Wir befinden uns im Casino in Berlin-Friedrichshain. Nein, das Casino ist keine Spielhalle mehr. Hier stehen auch keine Roulette-Tische oder einarmige Banditen herum. Vielleicht war das früher ja mal so, aber jetzt ist dies in Berlin ein Tekkno-Tempel, wo sich WESTBAM und Paul Van Dyk am Wochenende die Klinke in die Hand geben. Nach dem Konzert der MIGHTY MIGHTY BOSSTONES zusammen mit SNUFF ist später auch noch Wochenend-Rave angekündigt. Was für ein großartiger Rahmen für ein Interview mit der zynischen britischen Mod-Punkband SNUFF. SNUFFs neues Album „Disposable Income„ ist vordergründig wie eh und je, auch wenn diesmal wieder weniger Mod- und Souleinflüsse vorhanden sind. Inzwischen sind sie vom MelodyCore-Spezialisten Fat Wreck zum englischen Punklabel Golf gewechselt.
Backstage beißt das Neonlicht, es wirkt hier alles etwas improvisiert. In einer kleinen Abstellkammer sitzen frierend SNUFF beengt aufeinander und langweilen sich Schoko-Müsli schlürfend zwischen Soundcheck und ihrem Auftritt. Ihr Manager gibt gerade die Essenspauschale für das warme Abendessen aus, als ich hereinkomme. Die Szene hat irgendwie etwas von einer Armenspeisung. Ranzig ist die Umgebung im Backstage mit DDR-Vopo-Trabanttüren, die an der Wand hängen, einer kargen Einrichtung mit Tisch und Stuhl, die stark an ein Verhörzimmer der Stasi erinnert, und wieder diesem grellen Neonlicht. Umso strahlender ist der gemeinsame Aufenthaltsraum für alle Bands.
Mittlerweile hat Schlagzeuger und Sänger Duncan sein Schoko-Müsli aufgegessen. Sofort strahlt er und plaudert über solche wichtigen Sportarten wie Offroad-Golfing, Tischtennis und ihre neueste Erfindung „Sitz-Fußball„, um die Wartezeiten bis zum Auftritt zu verkürzen. Duncan verliert übrigens ständig. Gestern seine komplette Essenspauschale. Harte Zeiten auf Tour.
Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr auf Grund eures alten Labels Fat Wreck ständig MelodyCore-Fans, Skatern von irgendwelchen Onlinefanzines und alten BAD RELIGION-Fans von Alternativemagazinen Interviews geben musstet. Stimmt das?
Also, falsch ist das auf jeden Fall nicht.
Ich habe euch auch erst vor drei Jahren für mich entdeckt, weil ich eben wusste, dass das Fat Wreck-Labelprogramm mit seinem Skate-, Ska- und Poppunk nicht meine Welt ist. Ein Freund meinte zu mir, ihr seid Mods, und dies würde man euch auch anhören.
Das würde ich so nicht behaupten. Allein schon, weil ich Mod-Musik viel zu sehr liebe! Also, wir sind davon definitiv beeinflusst, sozusagen von dem Virus infiziert worden. Ich habe, bevor ich unter der Fuchtel meiner Frau und meiner Kinder stand, ständig in ‚dieser üblen Szene’ abgehangen. Heute stehe ich noch in Kontakt mit ‚der Szene’...
Wie kam es denn dazu, dass ihr keine reine Mod-Band geworden seid, sondern „nur„ eine Punkband?
Wir konnten einfach keine Popsongs spielen. Unsere ersten beiden Alben waren reine Punkscheiben. Als wir nach der kurzfristigen Auflösung zurückkamen, waren wir alte Säcke und hatten auch mehr einen Plan im Kopf, was wir wollen, und was wir können. Den ursprünglichen SNUFF-Sound wollten wir jedoch auch nicht ganz vergessen, sonst hätten wir uns ja auch ‚Wuff’ nennen können. Aber wir wollten schon etwas poppiger, schlagfertiger und Mod-mässiger werden. Bläser sollten bei uns mehr eine Rolle spielen. Eine Fünf-Mann-Besetzung ist eindrucksvoller als eine Dreier-Combo. Die ist wiederum kompakter. Wir wollten lieber das Komplizierte.
Wenn du meinst, ihr wolltet poppiger werden: War das ein bewusster Schritt oder mehr ein Zugeständnis an die eigene alte Mod-Zeit?
Definitiv zweiteres. Wenn du Musiker bist, denkst du nicht viel darüber nach, ob etwas erfolgreicher sein kann, wenn du etwas miteinander kombinierst. Während du überlegst, hat die gleiche Idee schon ein Zweiter. Ich wollte immer schon wie die frühen SMALL FACES klingen, Bläser haben und über Sachen singen, die keinen interessieren, wo aber alle mitmachen. Im Herzen jedoch sind wir Punks geblieben, weil diese Bewegung eben sehr viel Kraft hat.
Wie verlief denn deine musikalische Entwicklung persönlich?
