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SWEAT

Gotta Give It Up

Was haben Wrestling und Punkrock gemeinsam? Schweiß! Hingabe bis zur völligen Verausgabung. Gutes Timing. Abstimmung. Gute Konzerte und gutes Wrestling beruhen auf einer minutiösen Vorbereitung und Vertrautheit der Protagonist:innen. Der Kunst, Kompliziertes einfach aussehen zu lassen. Und letztendlich geht es darum, Energie abzulassen und auf das Publikum zu übertragen, Aggression zu kanalisieren, Wut eine Form zu geben. Aufs Maul – aber mit sozial verträglichen Mitteln. Was sollte dieser Vergleich jetzt? Tuna Tardugno ist die Sängerin von SWEAT aus Los Angeles und sie ist Wrestlerin. Außerdem klatscht mich das Debütalbum von SWEAT härter weg als eine Clothesline. Mit zunehmendem Alter fällt es oft schwerer, sich für neue Musik noch richtig zu begeistern. Die Gänsehautmomente werden seltener. Vieles Neue ist gut, aber nicht aufregend. Eine Variation von schon Vorhandenem. SWEAT brauchen weniger als fünf Minuten, um zu zeigen, dass noch nicht alle Facetten von Punkrock erzählt wurden. Nimm die ungestüme Rauheit der frühen CIRCLE JERKS und kombiniere sie mit dem Gitarrenrock der Siebziger Jahre, bevor der sich aller Ecken und Kanten bis zur Stadionfähigkeit entledigt hatte! THIN LIZZY sind da naheliegend. Zaubere dann nach einem Schweinesolo und einem Uptempo-Beat einfach mal ein WIPERS-Riff aus dem Ärmel, um dem Ganzen einen Hauch emotionaler Tiefe zu geben! Schreie deine Hörer:innen dabei aber weiter konsequent an, damit nicht im Ansatz der Eindruck entsteht, gleich könne eine Ballade kommen! Schon der Opener des Albums, „Hit and run“, spiegelt diese Formel in ihrer Ganzheit wider. Als Appetizer kann man sich dazu den live eingespielten Videoclip auf YouTube angucken. Track zwei, „Machismo“, zeigt, dass SWEAT auch inhaltlich etwas zu sagen haben. Die Hardcore/Grindcore-Vergangenheit von Gitarrist Justin tut in dieser Hinsicht ihr Übriges. Der spielt(e) nicht nur bei GRAF ORLOCK und GHOSTLIMB, sondern veröffentlichte kurz nach dem Lockdown die erste Single von SWEAT auch auf seinem eigenen Label Vitriol Records. Mit Pirates Press fand man jetzt eine Heimat für den ersten Longplayer, was in puncto vertriebliche Reichweite und Aufmerksamkeit den Kalifornier:innen noch mehr Aufwind geben wird, auch wenn SWEAT den typischen Labelsound von Pirates Press, also den Großraum-Streetpunk, keinesfalls bedienen. Wem AMYL AND THE SNIFFERS langsam etwas zu zahm werden und wem SHARPTOOTH trotz Punkrock-Attitude oft zu metallisch klingen, der findet mit diesem Album den passenden Mittelweg. Achtung, Vinyl-Nerds: das Albumcover besteht aus sehr fester Pappe und passt nicht in eine Standard-LP-Hülle. Ich musste mir aus zwei Sleeves eine basteln. In jeglicher Hinsicht also ein Album, das fordernd und „out of the box“ ist. Deshalb die Höchstnote.