Zehn Alben haben SLEATER-KINNEY bereits aufgenommen. Traurig genug, dass es immer noch – oder wieder – vieles gibt, wogegen sie ihre Stimme erheben müssen. „Center Won’t Hold“ ist nun ein entsprechend düsteres Album geworden. Das liegt nicht zuletzt an einem alten weißen Mann in Amerika, der gerade viel zu viel zu sagen hat. Sein Name fällt jedoch kein einziges Mal im Interview mit Gitarristin und Sängerin Carrie Brownstein. Stattdessen gibt’s ein paar wirklich tolle Leseempfehlungen und Durchhaltetipps für die Tage, an denen Aktivismus und Protest besonders ermüdend sind. Dass Schlagzeugerin Janet Weiss die Band verlässt, wurde erst ein paar Wochen nach dem Interview bekannt.
In deinem Buch „Hunger Makes Me a Modern Girl“ schreibst du gleich am Anfang sehr ausführlich über Nostalgie und dass du sie schwierig findest. Wie geht es dir mit den alten SLEATER-KINNEY-Songs?
Da ich sie selber spiele und nicht nur höre, ist das bei diesen Songs etwas anderes. Ich umgehe das Gefühl der Nostalgie dadurch, dass ich sie heute neu interpretieren kann. Nostalgie kommt eher in anderen Momenten auf. Kürzlich war ich in Los Angeles bei einem Konzert von BIKINI KILL, die sich wieder zusammengetan haben. Das hat mich nostalgisch gemacht.
Wie hat sich das gezeigt?
Den Abend habe ich aus zwei Perspektiven erlebt, einerseits als mein heutiges Ich, aber auch als mein jüngeres Ich. BIKINI KILL hatten einen großen Einfluss auf mich, als ich jünger war, deshalb war es etwas Besonderes, sie so viele Jahre später wiederzusehen. Das Publikum war sehr gemischt, neben älteren Fans waren auch viele Teenager und junge Menschen dort, die BIKINI KILL erst für sich entdeckt haben, lange nachdem sich die Band aufgelöst hatte. Die waren natürlich besonders froh, die Chance zu bekommen, auf ein Konzert zu gehen.
Wenn es nicht Nostalgie ist, welche Gefühle verbindest du heute mit deiner Band SLEATER-KINNEY?
Eine Menge Stolz. Wir sind einzigartig und musikalisch ist jedes Album ein individuelles Statement. Unsere Musik hat viele Entwicklungen durchgemacht. Natürlich hört man Gemeinsamkeiten, aber trotzdem unterscheiden sie sich und wir haben uns immer neuen Herausforderungen gestellt. Außerdem bin ich sehr dankbar, dass wir zehn Alben aufnehmen durften und die Menschen uns immer noch zuhören.
Euer neues Album „Center Won’t Hold“ erscheint sehr düster – wieso?
Es ist nicht so einfach, sich von der Zeit, in der wir leben, zu distanzieren. Es ist eine Zeit des Aufruhrs, des Zerbrechens, der Gewalt und Unsicherheit – politisch und gesellschaftlich. Die meisten der Songs nehmen diese Stimmung auf und übersetzen sie in eine verletzliche und personifizierte Erfahrung. Für einige Erzähler*innen bedeutet das Verzweiflung, Zerbrechen und Depression, andere hingegen nehmen das Groteske an dieser Grundstimmung an, in „Ruins“ oder „Bad dance“ zum Beispiel. Jede Stimme in den Songs hat eine andere Art, mit der Dunkelheit umzugehen. SLEATER-KINNEY waren immer schon eine Art Gefäß, das den Zeitgeist aufgenommen hat und mit ihm in den Dialog getreten ist. Ich habe ehrlich gesagt auch keine Ahnung, wie man heutzutage ein leichteres Album aufnehmen könnte.
Ein fröhliches feministisches Album aufzunehmen, das könnte in der Tat derzeit schwierig werden.
