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ULRICH SEIDL BOX

Eigentlich sollte man sich darüber ja nicht mehr aufregen, tut es aber dann doch, wenn irgendein Label mal wieder preisgünstige Boxen mit Filmen herausbringt, die man noch treudoof für wesentlich mehr Geld einzeln gekauft hatte – vor allem bei TV-Serien sehr beliebt.

Besonders ärgerlich wird es dann, wenn diese Boxen dann auch noch echten Mehrwert in Form von Material enthalten, das bei den ursprünglichen Releases noch nicht enthalten war. Und so lassen sich im Fall dieser DVD neben den bereits veröffentlichten Filmen TIERISCHE LIEBE (1995), MODELS (1999), HUNDSTAGE (2001) und IMPORT EXPORT (2007) auch noch mit MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992) und DER BUSENFREUND (1997) zwei bisher unveröffentlichte Dokumentationen von „Österreichs radikalstem Filmemacher“ finden.

Zwar stecken alle DVDs nur noch in Slimcases, dafür ist das Ganze auch wesentlich preisgünstiger, bringt aber natürlich nur jemand was, der nicht schon bereits die bisher erschienenen Seidl-Filme zu Hause hat.

Sehenswert sind Seidls Arbeiten natürlich auf jeden Fall, auch wenn der Österreicher im Dokumentarfilm-Bereich umstritten ist. Nach einer erneuten Sichtung von MODELS, in dem er es auf die Schattenseiten dieses Traumberufs lange vor „Germany’s next Topmodel“ abgesehen hatte, würde ich inzwischen auch davon Abstand nehmen, ihn als echten Dokumentarfilmer zu bezeichnen.

Seidls Blick auf die Welt mag grundsätzlich realistisch sein, aber jede seine Szenen ist inszeniert und hinsichtlich der Bildkomposition sorgfältig arrangiert, manchmal handelt es sich sogar um bewegungslose Stilleben mit lebendigen Menschen.

In MODELS führt das zu einer quälenden Zurschaustellung des Narzissmus’ von drei unsympathischen Möchtegern-Models, denen es nur um Sex, Drogen und ihre körperliche Perfektion geht, und vielleicht auch noch um die Suche nach wahrer Liebe.

Nach knapp zwei Stunden hasst man diese drei Frauen von ganzem Herzen, auch wenn sie in ihrer Einfältigkeit vielleicht sogar bedauernswert sein mögen. Und es fällt einem schwer zu glauben, dass sich das Trio dieser brutalen Selbstdemontage beim Drehen nicht bewusst war.

Ein regelrechter Seelenstriptease, bei dem man oft kaum hinsehen und hören kann, und der in unangenehm intime Bereiche vordringt. Seidl will provozieren und das gelingt ihm auch hervorragend, und manche Leute werfen ihm deshalb nicht ganz zu Unrecht vor, eiskalt menschliches Elend auszuschlachten.

Aber dass man es letztendlich so empfindet, hat wohl vor allem etwas damit zu tun, dass man solche Dinge immer wunderbar im eigenen Alltag ausblenden kann und umso erschütterter ist, dann ausgerechnet durch das Medium Film damit konfrontiert zu werden.

Wozu Seidl selbst meint: „Ich will die Leute im Kino nicht nur unterhalten, sondern sie berühren, wenn nicht sogar verstören. Ich übe in meinen Filmen Kritik, nicht am einzelnen Menschen, sondern an der Gesellschaft.“ Ähnliches gilt auch für TIERISCHE LIEBE, sein Film über das innige Verhältnis einiger Menschen zu ihren Haustieren, nur dass der Grad der Inszenierung hier noch viel deutlicher wird, allerdings auch das behandelte Sujet vielschichtiger und vor allem verstörender in seiner Wirkung ist.

Mit HUNDSTAGE und IMPORT EXPORT war Seidl dann ganz offiziell im fiktionalen Bereich angekommen, auch wenn sich beide Filme von der Machart her kaum von seinen Dokumentationen unterschieden.

