Mit "Problematic" haben ALL jüngst ihr wasweissichwievieltes Album veröffentlicht, und ja, irgendwie passiert im Hause ALL nicht mehr viel, das überrascht, aber darauf kommt´s ja auch nicht an: ALL sind musikalische Perfektionisten, deren Songwriting ein Höchstmass an Ausgereiftheit erreicht hat. Und da der Vierer nicht nur die Band gemeinsam "betreibt", sondern mit Owned & Operated auch ein Label sein eigen nennt, das "Blasting Room"-Studio nicht zu vergessen, bot sich ein Interview mit Bill Stevenson an, der seinerzeit ja schon bei BLACK FLAG spielte
Bill, wo erreiche ich dich? Im Blasting Room oder im Büro von Owned & Operated Records?
"Weder noch. Ich bin in meinem Haus in Fort Collins, Colorado."
Was ist deine Begründung, warum ALL auch anno 2000 immer noch musikalisch und textlich was zu sagen haben?
"Nun, textlich schreiben wir einfach über Sachen, die uns persönlich berühren und die uns wichtig sind. Diese Themen können durchaus solche sein, die einen weiten Kreis von Leuten ansprechen, aber wir waren noch nie Vertreter eines bestimmten politischen Dogmas und haben damit verhindert, dass wir oder unsere Themen überholt wirken - einfach weil wir nur über Sachen schreiben, die uns persönlich wichtig sind. Was nun die musikalische Seite anbelangt, so denke ich, dass es keinen Zweifel daran gibt, dass ALL eine der tightesten und fortschrittlichsten Punkrockband überhaupt sind, wobei diese Platte dieses Limit noch etwas weiter getrieben hat, denn hier treffen unglaublich intensives und geradliniges Songwriting auf kontrapunktische Melodien, Harmonien und Rhythmik bei den Subarrangements innerhalb der Songarrangements. Und damit haben ALL sowohl textlich wie musikalisch auch heute noch was zu sagen in Sachen Punkrock."
Als ALL das letzte Mal in Essen spielten war das im Rahmen eines Festivals, und ich kann mich gut erinnern, wie es im Saal leerer wurde und nur die "Alten" drin blieben, während die Kids, die wegen der hippen Melodic-Bands gekommen waren, lieber draussen warteten - und der Gipfel war, als die sich dann auch noch darüber unterhielten, dass ALL handwerklich nicht besonders gut seien ...
"Nun, es gibt eben verschiedene Levels, auf denen Leute Musik aufnehmen, und wenn man es mit einem Musikmarkt zu tun hat, der so schrecklich mit diesem Fat Wreck-Sound gesättigt ist, diesem Punkrock, der von Heavy Metal verschmutzt wurde, dann kann sowas natürlich die Wahrnehmung von Musik beeinträchtigen, die wirklich nur auf Musik basiert und nicht auf stilistischen Elementen. Es ist in unserem Fall eben keine stilisierte, skulpturierte Musik, sondern Musik, die auf der Liebe zur Musik basiert und nicht auf Fashion oder Style."
Auf der einen Seite steht Punk für simple Musik und drei Akkorde gelten als das oberste Credo, auf der anderen gibt´s eine Band wie ALL, die bei aller Melodiösität für sehr abwechslungsreiche Rhythmik und komplexe Arrangements steht.
"Unsere Arrangements waren schon beim ersten Album der DESCENDENTS eher komplex, denn Punkrock hat für mich von Anfang an nicht bedeutet, immer neue Versionen von "Beat on the brat" oder "Blitzkrieg Bop" zu spielen. Klar, ich mag die RAMONES, aber halte es halt nicht für besonders punkrock, dieses Album immer wieder neu aufzunehmen, denn sowas ist einfach konservativ, während Punk doch eigentlich für liberale Werte steht."
Wie kommt´s, dass so viele Bands heuzutage glauben, dass eine nette Melodie und die Einhaltung des Vers-Chor-Schemas einen guten Song ausmachen? Dabei kennt aber kaum eine das Geheimnis, wie man einen guten Pop-Song schreibt.
"Mit dem grossen Einfluss von MTV und der Mode-Industrie auf die Popularität einer Band heutzutage spielt für die Mehrzahl der Teenager heutzutage die Musik selbst keine grosse Rolle mehr. Viel wichtiger als das, was ein Musiker spielt, ist das, was er dabei trägt und wie er aussieht."
