Die meisten kennen Judah Bauer wohl überwiegend als zweiten Gitarristen der JON SPENCER BLUES EXPLOSION, aber Bauer hat zusammen mit seinem Bruder Donovan bereits seit 1996 parallel zu seinem Hauptjob Platten unter dem Bandnamen 20 MILES auf dem Blues-Label Fat Possum veröffentlicht. Das erste Mal treffe ich persönlich auf Bauer im Foyer eines Kölner Hotels, wo die BLUES EXPLOSION während ihrer Interviewtour zur letzten Platte „Plastic Fang“ gastiert. Ich erkenne die leicht übermüdet wirkende, schlaksige Gestalt erst, als er mir mit den Worten „Hi, I’m Judah, this is my new CD“ einen von Hand beschrifteten CD-Rohling mit dem aktuellen 20 MILES-Album „Keep It Coming“ in die Hand drückt, ebenso wie den Kollegen vor mir und nach mir.
Noch am selben Nachmittag wandert die zu diesem Zeitpunkt titellose CD in meinen Player und ich bekomme die beste nicht-weiße Rock’n’Roll-Platte einer „weißen Band“ der letzten Jahre zu hören, ein Eindruck, der auch beim zweiten und dritten Hören anhält. Nach dem völlig überfüllten Gig der BLUES EXPLOSION im Gebäude 9 einen Tag später läuft mir Bauer in der sich leerenden Halle erneut über den Weg und fragt mich, wie mir die Platte gefallen habe. Ich versuche diplomatisch zu sein, auch wenn sein Chef nicht in direkter Nähe ist, aber meine kaum zu unterdrückende Begeisterung scheint ihn offensichtlich mit Genugtuung zu erfüllen. Ein angepeiltes Interview findet aber weder an diesem Abend noch zwei Wochen später am Telefon statt – die BLUES EXPLOSION geht einfach vor. Trotzdem sitze ich Bauer dann ganz unerwartet – wieder einige Wochen später – ausgerechnet während der Osterrocknacht in einem Backstageraum der Düsseldorfer Phillipshalle gegenüber, kurz bevor die BLUES EXPLOSION einen sehr authentischen, aber auch innerhalb des Langeweiler-Packages dieses Abends irgendwie deplazierten Gig hinlegte – und dabei auch noch mit einem kaputten Equipment zu kämpfen hatte. Aber auch an diesem Abend scheint sich niemand so richtig für das aktuelle, großartige 20 MILES-Album zu interessieren, was ja bei Fat Possum-Releases generell nichts Neues ist.
Du machst mit deinem Bruder ja schon seit eurer Kindheit Musik, aber auf „Keep It Coming“ kann man nach „I’m A Lucky Guy“ und dem 20 MILES-Debüt ausgehend von den beteiligten Musikern wohl nicht mehr von einer neuen Platte der „Bauer Brothers“ reden.
Stimmt, so hat zwar alles angefangen, aber mein Bruder ist nicht länger Teil der Band. Er ist jetzt in San Francisco und spielt nur bei einem Song mit. Jetzt gibt es im Prinzip nur noch mich und jeden, den ich für dieses Projekt gewinnen konnte. Ich habe diesmal mit unheimlich vielen Leuten auf dieser Platte gearbeitet. Ich glaube, ich habe ursprünglich mit 20 unterschiedlichen Bassisten und 15 Schlagzeugern gespielt, um die richtigen Leute für jeden Song zu finden. Am Ende waren es dann nur noch fünf Schlagzeuger und sechs Bassisten. Deshalb sind die Musiker-Credits auf der Platte ziemlich ausufernd. Steve Jordan, der die letzte BLUES EXPLOSION-Platte produziert hat, spielt bei einem Song Schlagzeug, es gibt ein paar Mädels für den Background-Gesang darunter Hollis Queens von BOSS HOG – und David Sims von THE JESUS LIZARD sollte ursprünglich auch dabei sein. Ich bin ziemlich wählerisch, was Musiker angeht, da ich nach Leuten suche, die eine, nennen wir es mal ‘feminine’ Herangehensweise beim Rock’n’Roll besitzen und schwer zu finden sind. Ansonsten ist Rock’n’Roll immer eine sehr maskuline Angelegenheit. Ich werde immer komisch angeschaut, wenn ich das erzähle... Aber es hat ziemlich viel Spaß gemacht und ich habe einiges dabei gelernt, als ich mit all diesen unterschiedlichen Leuten zusammengespielt habe und mit deren unterschiedlichen Ansichten konfrontiert wurde. Darum geht es auch bei 20 MILES – neue Sachen zu entdecken. Es ist keine Partyband bzw. ein reines Rockding, wie es die BLUES EXPLOSION immer war.
