht, dass seit dem Beginn des Internet-Zeitalters so was noch möglich ist, da findet jeder sofort seine Clique. Damals vermischten sich die verschiedensten Strömungen, es war nicht nur Musik, nicht nur Kunst, sondern eine Mischung und viel mehr. So was kann man nicht planen, das passiert einfach!
Und du mittendrin. Was hast du bei den Marines gemacht? Wenn ich dich heute so anschaue, haha, fällt es mir schwer, mir dich als Elitekämpfer vorzustellen ...
Ha, was soll das denn? Alle alten Krieger haben einen Bierbauch!
Ich hoffe, ich bin dir nicht zu nahe getreten. Man sagt uns Deutschen seitens Musikern aus den USA immer wieder nach, wir seien zu ehrlich ...
Nein, Quatsch. Ich bin ja auch so ein Typ, der immer direkt sagt, was er denkt. Ich habe es mit meinen bald fünfzig Jahren nicht gelernt, etwas diplomatischer zu sein. Und weißt du was? Lustigerweise haben in den USA die Juden den Ruf, immer sehr direkt in ihrer Meinungsäußerung zu sein. Die Hälfte meiner Freunde hat jüdische Wurzeln ...
Hazelmyer klingt recht deutsch.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, aber ja, wahrscheinlich gibt es da eine Verbindung. Als ich meinen Vater mal fragte, ob er was über die Herkunft de Familie sagen kann, meinte er nur: „I don’t know, I think it’s German.“ Meine drei Kinder haben mir die Frage auch schon gestellt, und ich habe gesagt „NATO – also westeuropäisch“. Ich habe mal anhand des Namens etwas geforscht, und es deutet alles darauf hin, dass der aus der Grenzregion Österreich-Slowenien stammt. Ich bin auf einen Typen mit dem Namen Haselmeyer gestoßen, der 1870 von Bord eines Schiffes gegangen ist ... und jetzt wird es interessant: der hat bald darauf Vieh gegen eine Frau getauscht. Das war die Tochter einer umherreisenden Hexe, die diese bei einer Bauernfamilie zurückgelassen hatte. Hahaha, großartig oder? Das ist sicher der Teil der Familiengeschichte, über den keiner reden will. Die Ururgroßmutter oder so wurde für ein paar Kühe eingetauscht, was für eine Geschichte. Aus dieser Ehe gingen wohl zwölf Kinder hervor, elf Jungs und ein Mädchen, die sich über das gesamte Land verteilten und nie wieder was miteinander zu tun hatten. Fakt ist wohl, dass jeder in den USA, der den Nachnamen Hazelmyer hat, mit mir verwandt ist.
Kommen wir zurück auf deine Zeit in Seattle bei den Marines ...
Ich hatte Glück, was die Marines betrifft: mein Freund Peter Davis, ein Kalifornier, der in Minneapolis lebte und damals ein Fanzine machte, der hatte kurz in Seattle gelebt und Freunde dort. Mit denen brachte er mich zusammen, und so war ich nach kurzer Zeit – ich konnte Bass spielen – bei den U-MEN und fand viele neue Freunde. Wann immer ich aus der Kaserne außerhalb von Seattle raus durfte, fuhr ich in die Stadt, und weil ich die richtigen Leute kannte, wurde ich akzeptiert. Wäre ich als ganz normaler Marine damals in einen Punk-Club gekommen, hätte mich keiner auch nur mit dem Arsch angeschaut. Mein Background wurde ausgeblendet, ich war mit den coolen U-MEN befreundet, das war mein Freibrief in der Szene. Und klar, „Künstler gehen nicht zur Armee“, das war mir bewusst, die Zeiten von Hemingway und die eines „Dichters und Kämpfers“, die waren vorbei. Ich war insgesamt vier Jahre bei den Marines, zuerst eineinhalb Ausbildung, dann Stationierung in Seattle, genauer gesagt in Bellingham, auf halbem Wege zwischen Seattle und Vancouver. Während meiner Zeit bei den Marines gründete ich dann AmRep, einfach um die Platten meiner Band zu veröffentlichen, und dann was von den THROWN-UPS, der Vorgängerband von MUDHONEY, sowie von den U-MEN. 1987 verließ ich dann die Marines, und weil es mir dort in Seattle so gut gefiel, wollte ich dort bleiben. Ich war mittlerweile verheiratet – mit Lisa, der Frau, mit der ich auch heute noch verheiratet bin – und so wollte ich sie und all unseren Besitz aus Minneapolis nach Seattle holen. Tja, dann kam alles anders: ich hatte einen Nierenstein und keine Krankenversicherung ... Meine Ersparnisse von 2.000 Dollar, die für den Umzug gedacht waren, gingen für die Krankenhausrechnung drauf, und ich lebe seitdem wieder in Minneapolis.
