ALL DIESE GEWALT

Foto

Selbstdekonstruktion geglückt

Der Musiker und Produzent Max Rieger (DIE NERVEN, OBSTLER, ex-DIE SELEKTION) alias ALL DIESE GEWALT legt mit „Andere“ sein zweites Album vor. Schon vor der Pandemie stand fest, dass es dazu keine Tour geben wird. Der Sound soll eine individuelle Erfahrung für den Kopfhörer bleiben und keine Übereinkunft, in der sich Rieger als Guru in Szene setzt und von seinem Schmerz singt. Das Cover zeigt seine Silhouette – umhüllt von einem blutroten Tuch mit Gewehr in der Hand – gleichzeitig maximal intro- und extrovertiert.

Was ist deine Assoziation zu dem Wort „Andere“?

Alles, was nicht ich bin.

Du hast selbst von „vier Jahren Selbstdekonstruktion“ gesprochen, was genau kann man sich darunter vorstellen?
Dass ich vier Jahre daran gearbeitet habe und immer wieder in mich reinhorchen musste, ob es das Richtige ist oder nicht. Sich selbst hinterfragen und die Musik, die man aus diesem Zustand heraus macht. Es ist nicht nur so, dass ich die Musik mache, sondern ich verändere mich währenddessen auch selbst.

Suchst du in der Zeit starke Erfahrungen, um dich herauszufordern, oder geht es eher um das Befassen mit dem Songmaterial?
Alles. Es geht ja weit über das Material hinaus.

Die Stimmung des Albums ergibt sich währenddessen oder gehst du mit einem gewissen Anspruch daran?
Es sollte dieses Mal auf jeden Fall kompakter und zugänglicher sein.

Bei dir bedeutet das sicher etwas anderes als beim Durchschnitt. Wo genau hast du an den Schrauben gedreht?
An den Texten und der musikalischen Sprache, an den Arrangements und an der Auswahl der Songs.

Wäre es dir leicht gefallen, das Album sperriger zu gestalten?
Ja, deutlich sperriger. Ein guter Freund, dem ich immer wieder über die Jahre aktuelle Fassungen vorgespielt habe, meinte danach immer fragend, dass es doch jetzt schon fertig sei. Er mag eher sperrige Musik und braucht keinen Pop in seinem Leben. Ich war immer der Meinung, es sei eben noch nicht fertig. Als ich dann der Meinung war und es ihm vorgespielt habe, fand er, dass es sich jetzt aber ganz anders anfühlt. Dabei hatte sich gar nicht so unendlich viel verändert. Es brauchte diese Zeit, und ein sperriges Album kann ich relativ schnell machen. Das ist auch nicht schwierig. Musik, die mit Hörgewohnheiten bricht, finde ich relativ leicht herzustellen. Schwieriger finde ich es, Musik herzustellen, die meine Mutter versteht. Und da würde ich mich gerne etwas annähern. Das ist ein schöner Universalitätsanspruch, wenn die Musik so übergreifend ist, dass alle etwas daraus mitnehmen können. Diese Vorstellung gefällt mir.

Es liegt wohl daran, dass du auf „Andere“ mit deinem Gesang und somit als Person viel präsenter bist und man sich nicht so leicht in der Musik verliert. Dein Gesang klingt mutiger. Hast du mehr Vertrauen in deinen Gesang?
Es hat auf jeden Fall mit Vertrauen in meine Stimme zu tun. Weil ich irgendwann gemerkt habe, dass man eine gute Singstimme nicht geschenkt bekommt und dafür Übung notwendig ist. Ich habe tatsächlich auf der Bühne mit DIE NERVEN gelernt zu singen. Das passierte über einen längeren Zeitraum, und plötzlich kam die Präsenz in die Stimme, um sich auch über den Lärm zu erheben. Und ich habe mehr Möglichkeiten gefunden, was ich mit meiner Stimme eigentlich anfangen kann. „Welt in Klammern“ kann ich mir heute kaum anhören, weil manche Vocalperformances eine Vollkatastrophe sind. Vieles davon wurde in meinem damaligen WG-Zimmer aufgenommen. Die Mitbewohner:innen waren oft daheim, man konnte mich also hören. Und dann war ich eben immer scheu, das war bei „Andere“ nicht so. Ich hatte mein eigenes Studio, konnte mich ausprobieren und auch mal vierzig Takes machen oder drei Monate später nochmals rangehen.