Wie genau ist die Platte entstanden, das war sicherlich diesmal nicht so einfach, wo so viele Leute beteiligt waren?
Ich hasse es, so lange im Studio rumzuhängen, vor allem nach der letzten BLUES EXPLOSION-Platte. Also habe ich mir irgendwann ein Art Mini-Studio in meinem Apartment eingerichtet, wodurch jetzt fast kein Platz mehr ist, um da normal zu leben. Es gibt unterschiedlichstes Aufnahme-Equipment, eine Bandmaschine usw. Im Prinzip habe ich alles selbst gemacht. Das meiste wurde separat auf unterschiedlichen Spuren aufgenommen, da kein Platz war, die Songs komplett einzuspielen. Deshalb gibt es auch eine Menge Overdubs. Als ich nach den Aufnahmen zur letzten BLUES EXPLOSION-Platte abends nach Hause kam, habe ich meistens noch Sachen für das 20 MILES-Album aufgenommen, hier und da ein bisschen, und habe zum Beispiel nur alleine die Schlagzeugspur eingespielt, wenn ich wusste, dass der Gitarrenpart noch nicht fertig war. Wie gesagt, mein Apartment ist nicht besonders groß, und wenn du da auf die Cymbal drischst, hörst du nichts anderes mehr. Da waren die Nachbarn auch mal echt sauer und haben die Bullen gerufen. Einmal, als es wirklich laut war, rief jemand die Polizei und plötzlich hatte ich einen Cop im Apartment, der mir dann einen wirklich unglaublichen Stevie Ray Vaughan-Blues-Gitarrenpart eingespielt hat. Er blieb fast eine Stunde und wollte gar nicht mehr gehen. Sein Partner musste ihn fast rausschleifen, haha. Die Cops in New York können richtig cool sein.
Stimmt es, dass du ursprünglich mal Saxophon gespielt hast?
Ja, da war ich aber erst zehn und der Rock’n’Roll hatte mich noch nicht in seinen Fängen, haha. Wegen meines Vaters war ich mehr an Jazz interessiert. Er war Trompeter und ziemlich besessen davon. Aber es ist ziemlich schwierig, Saxophon zu spielen – Gitarre ist da wesentlich leichter. Also vergaß ich das Saxophon wieder – da war ich 15. Zumal du als Saxophonist auch nicht rauchen kannst. Viele machen das zwar trotzdem, aber mich hat das völlig fertig gemacht.
Du hast, glaube ich, auch mal gesagt, dass es besser sei, schlecht Gitarre zu spielen, als schlecht Saxophon.
Definitiv! Als schlechter Gitarrist kannst du dich irgendwie durchmogeln, du brauchst dich nur umzuschauen. Aber ein schlechter Saxophonist kann niemanden täuschen. Als Gitarrist kannst du immer sagen, das sei Punkrock und benutzt dabei möglichst viele Effekte. Ein Saxophon ist ein sehr ehrliches Instrument und fordert dich als Musiker viel mehr.
Und wie würdest du dich selbst als Gitarristen einstufen?
Ich würde sagen, dass ich als Gitarrist ganz okay bin. Es gibt da ganz unterschiedliche Charaktere: es gibt Leute wie mich und dann gibt es Robbie Krieger von den DOORS. Und es gibt Leute, die als Teil einer bestimmten Band gut funktionieren, aber wenn du sie plötzlich mit einer anderen Situation konfrontierst, gehen sie gnadenlos baden. Das wäre zum Beispiel bei mir der Fall, weil ich nie übe. Ich habe einen bestimmten Stil und da kann man recht gut bluffen, man muss nur gerissen genug sein, haha. Aber das ist der Rock’n’Roll-Spirit. Wenn du ein Jazz-Gitarrist sein willst, musst du natürlich sehr geübt und innovativ sein.
Und im Vergleich mit Jon Spencer...
Ich weiß nicht, Jon spielt so, wie er schon seit zehn Jahren spielt, sehr rudimentär und direkt. Ich bin mehr ein Fan von Bluegrass oder Reggae und habe die Gitarre bis zu einem bestimmten Punkt wirklich studiert. Jon ist dagegen Punkrock, die Gitarre ist nur ein Werkzeug für ihn. Es ist schon erstaunlich, wie wenig sich das bei ihm weiterentwickelt hat, aber es kommt bei ihm auch aus einer ganz anderen Ecke. Es hat mehr mit Sex zu tun, und dafür braucht er keine gute Technik, er lässt es einfach raus. Dennoch überrascht es mich immer wieder, was er alles aus seiner schrottigen Gitarre und seinem kaputten Verstärker herausholen kann. Ich dagegen bin immer auf der Suche nach den besten Gitarren und Saiten, aber Jon ist das egal. Seine Gitarre ist völlig im Eimer und ständig verstimmt. Das treibt mich teilweise regelrecht in den Wahnsinn.