Hast du jemals irgendeinen „richtigen“ Job gelernt?
Nein. Ich bin nur dann ein Workaholic – und wurde schon oft als ein solcher bezeichnet –, wenn es um etwas geht, was mich interessiert. Interessiert mich etwas nicht, bin ich wohl der schlechteste Angestellte, den man sich vorstellen kann. Ich hatte als Kid die üblichen Jobs, bei McDonald’s, Waschstraße, und so weiter, und bei den Marines war es genauso. Ich war in der Abteilung für Luftfahrtelektronik, und weil ich ein Nichtsnutz war, wurde ich in die Werkzeugausgabe gesteckt – „Hauptsache, er macht nichts an den Flugzeugen!“
Ich dachte, die Marines seien eine Elitetruppe ...
Ja, aber auch da gibt es Versager. Und das war ich. Der Job in der Werkzeugausgabe war das Beste, was mir passieren konnte. Ich saß da neun Stunden rum und hatte genug Zeit, um mich um mein Label zu kümmern: Cover layouten, sie zusammenbasteln, sie mit den Singles in Hüllen stecken – perfekt! Sollen sich andere abplagen, ich hatte den perfekten Job. Ich habe in dieser Zeit das Handwerk gelernt, das man für ein Label braucht, so simple Sachen, wie man Cover richtig faltet und all diese rudimentären Dinge. Als dann später Computer ins Spiel kamen, musste mir keiner erklären, wie Farbseparationen für den Druck funktionieren, ich hatte mir das alles längst handwerklich angeeignet.
Das kommt mir bekannt vor – ähnlich waren die Anfangstage des Ox, als man noch mit Schneidebrett, Schere und Klebestift layoutete und dann im Copyshop Feinarbeit leisten musste.
Ja, zu wissen, wo in der Stadt Kopierer stehen, mit denen man vergrößern und verkleinern kann, das war essentiell! Und wo die Kopie nur fünf und nicht zehn Cent kostet. Dieses Wissen hilft mir bis heute. Computer sind sehr hilfreich, aber auch wenn die gestalterisch jede Menge neuer Möglichkeiten bieten, ändert das nichts daran, dass mich Dreidimensionales nicht interessiert, ich dem Zweidimensionalen treu geblieben bin. Das Siebdrucken und der Linolschnitt sind mein Metier.
Wie kamst du dazu?
Zum Linolschnitt kam ich vor vier Jahren, zum einen weil ich die Schnauze voll hatte vom Computer. Ich war zu Beginn sehr begeistert von den neuen Möglichkeiten, vom Layout, das ich jetzt selbst machen konnte, ohne einen Schriftsetzer dafür bezahlen zu müssen oder mit Bögen von teuren Letraset-Rubbelbuchstaben zu arbeiten – und dann fehlte dir ein L, oder ein S! Zwanzig Jahre dauerte diese Begeisterung, dann hatte ich keine Lust mehr auf die unmenschliche Genauigkeit und Sauberkeit der Computerlayouts. Und dann wurde ich krank, und das brachte mich zum Linolschnitt.
Was war geschehen?