Du meinst also, dass der visuelle Aspekt einer Band mit dem Aufstieg von MTV seit Mitte der Achtziger immer wichtiger geworden ist.
"Ja, und zwar bis zu dem Punkt, wo die musikalischen Arrangements nur noch dazu da sind, ein visuelles Szenario zu untermalen. Sie sind da, um visuelle Bewegungen zu ermöglichen und nicht um angehört zu werden, nach dem Prinzip: das ist ein interessanter Song zum Anschauen, also spiele ich ihn."
Dazu fällt mir so Dreck wie BLOODHOUNDGANG ein: Als die vor ein paar Monaten so gross waren, da sprach kein Mensch über ihre Musik, sondern nur über die ach so skandalösen Videos.
"Yep, so läuft´s eben im Mainstream-Musikbusiness, und so war das schon immer. Es ist viel einfacher etwas zu verkaufen, das visuell interessant und irgendwie spektakulär ist, selbst wenn das ziemlich billig ist. Punkrock war für mich aber immer schon etwas, das unterhalb der Reichweite des Mainstream-Radars passiert, von daher ist es mir scheissegal, was auf MTV läuft und wessen Gesicht auf den Titelseiten der Musikmagazine ist. Das hat rein gar nichts zu tun mit dem, was mich interessiert, und Ornette Coleman war auch nie auf dem Cover von Rolling Stone, trotzdem ist er einer der besten Musiker aller Zeiten."
Was hat´s mit dem Song "She broke my dick" auf dem aktuellen Album auf sich?
"Nun, es ist eine wahre Geschichte. Ich habe den Song geschrieben, und es ist die wahre Geschichte, wie ich mir den Schwanz gebrochen habe."
Äh ... Wie macht man das?
"Beim Ficken."
Öh, wie kann man sich etwas brechen, das keinen Knochen hat?
"Naja, also es ist schon so eine Art Bruch, und ich musste mir Cortisonspritzen direkt reinjagen lassen. Ausserdem muss ich meinen Schwanz seitdem mit Hitzekissen warmhalten und ihn nach dem Sex mit Eisbeuteln abkühlen. So it´s pretty broken."
Du verarschst mich.
"Nein, ehrlich, das ist wahr. Das ist kein Scherz."
Ja, und, ist jetzt wieder alles heil?
"Leider nicht. Das heisst, er war beinahe geheilt. Das mit dem Bruch passierte letztes Jahr im Juli und bis Weihnachten war er dann beinahe geheilt, doch als ich dann mal wieder Sex hatte - ich war besoffen, ich gebe es zu - war ich nicht vorsichtig genug und legte richtig los, so das ich mir an der gleichen Stelle wieder eine Bruch geholt habe. Zwar nicht so übel wie beim ersten Mal, aber die Sache brach wieder auf. Ich habe derzeit auch keine Ahnung, ob die Sache wieder völlig verheilen wird. Aber keine Sorge, sonst funktioniert er wieder ganz gut, ich muss halt nur vorsichtig sein und darf nicht zu hart rangehen."
Klingt wie ein Alptraum ...
"... ist aber eine wahre Geschichte."
Lass uns über euer Label sprechen, Owned & Operated Records. Ihr habt ein paar echt gute Bands, doch leider kennt die kaum jemand.
"Wir haben das Label als ganz kleine Sache gestartet, ohne gleich einen Vertrag mit einem grossen Vertrieb zu unterzeichnen. Wir wollen, dass es von alleine wächst, ganz natürlich, so wie auch SST damals in den frühen Achtzigern nur ganz allmählich gewachsen ist. Ich will auch nicht, dass wir mit all diesen Labels in Zusammenhang gebracht werden, die eigentlich nur Dreck rausbringen, und mit den Majors wollen wir auch nichts zu tun haben. Nein, es ist allein unser Ding und wir wollen erst gute Musik herausbringen, auf die die Leute dann hoffentlich nach und nach aufmerksam werden. Es ist mir auch egal, ob wir Geld damit verdienen, denn Geld ist mir egal."
Teilweise kommen die Bands auf O&O wie ihr aus Fort Collins und es gibt auch einen gewissen "Inzest".