Ist es dir wichtig, dass deine Musik eine Art Wert hat, der über deine Person hinausgeht?
Auf jeden Fall. Im besten Fall geht es auf „Andere“ auch gar nicht um mich, auch wenn ich das gemacht habe. Ich würde mir wünschen, dass Leute das Album nehmen und das in ihr eigenes Leben mitnehmen, auf ihr eigenes Gepäck anwenden und damit etwas Neues machen. Das ist für mich die schönste Vorstellung.

In welchem Moment kommt deine Befriedigung?
Wenn ich eine Idee hatte und geschafft habe, sie umzusetzen. Eine Idee, von der ich nicht gedacht habe, dass ich darauf komme. Wenn ich dann selbst im Studio sitze und anfange zu tanzen oder dazu zu resümieren. Das ist der schönste Moment.

Wenn sich die Kunst selbstständig macht?
Ja, genau. Wenn es sich von mir loslöst und ich selbst überrascht bin, dass ich so was machen kann.

Wie verbissen bist du, wenn es darum geht, eine Idee umzusetzen?
Wenn ich etwas nicht umsetzen kann, dann versuche ich zu überlegen, woran genau es liegt, und versuche, eine Lösung für das Problem zu finden. Ein Beispiel ist der Song „Etwas passiert“, das Demo ist verhältnismäßig alt und es gelang mir nicht, den Song zu knacken. Der Text war fertig, aber ich konnte es einfach nicht singen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es die falsche Tonlage ist. Dann habe ich es fünf Halbtöne höher gemacht, auf einer anderen Tonlage gesungen und plötzlich hatte sich das Problem erledigt. Ich bin immer froh, wenn sich Problem einfach lösen lassen. Wenn es keine Lösung gibt, dann lasse ich es einfach bleiben. Dann ist die Idee für mich vielleicht einfach nicht gut.

Sammelst du Ideen?
Ja, alles, und ich habe eine ordentliche Datenbank mit ungenutzten Ideen. Und alles, was ich abspeichernswert finde, hat auch immer was. Manchmal ist einfach kein Song dahinter und zwei Jahre später stellt man dann fest, dass eine Spur davon dann die Grundlage für einen anderen Song ist.

Ist „Grenzen“ einer, der aus einer alten Idee entstanden ist? Der fällt für mich gefühlsmäßig aus dem Rahmen und ist dichter.
Nein, das ist aber die einzige Bandkomposition. Er ist bei den Proben zu der Tour für das letzte Album „Welt in Klammern“ entstanden. Ein Selbstläufer aus dem Proberaum, der dann auf allen Konzerten gespielt wurde.

In „Etwas passiert“ greifst du einen interessanten Gedanken auf, „Alle, die ich kannte, sind längst nicht mehr hier“, heißt es in einer Textzeile. Das kleine Kind Max ist nicht mehr da, aber doch noch in dir. Freunde von früher sind auch noch da, aber eben anders. Wie sehr beschäftigt dich die Vergänglichkeit?
Sehr. Es geht nicht um den Tod im eigentlichen Sinne, sondern darum, dass Menschen auftauchen und im Leben auch wieder verschwinden. So wie ich selbst auch im Leben anderer auftauche. Ich kann mich immer wieder aufs Neue nicht entscheiden, ob ich es gut finde, ob es mir wehtut oder ob es bloß der Lauf der Dinge ist, was auch okay ist.