Ich hatte eine Hirnentzündung, eine Enzephalitis, und lag vier Wochen im Koma. Da kam eins zum anderen, ich bekam eine Blutvergiftung, Lungenembolie, Lungenentzündung ... Beim vierten Mal, als der Arzt meiner Frau sagte, sie müsse sich auf meinen Tod einstellen, sagte mein Vater zu ihm, er solle die Fresse halten und so was nicht sagen, bevor ich wirklich tot bin. Ich überlebte, mein Hirn war geschädigt, ich hatte Muskelschwund, ich konnte mich kaum bewegen, jede Bewegung und jeder Muskel schmerzte: laufen, reden, alles! Es war brutal. Und mein Hirn war auch geschädigt, die wollten mich zur Reha schicken, um wieder lesen und schreiben zu lernen. Ich sollte Puzzles machen ... Meine Tochter war damals in der sechsten oder siebten Klasse und die machten gerade Linolschnitt, und da sagte ich, wenn ich was machen soll, dann so was. Ich wollte diese Comicfigur Gigantor machen, aber ich bekam es nicht hin – Linolschnitt ist nämlich nicht einfach, denn man muss „umgekehrt“ denken, denn es wird ja davon gedruckt. Mein zweites Bild gelang mir besser, es war eine Handgranate mit dem Spruch „Pull the pin, pussy“ – der Satz beschäftigte mich sehr: Zieh den Sicherungsstift raus, du Feigling, und dann schauen wir mal, was passiert. Ich hatte schon Ausstellungen mit meinen Bildern, bevor ich krank geworden war, aber mein Reha-Projekt war, dass ich Kunst mache. Mein Hirn war aber so geschädigt, dass ich kaum schreiben konnte. Irgendwie fiel es mir deshalb recht leicht, Worte spiegelverkehrt und rückwärts zu schreiben. In meinem Kopf war sowieso alles durcheinander. Spiegelverkehrt und rückwärts und invertiert zu arbeiten ist sehr anspruchsvoll, wenn man das nicht richtig macht, sieht der der Druck später „falsch“ aus. Aber da ich das Schreiben sowieso erst wieder lernen musste, fiel mir all das recht leicht. Es war letztlich die beste Therapie für mich, und ich bin von jeher ein Mensch, der zu zwanghaftem Verhalten neigt – und so folgten drei Jahre Dauer-Linolschnitt.
Ein suchthaftes Verhalten ... ein Problem für dich?
Mit chemischen Substanzen hatte ich nie ein Problem, es sind eher Dinge wie zu viele Platten und so weiter ... Nun, das war also die Geschichte, wie ich zum Linolschnitt kam, zum einen die Krankheit, zum anderen die Übersättigung durch die Computer-Perfektion. Nach zwanzig Jahren Computerdesign und dem Versuch, Handgemachtes nachzuahmen, indem ich beispielsweise ein Blatt Papier über den Boden schmierte und das dann einscannte, wollte ich wieder was „Echtes“ haben, das nicht nur gefaket nach echt aussieht. Außerdem gefiel mir schon immer die schmutzige Punk-Ästhetik, und die fand ich im Linolschnitt wieder. Mir gefiel das übrigens schon, bevor ich den Impressionismus für mich entdeckt hatte. Ich unterhielt mich mit Buzz von MELVINS darüber, sagte, dass ich mal in New York in MoMA will, um mir die Bilder anzuschauen, und so fuhren wir hin und ich war wie weggeblasen von Otto Dix und so weiter, das war eine Offenbarung für mich. Der Mann war unglaublich gut! Dix und seine Bilderserien zum Ersten Weltkrieg sind wirklich unfassbar gut, daran werde ich mit meinen Werken nie rankommen.
Deine Kunst hat dir also dabei geholfen, wieder der alte Tom zu werden?