Als ich klein war, hörte ich Rock’n’Roll. Die Rockgeschichte mit 10, 11 Jahren eben bei den Eltern auf dem Schoß. Mit 15, 16 dann Heavy Metal und Hardrock. MOTÖRHEAD auf jeden Fall. Als Basis gab es immer noch Rock. Erst danach bemerkte ich, dass Punk viel bessere Texte als dieser Poserquatsch im Metal hatte. Rock war nun blöd, Punk war geil. Als ich jedoch anfing, die Motown-Scheiben für mich zu entdecken, hatte ich ein Problem. Die Musik gab mir mehr, die Texte eher weniger. Ich war sehr froh, als ich 1979 solche Gruppen wie SMALL FACES entdeckte, die das verbanden. Die Mod-Szene hat mich stark beeindruckt.
Aber die 79er-Gruppen wie THE JAM, SECRET AFFAIR oder auch Ska wie THE SPECIALS standen ja für den SNUFF-Sound eher nicht Pate.
Vielleicht. Für mich war das eher so, dass Anfang der Achtziger Jahre diese ganzen Krachbands wie GBH, DISCHARGE oder EXPLOITED hochkamen. Melodien kannten die überhaupt nicht. Für uns war deshalb klar, dass wir THE WHO mit GBH kreuzen müssen und schauen, was dabei am Ende herauskommt. Es war ein SNUFF.
Seltsamerweise seid ihr als englische Band auf Fat Wreck nicht großartig aufgefallen.
Ja, wir passten ganz gut zum Westküsten-Amipunk. Ich liebe auch NOFX sehr. Manche solcher Gruppen sind auch noch gut, aber viel zu viele von ihnen klingen mir zu austauschbar. Wir haben dabei diesen englischen Hardcorepunk-Einschlag von GBH gehabt. Wir klingen englisch, gerade mein Schlagzeugspiel. Deshalb verstehe ich zwar die Leute mit ihrer Fat Wreck-Melodie-Geschichte, aber im tiefsten Inneren sind wir urbritisch vom Sound her. Ich habe Jahre lang nur Inselmusik gehört.
Eure USA-Touren waren ja auch keine großen Erfolge.
Exakt. Die Amis mögen uns nicht. Sie meinen, wir klingen britisch. Und die Europäer glauben, wir seien amerikanisch. Irgendwie schon lustig. Hauptsächlich sind wir Engländer. Nur bei der Wettervorhersage sind wir Amerikaner.
Ihr seid ja nun mit den MIGHTY MIGHTY BOSSTONES getourt und seid beide mit euren neuen Scheiben auf Golf Rec. gelandet. Wie kam es denn zu diesem überraschenden Wechsel von den USA mit Fat Wreck nach England?
Früher vergab Fat Wreck immer Lizenzen für unsere Alben, wo sie als Label nicht präsent waren. Nun wollen wir das in die eigene Hand nehmen und die volle Kontrolle haben. Jetzt können wir unsere Platte bei regionalen Labels lizensieren, die Lust darauf haben. Fat Wreck musste immer auf den kommerziellen Erfolg hoffen. Nun läuft das etwas kleiner und regulierter ab. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, nicht anders herum.
Fat Mike ist bekanntermaßen ein großer SNUFF-Fan und hat nicht unerheblichen Anteil an eurer Reunion. Wie hat er denn darauf reagiert, als ihr meintet, dass ihr sein Label verlasst, um mehr Kontrolle über eure Scheiben zu haben?
Fat Mike ist Geschäftsmann und war natürlich enttäuscht. Der Schritt war schwer, aber er hat diesen Wunsch nach mehr Kontrolle auch verstanden. Schade ist nur, dass unser neues Album bis jetzt noch nicht in den USA herausgekommen ist.
War er denn mit euren Verkäufen zufrieden?
So weit man dies in diesen Zeiten mit MP3s aus dem Internet sein kann. Generell verdienen die Plattenfirmen zur Zeit weniger. Keiner erzählt das gerne, aber es stimmt leider. Umso wichtiger ist es, den heimischen Markt zu kennen, um nicht zu viel Geld für den Vertrieb aus dem Fenster zu werfen.
Die finanzielle Seite ist das Eine. Aber ich unterstelle dir einfach mal, dass du die Band keinesfalls nur des Geldes wegen machst. Aber welchen Stellenwert hat die Band in deinem Leben denn generell heute? Du hast eine Familie mit Kindern. Eure Touren geraten deshalb immer etwas kürzer, als man von anderen Gruppen gewohnt ist. Aber dennoch seid ihr mit SNUFF 16 Jahre alt geworden. Was motiviert euch heute noch?
Wir haben zu dritt begonnen, dann kamen Posaune und Keyboard dazu. Das war irgendwie etwas ganz anderes, überhaupt nicht vergleichbar mit der Dreier-Besetzung. Nach 16 Jahren SNUFF hat sich einfach viel verändert. Der Charakter von SNUFF damit auch. Die letzten Jahre hatten mit unserer Anfangszeit wenig gemeinsam. Unsere Besetzung hat sich über die Jahre hinweg ebenfalls leider stark verändert. Diese Band hat sich komplett verändert. In a way, I think, yes, SNUFF is going to saying Good Night. Ich denke, es wird sich hauptsächlich einfach in etwas anderes verwandeln. Mir ist diese Band verdammt wichtig und deshalb will ich auch ihren eigenen Charakter bewahren.
Man merkt auf jeden Fall, wie du die Musik trotz deiner Familie liebst und den sinnvollen Kompromiss deshalb brauchst.
Ich habe immer schon Musik gemacht. Ich bin Schlagzeuger. Ich bin besessen von Musik.
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