ALL

Reden wir mal Klartext: es gibt derzeit nun wirklich keinen Mangel an Punkbands, die für sich beanspruchen, nicht nur Punkrock- sondern auch Pop-Songs zu schreiben. Doch eine zuckrige Refrain-Melodie macht noch keinen guten Pop-Song, und nicht wenige dieser Combos haben nicht mehr vorzuweisen als die richtigen Platten im Schrank. Das nötige Gespür für geschmeidiges Songwriting hat eben nicht jeder, was - um mal ein albernes Beispiel anzubringen - ungefähr dem Unterschied zwischen einem passablen Hobbykoch und einem veritablen Chef de cuisine entspricht: Auch ersterer wird eine leckere Pastasauce zaubern können, doch das entscheidende Quentchen Genie bringt nur der Profi mit. Und wer will bestreiten, dass das Trio Egerton/Alvarez/Stevenson seit Urzeiten die Kunst beherrscht, knackige Pop-Punk-Songs von Gourmet-Qualität zu kreieren? Vom Hype um die wiederauferstandenen DESCENDENTS wurden deren eigentliche Nachfolger ALL in den letzten Monaten etwas in den Hintergrund gedrängt, doch neben Milo Aukerman am Mikrophon gibt es ja auch noch Chad Price als Sänger, der auf "Mass Nerder" ALL einmal mehr seine Stimme lieh und seinen Teil dazu beitrug, dass der Vierer aus Fort Collins, Colorado Ende der Neunziger nochmal zu Höchstform aufläuft. Ich sprach mit einem gutgelaunten Bill Stevenson.

Wo erreiche ich dich gerade?

Direkt im "Blasting Room" in Fort Collins, Colorado - dem ALL-Hauptquartier. Das musst du dir als ein kleineres Lagerhaus vorstellen, in dem unser Studio untergebracht ist, unser Proberaum, die Büros und die T-Shirt-Druckerei. Insgesamt arbeiten hier ungefähr 15 Leute, und das beinhaltet die beiden Bands, DESCENDENTS und ALL, das Studio und wie ich eben schon sagte, die Druckerei. Wir drucken ja seit langem unsere T-Shirts selbst, und bieten diesen Service auch anderen Bands an.

Man hat es hier also mit "All Inc." zu tun.

Hehe, so in der Art. Wir nennen es "The Compound". Das klingt militaristisch, aber es ist nur ein Witz.

Man kann also sagen, ihr habt das alte Punkideal D.I.Y., "Do it yourself", konsequent durchgezogen.

Hehe, klar, man könnte sogar sagen, wir haben das erfunden. Nein, ganz im Ernst. Als wir damals in den späten Siebzigern anfingen, in den USA auf Tour zu gehen, gab es kaum Bands aus Kalifornien, die es schafften, bis nach New York zu touren, von Majorlabel-Bands mal abgesehen. Wir waren richtige Pioniere, mussten alles selber machen, und damals bauten wir als erste in einen Van mit Holzbrettern so eine Art Zwischendecke ein, so dass wir unten das Equipment reinpacken konnten und oben ein paar Leute schlafen konnten. Das waren die ersten BLACK FLAG- und DESCENDENTS-Touren, die so liefen. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Ja, D.I.Y. ist uns sehr wichtig, wir betreiben das auf einem recht hohen Level.

Hat diese Überzeugung denn auch was damit zu tun, dass ihr jetzt bei Epitaph seid und nicht mehr auf einem Major?

Eigentlich waren wir nur ein paar Monate auf Interscope. Es war ein Versuch, wir wollten mal sehen, wie und ob das funktioniert, und letztendlich waren wir damit sehr unzufrieden. Wir haben den Vertrag gekündigt und unser dort erschienenes Album "Pummel" mitgenommen. Wir haben also die Rechte daran und werden "Pummel" demnächst auf unserem eigenen, neugegründeten Label wiederveröffentlichen. Es heisst Owned & Operated.

Und, wie sehen eure Pläne aus?

Wir werden ganz klein anfangen und versuchen, nach und nach etwas grösser zu werden. Nur so kannst du eine Sache auf eine solide Basis stellen, so, wie wir das damals bei SST gemacht haben.

Damit sprichst du einen guten Punkt an. Wie sieht heute euer Verhältnis zu SST bzw. Cruz Records aus? Ihr habt eure letzte Platte dort vor Jahren veröffentlicht.

Unser Verhältnis ist gut, wir sind alte Freunde und kennen uns seit zwanzig Jahren.

Ja, aber trotzdem seid ihr nicht zu Cruz zurückgekehrt, sondern jetzt auf Epitaph, nachdem ihr schon mit den DESCENDENTS zu Epitaph gegangen seid.