Ich weiß nicht, was den alten Tom ausmachte, denn wenn mich eines auszeichnet, dann Widersprüchlichkeit. Ich habe mich mit Hirnschäden beschäftigt, viel dazu gelesen, und typisch ist, dass man denkt, man sei okay. Ich bin mal aus dem Krankenhaus abgehauen, die haben mich einfangen müssen und mich gezwungen, mit meiner Frau zu telefonieren. Und die stellte mir nur die Frage: „Kennst du deine Adresse?“ – „Nein.“ – „Dann geh doch einfach wieder ins Bett.“ Die wusste mit mir umzugehen, die hatte ja drei Kinder großgezogen. Das „Problem“ mit Hirnschäden ist, dass das nicht so ist, wie wenn man erblindet, denn da hat man ja einen Vergleich vorher – nachher. Wenn hingegen deine Intelligenz beeinträchtigt ist, weißt du ja gar nicht, was dir fehlt! Du denkst, du seist schon immer so gewesen, dass das, was du wahrnimmst, die Normalität ist. Dass du reduziert, beschädigt bist, das checkst du nicht. Ich konnte gerade mal bis drei zählen am Anfang. Nach einem halben Jahr dämmert dir allmählich, was los ist mit dir, und nach neun Monaten ist es noch krasser. Wenn ich dich an der richtigen Stelle mit einem Hammer treffe und du dreißig IQ-Punkte einbüßt, wirst du hinterher nicht wissen, was mit dir passiert ist, verstehst du? Wenn du die dann irgendwann zurückgewonnen hast, wird dir klar, dass du vor einer Weile noch nichtmal addieren konntest, dass du beim Überqueren der Straße nicht wusstest, in welche Richtung du schauen musst. Insgesamt dauerte meine Genesung 18 Monate, und ich weiß nicht, ob ich jemals wieder so sein werde wie vorher. Ein Körperteil oder dein Sehvermögen einzubüßen, das kann man irgendwie verstehen, aber wenn dein Hirn einen Schaden hat, wird es schwierig.
Eine krasse Geschichte, aber wenn es dich beruhigt: Ich kannte dich vorher nicht, hatte aber bis eben nicht den Eindruck, dass mit dir irgendwas nicht stimmen könnte.
Hahahaha, also wenn ich früher zwei Flaschen Wodka getrunken hatte, wusste auch keiner, was von mir zu halten ist. Meine Frau zieht mich nach solchen Aktionen immer auf: „Kannst du dich erinnern, was du gesagt und getan hast?“ – „Nein ...“ Sie hält mich aber auch nie von solchen Aktionen ab.
Was macht deine Frau Lisa Pemrick?
Sie ist Journalistin. Über sie wurde, als sie ein Kind war, in der Presse berichtet, weil sie so früh einen so hohen IQ hatte. Sie ist großartig, ein echtes Genie, und sie hat es immer geschafft, viel Scheiße von mir fernzuhalten. Gegen sie verwenden kann ich nur, dass sie Spaß daran hat, wenn ich kompletten Mist baue – und mich deshalb nicht davon abhält. „Warum hast du denn nichts gesagt?“, frage ich sie, und sie antwortet: „Ach, ich hatte das Gefühl, du hast Spaß.“ Ich erinnere mich daran, wie ich vor Jahren sehr betrunken mal Thurston Moore eine Kopfnuss verpasste. Wir waren in New York, besuchten eine gemeinsame Freundin, und am nächsten Tag war ich zu krank um aufzustehen, also gingen Kim, Thurston, unsere Freundin Julie und meine Frau einkaufen, und kaum sitzen die im Taxi, fangen Thurston und Kim an, über diesen vollkommen Irren Hazelmyer abzukotzen – ohne zu wissen, dass Lisa meine Frau ist. Die hat aber nur gelacht und meinte, so sei ich eben, da könne man nichts machen.
Sprechen wir über Lärm, über Noise. Noise war schon immer Programm bei Amphetamine Reptile, sogar das Logo ist damit hinterlegt. Was macht Noise für dich aus?
Da fragst du den Falschen. Eigentlich sind das nur fünf Buchstaben, die ich hinter das Logo setzte, weil das gut aussieht. Damit war kein bestimmtes Programm verbunden. Ich hatte das Logo angelehnt an das einer Firma namens Cyclops, doch einfach nur so oval sah das nicht gut aus, und so kam ich auf die Idee, das Wort „noise“ drunterzulegen, einfach weil es passte. Es war letztlich eher eine grafische Entscheidung als eine inhaltliche. Ich fand es dann später lustig, dass das so ein Eigenleben entwickelte, obwohl die Entscheidung doch auf rein optischen Erwägungen basierte. Stattdessen hatte ich eine „corporate identity“ geschaffen, ein Genre, haha.
Vielleicht sollte man das Unterbewusste nicht unterschätzen ...