Es gibt aber einen Kontrast zwischen den dunklen, ernsten Themen auf dem Album und dem Sound. Es ist sehr melodisch. Selbst wenn die Texte bittersüß, düster und melancholisch sind, braucht es etwas, an dem man sich festhalten kann. Auf dem Weg kann ich eine Bindung zum Publikum aufbauen und auch selber zu anderen Bands, wenn ich Musik höre. Das hilft, den Weg aus der Misere zu finden. Wir haben diesen Gegensatz also ganz bewusst gewählt. Wenn der Refrain einsetzt, wird es hymnisch, auch wenn es eigentlich um Depressionen geht.
Wie genau ist euer Album entstanden?
Üblicherweise haben wir Songs immer gemeinsam geschrieben. Ich lebe allerdings in Los Angeles, Corin lebt in Portland und diesmal haben wir getrennt voneinander an den Songs gearbeitet. Wir haben viel telefoniert, dann habe ich was geschrieben, Corin ein Demo geschickt, sie hat etwas ergänzt und so ging es hin und her. Wir mussten mehr Verantwortung übernehmen. Das war sehr befreiend, aber auch eine gute Übung. Wir sind seit mehr als 25 Jahren befreundet und machen schon so lange zusammen Musik. Es war schön, einander diesmal mehr Raum zu geben: „Hier ist deine Leinwand, was machst du damit?“
Das Album wurde von Annie Clark aka St. Vincent produziert. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande?
Wir kennen uns seit ein paar Jahren und waren immer schon gegenseitig Fans unserer Arbeit. Eigentlich wollten wir mit unterschiedlichen Produzent*innen arbeiten. Die erste, mit der wir im Studio waren, war Annie. Das war so toll, dass wir niemanden anderes mehr wollten. Es hat uns viel Spaß gemacht, sie war so enthusiastisch und herausfordernd. Annie hat aus jedem Song einen eigenen kleinen Planeten geschaffen. Statt dass wir wie sonst im Studio einfach nur die neuen Songs dokumentiert haben, konnten wir uns mit ihr darauf einlassen, sie Stück für Stück neu zu entdecken und auszuarbeiten. Das war gut.
Du hast bereits „Bad dance“ erwähnt. Der Song ist ein gutes Beispiel für den Gegensatz aus Schwung und Melancholie und hat vor allem eine Zeile, die mich sehr getroffen hat: „And if the world is ending now / Then let’s dance, the bad dance / We’ve been rehearsing our whole lives“. Wie geht ihr damit um, dass auf kleine politische Erfolge so ein riesiger Rückschritt gefolgt ist?
Ich habe keine Ahnung. Das ist die große Frage, wie man es schafft, morgens nicht einfach im Bett zu bleiben, sondern aufzustehen und nach vorn zu schauen. Ich versuche, offen zu bleiben und mich daran zu erinnern, dass Zynismus nichts Natürliches ist. Irgendwann wird dieser elende Kreis durchbrochen. Als Mensch wird man von all den schlechten Nachrichten überwältigt. Es geht ja nicht nur um das eigene Land, sondern um die ganze Welt. Ich hoffe einfach, dass dieser Zustand auch ein Nährboden ist für Mitgefühl und Güte, Aktivismus und Beteiligung. Vielleicht muss man klein anfangen, nett zu den Menschen in seinem Umfeld sein. Ich lese viel und gehe in Museen. Manchmal muss man die Welt durch die Kunst betrachten. Die Menschheit versucht seit Jahrhunderten, ihre Traumata mit Kunst zu bewältigen. Aus dem Schrecklichen sind schöne Dinge entstanden. Ich versuche einfach, die Hoffnung nicht zu verlieren, bin aber auch sehr skeptisch. Wie auch nicht?
Na klar, trotzdem hatte ich ein kleines bisschen gehofft, dass du ein Geheimrezept hast. Mit SLEATER-KINNEY seid ihr ja schon so lange dabei.
Nein! Künstler*innen haben niemals die Antwort! Du würdest ein Album, das so viel vorgibt, auch gar nicht mögen. Unser Job ist es, Teil eines Dialogs zu sein. Wir schreiben den Soundtrack, wir stellen Fragen oder interpretieren – Antworten können wir aber nicht geben. Das macht hoffentlich jemand anders.
Die richtigen Fragen zu stellen, ist ja auch nicht unwichtig.