"Das trifft im Falle von ALL, WRETCH LIKE ME und BILL THE WELDER zu, ja. Aber sonst sind WRETCH LIKE ME, TANGER, SOMEDAY I und ALL je ein Ding für sich, und der Sound ist auch jeweils ein ganz eigener. TANGER beispielsweise klingen nicht mal ansatzweise wie ALL, und ebenso SOMEDAY I. Die sind eine grossartige Band. Nicht zuvergessen die PAVERS, die neue Band von Scott Reynolds, dem ehemaligen Sänger von ALL."
Was für Pläne gibt´s für die Bands, das Label? Ist da irgendwas mit einer Europatour geplant oder gehen die Bands noch nicht mal in den USA auf Tour?
"Wir haben versucht, die Bands in den USA auf Tour zu schicken, aber es ist sehr hart geworden. SOMEDAY I haben´s gewagt, und sie spielten teilweise vor 15 Leuten. Falls du in Europa jemanden kennst, der mit unseren Bands was machen will, sag denen Bescheid, die sollen ´ne eMail schicken, wir sind sehr interessiert."
Sind denn eure Sachen in Europa zu bekommen?
"Nur schwer, denke ich, denn wir haben keinen Vertrieb. Auch hier gilt: wenn jemand interessiert ist, soll er sich bei uns melden. Wir sind eben ein neues Label und müssen und wollen uns alles neu und selbst erarbeiten."
O&O ist zumindest von den Leuten, die dahinter stecken, kein kleines Label.
"Nun, insgesamt gehört O&O sieben Leuten, aber die eigentliche Arbeit machen drei Leute. Das sind zum einen die vier Leute von ALL, also Karl Alvarez, Stephen Egerton, Chad Price und ich, die aber nichts mit der Alltagsarbeit zu tun haben. Dafür sind Joe Young, einst bei C/Z Records und Nastymix, Jason Chinnock, der Sämger und Gitarrist von TANGER, sowie Joe Carducci zuständig."
Joe Carducci war einer der Gründer von SST.
"Das ist richtig. Er war Anfang und Mitte der Achtziger mit der wichtigste Mann bei SST. Er kümmerte sich um das Label, während wir mit BLACK FLAG auf Tour waren."
Wie kam´s dazu, dass ihr wieder was zusammen gemacht habt?
"Unser Kontakt war über all die Jahre nie abgebrochen, wir blieben immer befreundet. Joe zog dann vor ein paar Jahren nach Wyoming und wohnt jetzt eine halbe Stunde von hier, also kamen wir wieder zusammen."
Wie ist das Verhältnis zu SST und Greg Ginn heute?
"Gut, wie immer! Greg und ich sind gute Freunde und wir telefonieren regelmässig. Sie haben ja auch die ganzen DESCENDENTS-Platten und ein paar von ALL im Programm. Nach einer Phase der Reorganisation wird jetzt wohl auch wieder die eine oder andere neue Sache auf SST veröffentlicht werden."
Was ist nach all den Jahren dein, euer Grundansatz, wenn es um die Organisation der eigenen Arbeit und der Geschäfte geht?
"Das sind ja alles verschiedene Bereiche, die sich voneinander unterscheiden. Da ist zum einen die Band, zum anderen das Label, dann das Studio und schliesslich unsere T-Shirt-Druckerei. Jeder einzelne Bereich arbeitet anders, muss anders arbeiten, wobei das Label und die T-Shirt-Druckerei eher "normale" Geschäftsbereiche sind, wo die Leute morgens um neun auf der Matte stehen müssen und so weiter. Da ist einfach nicht viel Raum für Unorganisiertheit. Mit dem Studio und der Band ist es anders. Da ist etwas Unorganisiertheit eher gut für die Kreativität."
Der D.I.Y.-Gedanke, also sein eigenes Ding zu starten, später seinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten und sich damit zum Teil aus der "normalen" Welt rauszuhalten - würdest du das einem heute 15- oder 18-jährigen Punkrocker empfehlen?
"Ja, wenn er bereit ist hart zu arbeiten, 19 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Wenn jemand nur fünf, sechs Stunden am Tag arbeiten und dann rumhängen will, sollte er die Finger davon lassen, seine eigene Firma zu gründen. Ausser derjenige ist sehr schlau und weiss, wie man ohne viel Arbeit viel Geld verdient."
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