Ich war schon immer beeinflusst von Sachen, die mich voll erwischen. Ob nun SLAYER, THE BIRTHDAY PARTY oder was auch immer sonst so eine gewisse rohe Kraft ausstrahlt, wo Chaos und eine gewisse Lockerheit erkennbar sind. Meine Vorlieben sind aber weit gefächert, ich kann die nicht mit einem Gedanken, einem Begriff zusammenfassen, und so war das auch mit dem Labelprogramm. Was hatten denn Helios Creed und BOSS HOG oder COWS gemeinsam? Andere, das habe ich im Nachhinein verstanden, erkannten eine gewisse Direktheit, die alle Bands gemeinsam hatten, aber meine Gründe waren simpler: mit Helios Creed arbeitete ich, weil ich seine Band CHROME verehrte – MINOR THREAT und so weiter waren genial, aber CHROME standen für mich immer noch eine Stufe darüber, gleichauf mit den STOOGES. Das war Musik wie vom Mars, so was hatte man bis dahin nicht gehört, die waren unglaublich. Ich wollte deshalb Musik veröffentlichen, die wie ein Schlag in die Fresse wirkt, die ich so noch nie gehört hatte, die mich überrascht. Das macht mich heutzutage auch so wütend, da höre ich so was nicht mehr. Mag sein, dass ich zu alt bin und übersättigt, aber es ist doch nicht zu viel verlangt, wenn mich eine Band einfach nur wegblasen soll, oder? Ich brauche das! Und dann ... höre ich, dass die Jungs ROCKET FROM THE CRYPT gehört haben, und JESUS LIZARD – ja, toll, aber das habe ich vor zwanzig Jahren schon gehört!
Und was hörst du bei DIE NERVEN, deren neue Single du auf AmRep veröffentlicht hast?
Ein natürliches Chaos, ein gewisse Lockerheit, sie sind nicht steif, ihr Sound ist fließend, und eben der entscheidende Schlag in die Fresse. Mit irgendwas haben die mich am Haken, aber das hat nichts mit Pop zu tun, das ist eher unabsichtlich. Ich fand sie über YouTube, auf einer meiner „Surfing Safaris“. Ich suche mir eine Band aus, THE RUTS, „Babylon’s burning“, und von da aus hast du die Sidebar im Blick und klickst das Video an, wo du von der Band noch nie was gehört hast. Und nach zehn Clicks bist du auf völlig unbekanntem Terrain. Mit altem Punk und altem Psychedelic Rock funktioniert das sehr gut. Und so landete ich eben bei „Nicht neu“ von DIE NERVEN und schaute mir das Video gleich ein paar Mal am Stück an. Meine Frau kam dann dazu, und die war gleichermaßen begeistert. Diese Band hat einfach etwas „Organisches“, das man nicht faken kann. Einerseits ist da Math-Rock, aber auch Chaos. Du weißt nie, was als Nächstes passiert, und das fasziniert mich. Da Video fand ich auch cool, irgendwie sehr deutsch. Und wenn jemand auf Deutsch oder in einer skandinavischen Sprache singt, klingt das für mich immer noch wütender. Die frühen LEATHER NUN, die klangen, als wollten sie die ganze Welt umbringen – dabei hätten die Texte auch über Häschen und Blümchen sein können. Solche Momente wie mit DIE NERVEN sind für mich selten geworden, umso mehr weiß ich sie zu schätzen. Generell mag ich es, wenn Bands eher locker zur Sache gehen, wenn es noisy klingt, weil eben gerade nicht Perfektion angestrebt wird. Musiker, die Perfektion wollen, sind schlimm. Die können meist den Noise, der sich einschleicht, nicht akzeptieren, diesen Scott Asheton-Style. Was die STOOGES auszeichnet ist eben genau dieses Unperfekte! Professionalität ist nur bis zu einem gewissen Punkt hilfreich, nämlich soweit, wie es nötig ist, um die Message rüberzubringen. Überschreitet man diese Schwelle, ist es sterile Scheiße.
Deutschland war schon früh ein wichtiger Markt für AmRep ...
