ALLES WAS EIN FANZINE BRAUCHT

Kalle Stille

Kalle Stille kenne ich länger, als es das Ox gibt. Er war schon mit Uschi befreundet, bevor die mich kannte, und das ist auch schon 25 Jahre her. Kalle war damals schon der Prototyp des symphatischen Besserwissers mit enzyklopädischem Musikwissen, er machte ein Fanzine („Think!?!“), ein Label (diese rare NEUROTIC ARSEHOLES-Single), kaufte Platten wie ein Bekloppter (MISFITS!), war auf allen Konzerten im Großraum Stuttgart und eigentlich ein netter Kerl.

„Eigentlich“ deshalb, weil ich wusste, dass ich ihn leiden kann und er mich eigentlich auch, aber als notorischer Besserwisser muss irgendwas gewesen sein zwischen uns (nenn’ es schwäbische Dickköpfigkeit), das nach ein paar Beiträgen zu frühen Ox-Ausgaben dazu führte, dass er sich lieber in Zap! und später Plot austobte und das Ox ausweislich vereinzelter Kommentare nicht mochte.

Warum genau, das weiß ich nicht mehr, aber als das Plot dann nicht mehr war, schrieb ich ihm eine Mail, wies auf seine letzte Playlist hin, die auch 1:1 hätte meine sein können, und fragte ihn, ob er nicht Lust habe, bei inhaltlich völlig freier Hand sich künftig wieder im Ox schreiberisch auszutoben.

Das ist schon wieder eine halbe Ewigkeit her, seitdem ist Kalle nicht mehr wegzudenkender Teil des Ox, aus Altersmilde nur noch halb so schnippisch und scharf in seiner Kritik (was immer noch schärfere Urteile bedeutet als die von 99% der restlichen über Musik schreibenden Menschen) – und sogar Anflüge von Nostalgie erlaubt er sich, wie diese beiden Buchveröffentlichungen beweisen, für die er seine Plattenkaufkriegskasse geleert und den Keller aufgeräumt hat.

Der Grund: Im Eigenverlag (aka: macht ja sonst keiner, also mach ich’s halt selbst) brachte er „Kurz vor dem Arsch der Welt links ab“ und „Alles was ein Fanzine braucht“ heraus. „Arsch“ ist sowas wie „Dorfpunks“ auf Schwäbisch (also regional gesehen, nicht sprachlich), nur mit wirklich coolen musikalischen Referenzen und Details, sowas wie die Kalle Stilles „Coming of Age“-Bekenntnis, mit dem Unterschied, dass in solchen Büchern normalerweise entweder mit viel Pathos Geschichtsklitterung betrieben wird oder erfundene Geschichten aufgetischt werden, mit denen man am Punkrock-Stammtisch glaubt punkten zu können.

Bei Kalle ist das erwartungsgemäß anders: lakonisch und ironisch werde hier die Teenagerjahre im drögen Stuttgarter Umland aufbereitet, die nur zu ertragen waren durch den bis heute überlebensnotwendigen kulturellen Input in Form von Tonträgern.

Lesen, wenn man selbst in jener Zeit aufgewachsen ist, lesen, wenn man Abenteuergeschichten und Expeditionsberichte aus einer fernen Vergangenheit liebt. Das zweite Buch, ein 750 Gramm schwerer Schmöker für Menschen, denen die Schrift im Ox eigentlich noch zu groß ist, ist ein Sammelwerk aller(?) Fanzine-Artikel, hinter denen kalle stille alias khs alias kh stille alias carlos alias bobtorture alias k-h stille alias Karl-Heinz Stille seit 1983 und bis 2011 gesteckt hat.

In Zeiten, da es noch Telefonbücher gab (ich habe seit Jahren keines mehr gesehen), hätte der Umfang dieses Publikation dem des Anschlussverzeichnisses einer kleineren Großstadt entsprochen.

Herr Stille, der Mann ohne Feierabend, hat dazu also knapp 1000 Seiten Fanzine-Artikel eingescannt und bearbeitet und daraus einen Wälzer erstellt, der die Egozine-Kultur der Achtziger in Erinnerung ruft.

Wer eine Weltreise oder einen Knastaufenthalt plant und nur ein Buch mitnehmen darf, sollte sich für diesen Wälzer entscheiden.