Bereits die ersten Akkorde des Openers „Fiction“ wiesen anno 1997 darauf hin, dass mit diesem Album für TEN FOOT POLE eine neue Zeitrechnung beginnen sollte. Dieses schnelle Riff mit unglaublich wuchtigem Gitarrensound reißt auch heute noch direkt mit. Nur wenige Sekunden danach setzt das prügelnde Schlagzeug ein, begleitet von einem tiefen Bass. Und dann die größte Überraschung: Dieser Gesang, diese Stimme! Während auf dem Debüt und Vorgänger „Rev“ von 1994 noch Scott Radinsky (PULLEY) am Mikro stand, übernahm 1996 Dennis Jagard, Gründungsmitglied und bisheriger Gitarrist, den Hauptgesang und hievte mit seinem hellen, klaren, leicht schüchternen und zugleich wütenden Gesang die Band auf ein neues Level. Auch textlich änderte sich mit Dennis vieles. So wurden die Stücke mit „Unleashed“ ernster, nachdenklicher, tiefgründiger, aber auch witziger. Neben dem Songwriting wurde aber auch musikalisch insgesamt noch mal eine Schippe draufgelegt. Die Tatsache, dass Scott Radinsky die fünfköpfige Band wegen seiner Baseballkarriere aufgeben musste, zwang die verbliebenen vier Mitglieder zu einer Entscheidung. Diese beschlossen daraufhin, nun mit Dennis als Sänger, aber vor allem zu viert weiterzumachen. Das veränderte natürlich auch den Sound der Band aus dem Simi Valley in Kalifornien. „Rev“ war ein gutes Album, keine Frage. Straighter Skatepunk mit ordentlich Tempo, aber ohne Ausreißer nach oben oder unten. Mit „Unleashed“ jedoch meint man eine andere Band zu hören. Nun gab es komplexere, variablere Songstrukturen, die mal schneller („Damage“, „Excuses“) oder langsamer („Hey Pete“, „Daddy“) daherkommen. Technisch perfekt gespielt und druckvoll produziert von der Legende Ryan Greene. Mit diesem grandiosen Album wurde ich zum absoluten Fan. Auch die Nachfolger – „Insider“ von 1998 und „Bad Mother Trucker“ von 2002 – waren herrliche Platten, die aus der Masse der Melodic-Hardcore/Skatepunk-Veröffentlichungen deutlich herausstachen. Und dennoch konnten sich TEN FOOT POLE nie einen solchen Status erspielen wie viele ihrer damaligen zahlreichen Labelkollegen auf Epitaph. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass „Subliminable Messages“ von 2004 dann qualitativ stark abfiel und danach der Ofen bei der Band endgültig aus war bis 2019. Sie hatten sich zwar nie aufgelöst und traten hier und da mal vereinzelt live auf, aber im Grunde war die Band am Ende. Auch im Nachhinein finde ich das immer noch schade. Man muss es einfach sagen, wie es ist: „Unleashed“ macht seinem Wortsinn alle Ehre und trifft es auf den Punkt – dieses Album war die vollständige Entfesselung des musikalischen Potenzials der Kalifornier TEN FOOT POLE.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #162 Juni/Juli 2022 und André Hertel