Ja, es lief hier viel besser für uns, unsere Bands hatten in Deutschland und Österreich viel mehr Besucher als in England. Irgendwie fand ich das schade, denn ich wuchs mit den ganzen britischen 77er-Punkbands auf, mit dem ganzen Post-Punk – von SEX PISTOLS und P.i.L. bis GANG OF FOUR. Und dann kapieren die einfach nicht, was ich rausbringe, wo ich doch all ihre Bands verehre! Die haben die Verbindung nicht kapiert. Als wir mit HALO OF FLIES im Rahmen der „Ugly American Overkill“-Tour unterwegs waren, verstand ich irgendwann, warum das so war: die Amerikaner trennt von den Europäern so eine gewisse Hemmungslosigkeit und Unbekümmertheit: „Ich hab da jetzt Bock drauf, ich mach das!“ In London bei der Show stand ein Typ auf der Bühne, der Stagediven wollte. Er rannte los, bremste aber am Bühnenrand ab, um zu schauen, ob ihn jemand auffängt. In den USA hatte ich so was nie erlebt, da habe ich Leute sich ihre Gliedmaßen brechen sehen, weil sie einfach gesprungen sind. Einfach rücksichtslos und wild loslegen, das können Amerikaner wohl einfach besser.
Ich verstehe ... mit so einem Sicherheitsdenken wäre der Wilde Westen nicht bezwungen worden.
Ja, nicht nachdenken, folge deinem Bauchgefühl. Diesen Unterschied zwischen Europa und den USA habe ich auf dieser Tour erkannt. Das ist echt kein Stereotyp, ich habe das über die Jahre immer wieder festgestellt. Nur einmal bei eine Show in Frankfurt war das anders, da war vor der Bühne die Hölle los, ich war begeistert. Nach der Show kommt dann ein Deutscher backstage und entschuldigt sich, es sei ja eine gute Show gewesen, bis auf diese blöden Amerikaner, die vor der Bühne so gewalttätig getanzt und damit allen anderen den Spaß verdorben hätten ... Das waren wohl amerikanische Soldaten, die sich da austobten. Ich versuchte dann zu erklären, dass eine Show genau so sein sollte: Tob dich aus, dreh völlig durch, dann ist es eine gute Show! Bei Punkrock geht es nicht um Reflexion, Frieden und Nachdenklichkeit, sondern um „Fuck the world, aaaaaarghhh!!!“. Das alles hat was damit zu tun, dass all die Wagemutigen, die Freaks, die verrückten Religiösen vor 200 Jahren in die USA ausgewandert sind. Im Übrigen habe ich mit den ganzen „religious nuts“ kein Problem, denn deren Tun wohnt eine gewisse Kreativität inne, die Europäer einfach nicht verstehen. Die drücken aber viele Entwicklungen mit ihrem religiösen Eifer in eine Richtung oder überhaupt so voran, was ohne diesen Eifer nicht möglich wäre. Es braucht Extremisten, um die Grenzen auszudehnen. So konservativ die USA in mancher Hinsicht auch sind – wenn bestimmte Grenzen irgendwann brechen, ist es extremer als irgendwo anders. Ich bin überzeugt, dass ein Kind, das bei einem Hippie-Lehrer Zeichnen lernen soll viel weniger kreativ ist als eines, das von einer Nonne mit einem langen Lineal auf die Finger geklopft bekommt, weil es einen Baum nicht richtig zeichnet.
Wie sind denn deine Kinder geraten, wissen die, was du so treibst oder getrieben hast?
Ganz unterschiedlich: meine älteste Tochter nervt derzeit gewaltig, sie ist 18, was soll man da sagen? Ich habe nie absichtlich irgendwas vor denen geheim gehalten, die kennen mich eben als das Maul aufreißenden, herumfluchenden Typen, der ständig irgendwelches verrücktes Zeug redet. Mag sein, dass irgendwelche ihrer Freunde beeindruckt davon sind, dass ihr Vater der Typ ist, der Platten mit den MELVINS macht, aber für sie spielt wohl eher eine Rolle, dass es der Typ ist, der beim Autofahren andere Autofahrer ständig unflätig beschimpft ... der Arschloch-Vater, der zudem auch noch ständig unangemessene Witze mit zweifelhaften politischen oder religiösen Aussagen macht.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #112 Februar/März 2014 und