Zwischen beiden Entscheidungen besteht natürlich ein ganz grundsätzlicher Zusammenhang, denn von unserer Seite aus handelt es sich nur um eine Band, und was die eine macht, macht deshalb auch die andere. Von Cruz sind wir damals zu Interscope gewechselt, weil wir mal was Neues ausprobieren wollten. Die haben aber bei "Pummel" keine gute Arbeit geleistet, also versuchten wir es mit Epitaph - und die machen ihre Sache gut.

Aber wo und warum zieht ihr die Linie zwischen ALL und DESCENDENTS? Und was ist mit letzteren, liegen die derzeit auf Eis?

Nun, die DESCENDENTS liegen schon seit einem Jahrzehnt auf Eis, mit der kleinen Unterbrechung eines Albums und der Tour im letzten Jahr. Es ist letztendlich so, dass ALL die Band ist und DESCENDENTS das Side-Project.

Und, habt ihr für dieses Side-Project weitere Pläne?

Hm, mal sehen, vielleicht machen wir nächstes Jahr noch eine Platte.

Wie geht ihr beim Songwriting vor? Steht da von vornherein fest, ob das jetzt ein ALL- oder ein DESCENDENTS-Song wird?

Nein, es gibt dahinter keine göttliche Logik. Die meisten Songs auf "Everything sucks" zum Beispiel schrieben wir auf Tour mit ALL, und die Songs auf "Mass nerder" wiederum entstanden auf der DESCENDENTS-Tour. Die ganze ALL/DESCENDENTS-Sache hat also rein gar nichts mysteriöses an sich, es handelt sich einfach um fünf Leute, die zusammen Musik machen.

Es handelt sich also um einen milden Fall von Schizophrenie.

Äh, ja, genau, das ist ein guter Vergleich.

Was ALL anbelangt, so finde ich - und ich weiss, dass es anderen Leuten da genauso geht -, dass eure Anfang und Mitte der Neunziger erschienenen Platten nicht ganz so begeisternd waren wie die frühen. Denn im Gegensatz zur neuen Platte und den alten waren neben den gewohnt melodiösen Tracks auch verstärkt diese frickeligen Tunes dabei, ging es eben nicht so geradlinig pop-punkig zur Sache.

Hm, ja, ich weiss, was du meinst. Es ist einfach so: Wenn du so lange zusammen Musik machst wie wir, so oft zusammen probst, dann entwickelt die Musik manchmal eine Eigendynamik, sucht sich selbständig ihren Weg. Es stimmt also, wir haben ein paar Platten gemacht, auf denen die Musik "wuchs", wo wir versuchten, von Punkt A nach Punkt C zu gelangen und zwischendrin ein paar Etappen übersprangen. Von daher ist "Mass Nerder" tatsächlich eine Rückkehr zu den alten ALL, denn hier machen wir ausschliesslich das, was wir am besten können. Aber auch das ist ganz zufällig so gekommen, denn über sowas unterhalten wir uns nicht und denken auch nicht darüber nach, nein, wir spielen einfach. Und wir spielen verdammt viel - bevor wir "Mass Nerder" aufnahmen, probten wir jeden Tag sieben Stunden! Das ist wie bei einem Maler - der malt, der denkt nicht über jeden Pinselstrich vorher nach.

Äh, du willst doch damit wohl nicht sagen, dass ihr euch als Künstler seht.

Haha, na gut, dann nehme ich eben ein anderes Beispiel: Beim Ficken denkst du auch nicht darüber nach, was du da machst, du machst es einfach. Wir sind also mehr wie ein fickender Hund als ein Künstler.

Mit den DESCENDENTS bzw. ALL seid ihr die Urväter des heutigen Pop-Punks geworden. Wie stehst du all diesen neuen Bands zusammen, die letztendlich fast alle zugeben, dass sie sich auf die RAMONES und/oder DESCENDENTS berufen?

Ich finde, es ist ein schönes Kompliment, wenn Bands erklären, von uns beeinflusst worden zu sein. Aber ich selbst sehe uns nur als Teil eines Ganzen, nicht in einer hervorgehobenen Position, denn auch wir wurden letztendlich von mindestens genauso vielen Bands beeinflusst wie jene Bands, die uns als Einfluss nennen.

Was waren denn eure Einflüsse, als ihr die DESCENDENTS gegründet habt?

Der grösste Einfluss waren THE LAST, die ja auch auf SST Platten veröffentlich haben. Sie gingen in die gleiche Highschool, waren ein paar Jahre älter als wir und klangen so, als würde man eine unserer Platten mit einer ganz cleanen Gitarre einspielen. Die waren sehr wichtig für uns, und auch eine wettere Band aus L.A. namens THE ALLEY CATS - und natürlich BLACK FLAG.