Das erste offizielle Lebenszeichen von 20 MILES gab es 1996. Was war damals der Grund, die Band ins Leben zu rufen?
Nach der Zusammenarbeit mit R.L. Burnside auf ‘Ass Pocket of Whiskey’ wollte ich unbedingt wieder nach Mississippi, um mit meinen Lieblings-Deltablues-Schlagzeugern zu spielen – mit Othar Turner und den Jungs von R.L. Und die Entschuldigung dafür war 20 MILES.
Kannst du mal was über Othar Turner sagen, der auf der ersten 20 MILES-Platte mitspielt, und seine Bedeutung für den Blues? Der Mann wurde, soweit ich weiß, 1908 geboren.
Was Othar Turner macht, ist die Musik, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts populär war. Es ist ein ganz erstaunlicher Stil innerhalb der Schwarzen Musik. Ich finde, dass es noch nicht einmal unbedingt Blues ist. Er spielt Gospel-Songs und Spirituals. Und er ist der Letzte, der so eine Art Musik macht. Er war der Hauptgrund, warum ich wieder da runter gefahren bin, aber er konnte mich nicht besonders leiden. Er hasst Rock’n’Roll, er hasst eigentlich jede Art elektrisch verstärkter Musik. Aber wir hatten trotzdem eine tolle Zeit und haben ein paar schöne Songs aufgenommen. Seine ganze Familie spielt Schlagzeug, diese Mississippi-Marsch-Musik. Die Platte mit ihm aufzunehmen war fast, als hätte man eine North-Mississippi-Allstar-Band dabei gehabt.
Gibt es bei den alten Blues-Recken eigentlich eine generelle Abneigung gegen elektrische Gitarren?
Nein, ganz im Gegenteil, sie wollen elektrische Gitarre spielen, weil sie ja das ganze Getöse in den Juke Joints übertönen müssen. Sie spielen nur Akustikgitarre, weil sie zu arm sind, sich eine Elektrische leisten zu können. Nur Othar Turner ist so, aber R.L. oder T-Model Ford wollen richtig rocken. Othar geht es mehr um die Tradition und dass sie weitergeführt wird, deshalb konnte er wohl nicht viel mit mir anfangen.
Ein anderer Name, den du immer wieder gerne fallen lässt, ist Mississippi Fred McDowell.
Er ist mein absoluter Lieblingsmusiker, er klingt so unirdisch und von einer unheimlichen Todessehnsucht getrieben.
Er ist ein echtes Original und war ein großer Einfluss auf die Entwicklung des Deltablues, ebenso wie Son House. Beide bedeuten mir persönlich auch mehr als Robert Johnson. Für alle, die nach Fred McDowell kamen, bleibt er etwas besonderes. Seine Songs klingen, als ob jemand gerade die Nägel in deinen Sarg schlägt. R.L. hat von ihm Gitarre gelernt und das hört man deutlich.
Abschließend vielleicht noch die Frage, inwieweit „Keep It Coming“ wirklich eine Blues-Platte für dich ist?
Für mich ist es eine Rock’n’Roll-Platte mit Blues-Einflüssen. Blues ist nur eine stilistische Sache, die du so oft wie möglich verwendest. Ich habe viel gelernt, als ich mit R.L. gespielt habe, aber das meiste habe ich vorher von Platten gelernt, wie das bei ihm auch der Fall war. So sehr ich es auch mag, R.L. spielen zu sehen, ich bin nicht er, und es ist seine Musik. Da kommt die Musik auch her, und es wäre dumm, so zu tun, als ob es anders wäre. Es wäre falsch, wenn ich versuchen würde, eine reine Blues-Platte aufzunehmen, denn ich bin mit Punkrock im mittleren Westen aufgewachsen. Man muss daher kommen, damit es ehrlich klingt, ansonsten ist es eine schlechte Kopie. Ich könnte das zwar alles in einem Monat lernen, aber das will ich gar nicht. Ich will ernst genommen werden und 20 MILES soll eine ehrliche Band sein. Ich liebe den Blues und es sollte auf der Platte so viel wie möglich davon zu hören sein.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #48 September/Oktober/November 2002 und Thomas Kerpen
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