Seinen grundsätzlichen Stil hatte er allerdings bereits in MIT VERLUST IST ZU RECHNEN manifestieren können, eine skurrile Brautschau, angesiedelt in einem kleinen österreichischen Dorf nahe der Grenze zu Tschechien, in deren Mittelpunkt der Witwer Sepp Paur und die ebenfalls verwitwete Paula stehen.

Auch hier setzt Seidl auf harte Kontraste, vor allem zwischen Armut und Wohlstand, und schreckt auch vor Schlachtungsszenen von Tieren nicht zurück. Gleichzeitig dringt Seidl auch wieder in Intimbereiche ein, wenn er die Rentner endlos über ihr Sexualleben debattieren lässt, wobei es durchaus amüsant ist, Sepp und Paula bei einem Ausflug in den Sexshop zu beobachten.

Aufgrund seiner Länge entwickelt sich MIT VERLUST IST ZU RECHNEN allerdings zur echten Geduldsprobe, denn das fortwährende hinterwäldlerische Geschnatter zerrt an den Nerven, und wenn mal alle die Klappe hatten, ertönt im Radio oder Fernsehen gruselige Schlagermusik, sogar mehrmals von Karel Gott.

Faszinierend und deprimierend zugleich, was ja offenbar auch Seidls Intention dabei war. Deutlich humorvoller und vor allem kürzer fällt DER BUSENFREUND aus, dessen Titel man durchaus wörtlich nehmen darf.

Der besagte „Busenfreund“ ist ein 40-jähriger Mathematiklehrer namens Herr Rupnik, der Weisheiten wie die folgende von sich gibt: „Ein Busen ist für eine Frau eine Frage von Sein oder Nichtsein – wie Shakespeare sagt.

Mit Busen kann sie alles werden: Sekretärin, Ehefrau, Geliebte.“ Zu Schulzeiten hatte man infantile Scherze bei mathematischen Termini wie „Kurvendiskussion“ gemacht, Rene Rupnik erörtert daran tatsächlich seine Vorstellungen von einem perfekten weiblichen Körper („Sinus heißt auf lateinisch der Busen.

Jede Frau hat aber meist einen zweiten Busen, also Cosinus.“), dessen Inbegriff für ihn Senta Berger ist, der ideale „weibliche Frankenstein“. Was amüsant beginnt, offenbart aber schnell eine tiefergehende Tragik, denn Rupnik hat offenbar schon länger den Schuldienst quittiert und lebt zusammen mit seiner gebrechlichen Mutter in einer mit Zeitschriften zugemüllten Wohnung.

Eine ziemlich traurige Gestalt mit wirren Ansichten, der letztendlich wie so viele Protagonisten bei Seidl nach Liebe und Zuneigung sucht, aber bei dieser Suche schon lange vom rechten Weg abgekommen ist – ein ziemlich hoffnungsloser Fall.

Insofern nimmt man auch hier irritiert zur Kenntnis, wie freimütig Rupnik seine seltsamen Obsessionen und Sehnsüchte vor der Kamera offenbart, der es sich in einer erschreckenden Scheinrealität gemütlich gemacht hat, aber offenbar noch von genug Geltungssucht beseelt ist, um Seidl diesen sezierenden Blick auf sein an sich trostloses Leben zu gestatten.

Und so wird auch DER BUSENFREUND immer mehr zur Qual für den Zuschauer, die aber nach 60 Minuten bereits beendet ist. DER BUSENFREUND und MIT VERLUST IST ZU RECHNEN warten mit eher mäßiger Bildqualität auf, offenbar war das Master ein altes Beta-Band.

Wesentlich besser sehen da die Trailer aus, die noch vom ursprünlichen Filmmaterial abgetastet wurden. Mit dieser Box wurde Seidls bisherige Filmografie zwar immer noch nicht komplett abgedeckt, aber man bekommt hier einen dennoch umfassenden Einblick in sein bisheriges Schaffen, bei dem man sich dann selbst entscheiden darf, ob man die Arbeiten des Österreichers als Menschenverachtung und Bloßstellung empfindet oder als Ausdruck echten Mitleids und Liebe.

Gleichgültig werden sie einen auf keinen Fall lassen – und die dabei hervorgerufenen Reaktionen reichen von befreiendem Lachen, über peinliche Betroffenheit bis hin zu blankem Horror.