Möglicherweise ist KLASS der erste Film aus Estland, der mir bewusst unterkommt, aber definitiv kein schlechter Startpunkt. Das darin behandelte Thema ist zwar nicht sonderlich originell, aber im Zeitalter zunehmender Amokläufe schwerbewaffneter Schüler natürlich nach wie vor aktuell und wie man sieht auch länderübergreifend von Bedeutung.
In den letzten Jahren gab es ja bereits Filme wie ELEPHANT (der sich auf eher abstrakte Weise dem „Columbine High School massacre“ annäherte) oder 2002 BANG BANG YOU’RE DEAD, die sich mit den Amokläufen von Schülern und den Ursachen beschäftigten.
Und auch in Ilmar Raags KLASS geht es um einen Prügelknaben an einer relativ austauschbaren Schule, dem seine Mitschüler das Leben zur Hölle machen, ähnlich wie es auch dem Protagonisten in BEN X ergeht.
Besagter Joosep ist der klassische Außenseiter, und wer zur Gruppe der akzeptierten Schüler gehören will, beteiligt sich eben an den grausamen Erniedrigungen des hilflosen Jungen. Wenn man sich allerdings gegen die Gruppe stellt, also nicht mehr Teil der Peergroup ist, passiert genau das Gegenteil, wie der an sich bisher gut integrierte Schüler Kasper auf unangenehme Weise erfahren muss, als er sich für Joosep einsetzt und selbst zum Opfer von extremen Demütigungen wird.
Das Ganze spielt sich innerhalb von nur sieben Tagen ab und zeigt auf eindrucksvolle Weise eine Gewalteskalation, die schließlich in einem Massaker gipfelt, als Folge spezieller gruppendynamischer Vorgänge – und das ganz ohne den Einfluss von Computerspielen.
Selbst wenn sich das Ende von Raags Film irgendwie falsch anfühlt, man kann auf einer emotionalen Ebene immer nachvollziehen, was die beiden Schüler dazu gebracht hat. Und auch wenn die Übergänge von Tag zu Tag zu sehr nach stylischer MTV-Reality-Show aussehen, besitzt KLASS eine Unwohlsein bereitende Authentizität, einen ungeschönten Realismus, durch den der Film unaufhaltsam auf seine finale Katastrophe zusteuert, ohne dass jemand daran etwas ändern könnte oder im Nachhinein eine hilfreiche Erklärung parat hätte.
Dazu tragen sicher auch die Fähigkeiten der jungen Schauspieler bei, die sich angenehm von den allzu makellosen Gesichtern amerikanischer Teenager-Filme abheben, und viel Identifikationspotential bieten.
Eine sehr intensiver, nachhaltig verstörender Film, dessen thematische Eindimensionalität und formaler Minimalismus für seine Konzentration aufs Wesentliche nicht von Nachteil sind. Der wurde bei der DVD-Veröffentlichung leider etwas stiefmütterlich behandelt.
Denn es wurde auf jegliche Extras verzichtet, was zu verschmerzen ist. Aber die estländische Originaltonspur fehlt ebenfalls, weshalb man sich mit der nicht immer überzeugenden deutschen Synchro begnügen muss.
KLASS wurde offenbar Opfer einer kühlen Kosten-Nutzen-Analyse des Labels, was aufgrund seiner offensichtlichen Qualitäten bedauerlich ist. Gut anschaubar ist er natürlich dennoch.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #89 April/Mai 2010 und Thomas Kerpen