Sollte irgendwann der große Seattle-Stammbaum mit all seinen Band-Verquickungen aufgezeichnet werden, wäre Steve Turners „Mud Ride“ dank seiner detaillierten Chronologie eine gute Quelle. Die mit Adam Tepedelen verfasste Autobiografie des MUDHONEY-Gitarristen zeichnet seinen Weg akribisch nach von den Anfängen als begeisterter Skateboarder und BMX-Fahrer, der in der Szene auf spätere Weggefährten mit ähnlichen musikalischen Vorlieben trifft (D.O.A., BLACK FLAG, früher L.A. Punk), über seine erste Band THE DUCKY BOYS, gefolgt von der Keimzelle GREEN RIVER, bis hin zum Lebenswerk MUDHONEY und den zahlreichen Nebenprojekten. Turner ist Purist. Sein Einfluss auf die Grunge-Bewegung (er selbst findet den Begriff „albern“) durch Verwendung eines gebrauchten Super-Fuzz-Distortion-Pedals, das ihm ein Arbeitskollege geschenkt hatte, ist nicht zu unterschätzen. Bezeichnend für den Charakter von Turner ist aber mindestens genauso sehr das, was er nicht gemacht hat. Er stieg als Erster bei GREEN RIVER aus, als Jeff Ament und Stone Gossard die Vorzüge des Glamrock entdeckten. Er hat das Angebot abgelehnt, zweiter Gitarrist bei NIRVANA zu werden, weil er die Band als Trio sah. Auf Geschenke in Form von Goldenen Schallplatten und Gitarren von Kurt Cobain hat er verzichtet, weil sie ihm seiner Meinung nach nicht zustanden. Turner gibt sich selbstkritisch hinsichtlich einiger Entscheidungen, mit denen MUDHONEY ihre eigene Karriere beinahe vorsätzlich sabotierten, sieht den damaligen Hype um Seattle aber durchaus kritisch und fühlt sich in seiner vergleichsweisen Anonymität offenbar deutlich wohler als in dem mit Multiplatin-Status einhergehenden Licht der Öffentlichkeit.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #169 August/September 2023 und Norbert Johannknecht