ISIS ist es gelungen, Metal neu zu denken und auf ein höheres Level zu heben. Die Band aus Boston gehörte zwar nicht zu den Ersten, denen die Uniformität von Metal, von Hardcore und Noiserock zu eng wurde, und die daraufhin die Idee ausformulierten, diese Musikstile zusammenzuführen und um andere artverwandte Genres zu erweitern. Ein derart feinsinniger Überbau aus experimenteller und innovativer Härte und Atmosphäre ist hingegen bis zur Veröffentlichung von „Oceanic“ keiner Band gelungen. Klar ist, dass ISIS diese radikale Aktualisierung von Metal ohne NEUROSIS nicht entwickelt hätten. Dennoch hat selbst die für Post-Metal stilprägende Band um Steve Von Till und Scott Kelly ein so ausgefeiltes Album wie „Oceanic“ nie erreicht. Ohne diesen Meilenstein sind wiederum Bands wie AMENRA und YEAR OF NO LIGHT nicht denkbar. „Oceanic“ ist einerseits angenehm progressiv und andererseits metertief im Sound von Sludge-Metal versunken, dem sich das Quintett auf ihrem Debüt „Celestial“ noch deutlich stärker gewidmet hat. Auf „Oceanic Remixes/Reinterpretations“ zeigen vornehmlich experimentell gelagerte Künstler wie Mike Patton, Fennesz und Tim Hecker, inwieweit die Monumental-Musik von ISIS anschlussfähig ist an Ambient und Drone. Die beteiligten Musiker übersetzen Post-Metal in abstrakte Soundcollagen, denen die ursprünglichen Kerneigenschaften von ISIS innewohnt: Atmosphäre und Intensität. Letztlich sind es aber Aaron Turners allegorische und rätselhafte Lyrics, die das in sich geschlossene Werk verdichten und „Oceanic“ endgültig die Tiefe verleihen, die es auch rein instrumental ausstrahlt. Die herausgebrüllten Texte erweitern die Musik um die existenzielle Ebene, die die emotionale Wucht des Albums allumfassend ausformt. Die erschütternde Erzählung hebt metaphorisch auf die zerstörerische Kraft von Sonne und Ozean ab. Innerhalb des unaufhaltsamen Wirkens der Gewalten verhandeln die vielschichtigen Lyrics das Scheitern einer Beziehung, die Endlichkeit der Liebe und des Lebens überhaupt. „Oceanic“ verzahnt Trauer mit Andeutungen von Selbstmord. Es entfaltet verschwommene Gedanken über das unabänderliche und zwangsläufige Hinabsinken. Es verbindet Stimmen, dem Leben im Meer ein Ende setzen zu wollen, mit Anklängen, die die sublime Kraft des Meeres und des Lichts spürbar machen. Die bahnbrechende Musik von ISIS verwandelt Trauer in Trost und brachiale Härte in Hoffnung. „Oceanic“ ist ein in Konzept und Komposition unerreicht hellsichtiges Album, dessen ungeschliffene Schönheit in dieser einstündigen, kompromisslosen Neuordnung von Metal immer wieder zum Vorschein kommt.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #160 Februar/März 2022 und Henrik Beeke