Glaubst du, es gibt ein Geheimrezept für den perfekten Popsong?

Puh, das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dieses Rezept ändert sich alle paar Jahre. Dieser Scheiss, denn ich im Radio höre, der wird von vielen Leuten als gute Popmusik angesehen, aber das kann ich nicht nachvollziehen, denn teilweise haben die nicht mal einen vernünftigen Refrain. Die Einschätzung dessen, was ein guter Popsong ist, ändert sich also laufend. Ich fürchte also, ich kann deine Frage echt nicht beantworten.

Der erste Song eures neuen Albums hat den Titel "World´s on heroin" - wenn man weiss, dass euer Labelboss Brett Gurewitz in letzter Zeit mit Heroinproblemen zu kämpfen hatte, bekommt das eine ganz andere Bedeutung.

Das hat nichts miteinander zu tun. Der Song bezieht sich vielmehr auf das Gefühl, das ich manchmal habe, und wo es mir dann so vorkommt, als bewege sich die ganze Welt um mich herum in Zeitlupe, während ich mich im Zeitraffertempo bewege.

Der Titel könnte also auch lauten "World´s on caffein".

Nein, eben nicht, sondern höchstens "I´m on caffein".

Welche Sorte Kaffee bevorzugst du denn?

In der Regel Sumatra. Ich zieh mir davon jeden Tag ein paar Liter rein.

Und was sagt dein Magen dazu?

Mein Magen ist aus Eisen, ich kann alles trinken, der ist nicht kaputtzukriegen.

Ach ja? Und was sagt dein Arzt dazu?

Gar nichts, weil ich nämlich seit Jahren nicht mehr beim Arzt war. Ich esse viel Obst und Gemüse, das muss ausreichen.

Sowohl bei ALL wie den DESCENDENTS gibt es sowas wie eine rote Linie, sowohl in Bezug auf die graphische Gestaltung der Cover wie auf die Thematik. So taucht immer wieder das Bandmaskottchen Allroy auf, und diese "Nerd"-Thematik, die Idee vom bebrillten, rumgeschubsten Dummerchen-Genie, ist auch allgegenwärtig.

Ja, stimmt, das passt eben alles zu uns. Unsere Musik ist das Ergebnis einer permanenten Kaffee-Überdosierung, und wir sind eben eher diese "nerd coffee drinkers" und weniger beinharte Rock´n´roller.

Du ziehst also eine Linie zwischen Punkrock und Rock´n´roll?

Nein, das auch nicht, denn Punkrock gehört mit zum besten Rock´n´roll, den es gibt. Ich erinnere mich noch genau, wie damals "Leave home" von den RAMONES erschien und ich so begeistert und überzeugt von der Platte war, dass ich mich ständig fragte, warum das nicht wie BLACK SABBATH und TED NUGENT im Radio läuft. Nun, der Grund war, dass es Punkrock ist, und Punkrock wird gerne unter den Teppich gekehrt, weil die "normalen" Leute nicht kapieren, wie gut diese Musik ist. Meine Rock´n´roll-Favoriten sind übrigens diese Fifties-Rocker wie Eddie Cochran und Jerry Lee Lewis, und dann natürlich Punkrock.

Glücklicherweise ist dieser schmutzige Rock´n´roll-Spirit in den letzten zwei, drei Jahren ja ganz massiv in den Punkrock zurückgekehrt und bildet mittlerweile ein gutes Gegengewicht etwa zu diesem ganzen cleanen California-Punk.

Ich weiss, was du meinst: diese Bands klingen so poliert und "weiss". ALL passen zum Glück in keine dieser Katagorien, wir machen unser ganz eigenes Ding. Ich denke, unsere Songs sind so dicht und schnell, da bleibt keine Zeit um darüber nachzudenken, wo man sie jetzt einsortieren kann.

Bill, du und Stephen, ihr arbeitet auch als Produzenten und habt in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Bands bei euch im "Blasting Room" aufgenommen bzw. gemischt. Nach welchen Kriterien sucht ihr diese Bands aus, denn ich denke, da findet schon eine Auswahl statt, da es sich keine dieser Bands nehmen lässt zu erwähnen, dass Stephen Egerton und Bill Stevenson sie produziert haben?

Es gibt ein paar mögliche Gründe dafür, dass wir eine Band machen. Zum einen kann es sein, dass wir das Demo mögen, das wir geschickt bekommen, oder wir sehen es als perverse Herausforderung an. Im Augenblick zum Beispiel arbeite ich mit einer japanischen Ska-Band namens KEMURI. Die sprechen kein Wort englisch, haben Bläser in der Band und spielen Ska. Und da hat mich die Herausforderung gereizt, ich will einfach sehen, wie ich damit klarkomme.

