PINOCCHIO

Winshluss

Die edle Aufmachung und der entsprechend hohe Preis dieses Comics des Franzosen Winshluss macht bereits deutlich, dass wir uns in Grenzbereichen von echter Kunst befinden, wobei es sowohl der Preis als auch der extreme Inhalt sein werden, die eine größere Verbreitung von PINOCCHIO verhindern wird.

Bedauerlich, denn PINOCCHIO ist sicherlich eine der abgefahrensten und gleichzeitig auch zeichnerisch umwerfendsten Graphik Novels (ein Begriff, der mir langsam aber sicher auf die Nerven geht, aber sich ja leider eingebürgert hat), die mir in letzter Zeit untergekommen ist, ein Interesse an abseitigeren Inhalten allerdings vorausgesetzt.

Zu Beginn wird kurz darauf hingewiesen, dass es sich hier um „eine sehr freie Adaption von Carlo Collodis Roman“ handelt, aber das merkt man auch selbst sehr schnell, denn Winshluss macht aus Collodis ebenfalls nicht sonderlich fröhlichen Geschichte einen albtraumhaften, apokalyptischen und schwarzhumorigen Horror-Trip, den man durchaus auf den übermäßigen Konsum von Drogen schieben könnte, aber wahrscheinlich hat der Franzose einfach nur eine beängstigend lebhafte Fantasie.

Eigentlich heißt Winshluss ja Vincent Paronnaud und war mit seinem auf dem Comic von Marjane Satrapi basierenden Animationsfilm „Persepolis“ 2007 sogar für den Oscar nominiert, und im letzten Jahr hat er dann mit „Villemolle 81“ einen Horror-Realfilm gedreht.

Aus der eigentlich ganz süßen Holzpuppe (zumindest in der Version von Disney) wird in seinem PINOCCHIO ein Roboter mit ähnlicher Gestalt und Flammenwerfer in der langen Nase, den ein durchtriebener Erfinder als neue Superwaffe ans Militär verhökern will.

Doch bevor es dazu kommt, ist sein außer Kontrolle geratener Pinocchio bereits unterwegs auf einer Odyssee, die dann doch etwas anders als bei Collodi aussieht, vor allem was den Gehalt an Sex und Gewalt angeht, aber dennoch immer noch gewisse Parallelen zu dem Buch-Klassiker aufweist.

Aus der sprechenden Grille wird etwa eine verwahrloste Wanze, eine Art Insekten-Bukowski, die sich in Pinocchios Kopf einnistet. Irgendwie gelingt es Winshluss sogar, noch Schneewittchen einzubauen, die sich hier sadomasochistisch veranlagter Zwerge erwehren muss, während Pinocchio selbst im Spielzeugland eines diktatorischen Clowns an einer Zuckerstange aufgehängt wird.

Das hat schon was von dem kranken Ideenreichtum eines Robert Crumb, an den der Franzose stilistisch teilweise durchaus erinnert, und ist auf jeden Fall ein Beweis dafür, dass auch heutzutage noch radikale Underground-Comics entstehen können.

Nur dass inzwischen die Hemmschwelle gesunken ist, sich damit auch im Feuilleton auseinanderzusetzen, was nichts daran ändert, dass PINOCCHIO vielen in geschmacklicher Hinsicht etwas zu weit gehen wird.

Aber das macht eben die Qualität von Paronnauds beeindruckend wildem Extrem-Kunstwerk aus, bei dem man versucht ist, es als kleines, abgründiges Meisterwerk zu bezeichnen.