Der Auslöser für eine erste intensivere Beschäftigung mit der jüdischen Kultur und Geschichte war für mich vor einigen Jahren das Theaterstück "Ghetto" von Joshua Sobol, in dem die Geschichte des Ghettos von Wilna, dem heutigen Vilnius verarbeitet wird.
1941 errichteten deutsche Truppen mit teils tatkräftiger Unterstützung der litauischen Bevölkerung das Ghetto im "Jerusalem Osteuropas". Wilna zählte neben Jerusalem zu den Orten mit der bedeutensten jüdischen Kultur in all seinen Facetten und Strömungen., sowohl kulturell als auch politisch.
Die Ghettobewohner versuchten sich mit der Aufrechterhaltung von Kultur in Form von Theatern, Bibliotheken und Konzerten den Entmenschlichungsversuchen der Nationalsozialisten entgegenzustemmen, parallel dazu wurde auch ein bewaffneter Widerstand organisiert.
Das eine ergab mit dem anderen einen Synergieeffekt ein, denn wer sich trotz des grausamen Ghettoalltags abends bei einem Konzert oder einer Theaterprobe "entspannen" konnte, gewann an Moral und konnte der ständig drohenden physischen und psychischen Vernichtung mitunter besser die Stirn bieten.
Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Klezmer-Musik, die mit ihren wehklagenden, sehnsüchtigen Gesängen die Geschichte der jüdischen Diaspora, die Geschichte von Jahrhunderten von Verfolgung, Antijudaismus und Antisemitismus in sich aufsaugt, aber auch immer die lebensfrohe, lebensbejahende, beinahe trotzig beschwingte Seite sich bewahrt hat.
Sie steht somit auch im Kontrast zur Barbarei des Nationalsozialismus und gerade in diesem Zusammenhang hat der Klang der Musik aus dem Ghetto heraus auch immer ein lautes "Wir leben noch!" bedeutet, was auch trotzt der physischen Vernichtung seiner Musiker und Zuhörer noch nachhallt.
Gerade in ihrer Geschichte, die sich im Klang der Musik ständig und allgegenwärtig wiederspiegelt, liegt daher die Faszination des Klezmer. Das BLACK OX ORKESTAR, natürlich auch aus dem Constellation-Labelumfeld mit GYBE, SILVER MT.
ZION und SACKVILLE entstanden, greift die politische Dimension des Klezmer ebenfalls auf und positioniert die Musik zusammen mit den jiddischen Texten, welche als Deutschsprechender oftmals nachzuvollziehen sind, gegen den Alleinvertretungsanspruch der jüdischen Kultur durch Israel und das Hebräische.
Nicht nur ein gewagtes, sondern auch ein hochpolitisches Unternehmen somit. Gerade weil eine Gegenüberstellung von Klezmer als Resultat des Austausches der über verschiedene Kulturräume verstreuten Juden - mit seinen Einflüssen aus der osteuropäischen Folklore, des Balkans, Kleinasiens und Mitteleuropas, dessen Kosmopolitismus durch die jazzige und manchmal auch punkige Interpretation des BLACK OX ORKESTAR noch stärker betont wird - und Israel als jüdische Kultur vereinnahmender, gleichförmiger und gleichmachender Staat sehr fragwürdig ist.
Dies unterschlägt ja nicht nur die Gegensätze und Auseinandersetzungen innerhalb der, trotz des palästinensischen Terrors, erstaunlich heterogenen israelischen Gesellschaft, sondern versucht Israel auch ein bisschen seine kulturelle Bedeutung abzusprechen, womit letztendlich Israel erneut nur wieder mit dem Nahostkonflikt gleichgesetzt wird.
Diese Ineinanderverschachtelung von sicherlich durchaus kritisierbarer israelischer Kulturpolitik und der täglichen Konfrontation mit den Palästinensern scheint auch bei BOO stattzufinden und läuft Gefahr, die eigentliche Legitimation des Staates Israel, die Shoa und seiner einzigen logischen Folge, nämlich den Juden in Form von Israel einen immer verfügbaren Fluchtraum zu eröffnen, außen vor zu lassen.
Da das BOO aber nur einen einzigen Text abgedruckt und ins Englische übersetzt hat, kann deren Position nicht ganz geklärt werden. Das Album bleibt aber sowohl aus der politisch-gesellschaftlichen, als auch aus der musikalischen Perspektive hoch interessant.
Wer nur ansatzweise meint etwas mit Klezmer anfangen zu können, sollte sich diesem fesselnden Werk nicht verschließen. (43:04) (09/10)
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #166 Februar/März 2023 und Thomas Kerpen
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