Leute zum Nachdenken zu bringen, ist sehr gut. Ich finde, die Leute sollten viel Zeit damit verbringen nachzudenken, haha.
Welche Rolle glaubst du, spielen SLEATER-KINNEY und spielst du in der heutigen feministischen Bewegung genau?
SLEATER-KINNEY sind drei Feministinnen. Dass es uns in dieser Form als Band gibt, ist ein feministisches Statement. Wir zögern nicht, unsere Meinung zu sagen und politische Songs zu schreiben. Alles, was man als Mensch tun kann, ist zu versuchen, ein aktiver Teil der Bewegung zu sein. Meine Aufgabe sehe ich darin, Musik zu machen, ein neues SLEATER-KINNEY-Album aufzunehmen. Sicherlich gibt es andere Dinge, die ich auch tun kann und die ich versuchen werde. Aber meine Mission ist, Musik zu machen, die Menschen das Gefühl gibt, gesehen und gehört zu werden und nicht allein zu sein.
Habt ihr speziell in den letzten Jahren einen besonderen Drang gefühlt, wieder Musik aufzunehmen?
Mit der Skepsis und dem Zynismus, die aus der Wut über aktuelle Geschehnisse entstehen, wächst schnell ein Gefühl der Isolation. Das raubt Kraft und das ist es wiederum, was die Mächtigen wollen – dem Protest die Energie zu rauben. Für mich kam dieser Drang, Musik zu machen, also weniger aus dem Wunsch, mich politisch zu äußern, sondern eher daraus, eine Verbindung aufzubauen. Zunächst mit meinen Bandkolleginnen und dann mit dem Publikum: Lasst uns etwas veröffentlichen, das dafür sorgt, dass die Menschen sich in einem Raum versammeln; lasst uns etwas veröffentlichen, damit die Menschen sich weniger allein fühlen, wenn sie unterwegs sind. Wenn ich verzweifelt bin, möchte ich etwas hören oder sehen, das mir das Gefühl gibt, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren, wenn ich mich gegen eine Wand stemmen muss. Trotzdem habe ich den Anspruch, dass das, was ich veröffentliche, auch gut ist.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien für dich in diesem Zusammenhang?
Ich versuche, sie weniger zu nutzen, einfach für meine eigene geistige Gesundheit. Wenn ich online bin, lese ich gerade kein Buch ... es ist einfach eine riesige Zeitverschwendung. Mir ist das echte Leben wichtiger. Dass man die sozialen Medien nutzen kann, um mit Leuten in Kontakt zu treten, ist natürlich gut und wichtig. Die Interaktion begrüße ich.
Ist das nicht aber auch ein Weg, den Feminismus in den Mainstream zu tragen?
Ach, der Feminismus erreicht im Fünfjahrestakt den Mainstream. Es ist schön, wenn wichtige Themen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Noch schöner ist aber, wenn die, die auch dann noch aktiv sind, wenn die Medien gerade nicht hinschauen, Anerkennung bekommen. Die kämpfen ununterbrochen gegen soziale Ungerechtigkeit. Die Aufregung, die immer wieder aufkommt, bringt Menschen dazu, Bell Hooks zu lesen und Eve Sedgwick, Maggie Nelson oder Roxane Gay, das ist super, aber ich möchte eine Bewegung, keinen Augenblick. Die Menschen, die alltäglich kämpfen, sind nur selten prominente Persönlichkeiten. Über die, die sich jeden Tag für zum Beispiel Krankenpfleger*innen, Landwirt*innen oder Migrant*innen einsetzen, wird nicht andauernd geschrieben. Das ist den Medien nicht sexy genug.
Und ihr schreibt den Soundtrack für den täglichen Kampf.
Ja, ein bisschen. Ich mag den Gedanken, dass sich Menschen vom Feminismus angezogen fühlen oder von bestimmten Künstler*innen oder Autor*innen. Das ist aufregend und tritt so viel los. Wie gut ist es, wenn man eine Band oder einen Sound entdeckt und dann feststellt, dass es so viel mehr davon gibt, das es noch zu entdecken gibt.
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