Würdest du Musikmachen als Arbeit bezeichnen, trennst du Arbeit und Freizeit strikt?
Ja, auf jeden Fall. Es ist eine gesunde Herangehensweise, das, was ich tue, als Arbeit zu bezeichnen und dann Freizeit zu haben. Zu Hause habe ich keine Musikanlage, nur eine kleine Bluetooth-Box, über die ich maximal Songs streame. Das mache ich jetzt nicht von 9 bis 17 Uhr, haha. Eher etwas später, aber ich bin schon fünf, sechs Mal pro Woche im Studio. Das finde ich wertvoll, da bin ich über die Jahre hingekommen. Wenn ich keine Idee habe, dann muss ich trotzdem was machen. Ich mag es, wenn Leute wie Nick Cave sich zum Arbeiten zwingen oder auch Schriftsteller wie Haruki Murakami, der acht Stunden am Tag in seinem Schreibraum sitzt. Wenn er keine Ideen hat, dann schreibt er eben trotzdem. Ich empfinde das wichtig für den guten kreativen Prozess. Es gibt kein künstlerisches Genie oder so was. Vielleicht eine Initialzündung, aber selbst für die muss man erst mal zehn schlechte Ideen gehabt haben und danach kommt ja noch die Ausarbeitung. Es ist einfach Arbeit, viel Arbeit, und die erledigt sich nicht von alleine. Und weil ich so viel arbeite, freue ich mich dann über das Wochenende, wenn ich rumliege und gar nichts mache.

Kreativität ist ein Handwerk und man kann sich von der Illusion verabschieden, dass das immer Spaß macht?
Auf jeden Fall, und man muss sich davon verabschieden, wenn man sein Leben damit bestreitet, kreativ zu sein, jeden Tag aufs Neue und auch, wenn man mit dem falschen Fuß aufgestanden ist.

Wenn du für andere produzierst, kannst du dich dann von dem kreativen Inhalt distanzieren und nur dem Sound widmen?
Ich mische zum Beispiel relativ ungern Platten, weil das ein Teil der Produktion ist, der sehr spät ansetzt und bei dem schon alle wesentlichen Entscheidungen getroffen sind. Probleme sind aber trotzdem da. Element A klingt nicht gut, Element C integriert sich nicht oder Arrangement Y taugt nicht. Das muss man dann im Mix lösen und das ist eigentlich der falsche Punkt, um solche Entscheidungen zu treffen. Die trifft man während der Produktion und da ist dann auch noch alles möglich. Man kann dann einen Refrain etwas voller klingen lassen und muss nicht mit einem Equalizer rangehen. Deshalb mag ich diesen Teil des Prozesses gerne, weil da erst mal noch alles möglich ist.

Bist du mutiger, wenn du andere berätst?
Ich glaube, das ist keine Frage des Mutes. Bei der Arbeit mit anderen ist man ja immer darauf bedacht, das Gegenüber zu begeistern. In einer gesunden Produktion geht erst mal alles, jeder kann jede Idee mit einbringen und alles auf den Tisch werfen. Wenn man diesen Mut aufbringt, so was zu machen, dann ist das immer gut. Vor mir selbst muss ich ja aber keine Angst haben. Da kann ich einfach am nächsten Tag draufschauen und es dann noch mal besser machen.

In „Gift“ sprichst du von Angst und Furcht, die grundlos sind. Welches Gift würde denn deinen künstlerischen Prozess stören?
Ablenkung.

Auch erhöhtes Interesse, verbunden mit einer Art von Bringschuld?
Nee, Bringschuld würde ich spontan nicht sagen. Ich habe eher die Sorge, dass Leute, die das vorherige Album mochten, „Andere“ nicht mehr mögen. Aber ich als Fan würde mich zum Beispiel sehr über ein Album freuen, das die Sache wieder ganz anders angeht als beim vorherigen Album. Bringschuld würde ja bedeuten, dass man immer wieder dasselbe wiederholt und so funktioniert ja ein kreativer Prozess nicht. Damit muss man einfach leben, dass auch Hörer:innen auf der Strecke bleiben, man kennt das ja selbst von sich. Das ist total okay und normal.

Was denkst du, was Leute von dir erwarten?
Mehrere Leute in meinem Umfeld haben „Welt in Klammern 2“ erwartet. So was kann ich aber natürlich nicht leisten und fände es auch total uninteressant. Meine Lebensrealität ist einfach eine ganz andere als noch vor vier Jahren.

Der Song „Blind“ ist so intim, dass man denken könnte, es wäre ein One Take. Es ist sicher schwer, solche Gedanken und Emotionen einzufangen und durch Wiederholung wird es selten besser. Wie stellst du das an?
Ganz ehrlich? Haha, der Song ist tatsächlich ein One Take. Zehn Minuten nachdem ich ihn geschrieben hatte, habe ich ihn aufgenommen.