Ja, aber ich denke, ihr habt durchaus einen Namen zu verlieren, und wenn ihr aus finanziellen Gründen jede schlechte Majorband produzieren würdet, wäre es bald geschehen um euren guten Namen.

Ganz klar, wir überlegen uns natürlich reiflich, ob wir eine Band machen oder nicht, das muss irgendwie passen. Aber wir haben sowieso nicht viel Zeit, um hier andere Bands zu produzieren, da wir ständig auf Tour sind oder selbst aufnehmen, also ist schon allein durch diese Begrenzung die Gefahr weitgehend gebannt, dass wir jede Band machen, die uns fragt. Und ich muss sagen, dass wir bislang wirklich in jedem Fall gute Arbeit geleistet haben. Das Studio ist letztendlich nur wenig mehr als ein Hobby für uns, ein spassiges Ding nebenher, das praktischerweise auch was mit Musik zu tun hat. Und natürlich sagen wir auch nicht nein zu dem Geld, das wir damit verdienen, ganz abgesehen davon, dass wir uns auch nicht ständig um neue Aufträge reissen. Ich habe gerade jetzt neben mir einen ganzen Stapel CDs von Bands liegen, denen ich eine Absage schreiben muss, weil mir einfach nicht gefällt, was sie da machen.

Wie ging das eigentlich los mit dem Blasting Room?

Wir sind da mehr oder weniger zufällig reingerutscht. Ich habe ehrlich gesagt auch kaum Ahnung vom Studio-Business als solchem. Ich weiss, ich sollte mehr darüber wissen, aber es interessiert mich einfach nicht. Wir haben dieses Studio ganz allein aufgebaut, haben die Wände selbst gezogen, alles selbst verkabelt, und uns hier in Fort Collins unsere eigene kleine Welt geschaffen, die von der restlichen Welt da draussen manchmal doch recht abgeschnitten ist. Die meisten anderen Leute, die in einer Band unseres Levels spielen, bekommen sicher mehr mit, was in der Szene so läuft.

Und wie kam es seinerzeit dazu, dass ihr Los Angeles verlassen und euch mitten im Nichts niedergelassen habt?

Wir mussten damals einfach raus aus L.A. Die Band und unsere Roadcrew, wir lebten alle zusammen in einem Ein-Zimmer-Appartement, das auch noch unser Proberaum war, und zahlten dafür 1.300 Dollar Miete. Nach neun Jahren, in denen wir wie Sardinen in einer Büchse lebten, hatten wir die Schnauze voll und waren beinahe pleite, denn damals war Punk alles andere als beliebt und wir schon froh, wenn es mal 200 Dollar Gage gab. Also verliessen wir L.A. Richtung Midwest, wo wir uns für 250 Dollar ein ganzes Haus mieten konnten und jeder von uns erstmals ein eigenes Zimmer hatte. Wir lebten seit Jahren wieder wie normale Menschen, und sparten darüber hinaus auch noch jeden Monat 1.000 Dollar Miete. Nach vier Jahren hatten wir von diesem Kaff aber auch die Schnauze voll, es passierte einfach nichts. Ausser Saufen gab es da einfach nichts zu tun, und so entschlossen wir uns, nach Fort Collins zu gehen. Das ist eine mittelgrosse Stadt, was einige Vorteile hat, ist aber immer noch recht günstig.

Und bis heute hält sich das Verlangen in Grenzen, wieder nach L.A. zurückzukehren?

Ja, auch wenn ich persönlich doch immer wieder das Bedürfnis verspüre, eines Tages wieder am Strand, in Hermosa Beach, zu wohnen, denn da bin ich geboren und aufgewachsen. Abgesehen davon mag ich den Schnee auch nicht besonders: sechs Monate im Jahr ist es hier wundervoll, dann kann man die Berge und die Flüsse geniessen, bevor es wieder kalt und feucht wird. Definitiv keine Rolle spielt für mich die Tatsache, dass wir hier völlig von der Szene abgeschnitten sind. Die "Szene", das Musikbusiness, Hollywood, all das geht uns völlig am Arsch vorbei. We don´t care about this shit, we care about fishing.

Das klingt nicht so, als wärst du ein Vegetarier.

Äh, nö. Ich habe aber mal einen gegessen.

Ach ja? Wow. Wie hiess der denn?

Ralph.

Und die Polizei hat nie Fragen gestellt?

Nein, ich hatte Glück.

Letzte Frage: werden wir ALL in absehbarer Zeit mal wieder in Deutschland zu sehen bekommen?

Es ist noch nichts entschieden, aber ich denke, so zum Jahreswechsel könnt ihr mit uns rechnen.

Danke!