SST Records wurde aus der Not geboren. Greg Ginn, nachhaltig beeindruckt von einem Auftritt der RAMONES 1976 im Roxy Theatre, hatte zwei Jahre lang vergeblich nach Auftritts- und Aufnahmemöglichkeiten in und um Los Angeles für seine Band PANIC! gesucht. Die aufstrebende Hollywood-Punk-Szene um Clubs wie The Masque, The Starwood und das Whisky a Go Go stand den Vorstädtern aus Hermosa Beach zunächst skeptisch gegenüber, weshalb Ginn kurzerhand SST (für „Solid State Tuners“) Electronics, einen von ihm betriebenen Elektroteile-Versand für Funkamateure, zum Plattenlabel umfunktionierte. PANIC! benannten sich um in BLACK FLAG und nahmen in der Besetzung Ginn, Keith Morris, Gary McDaniel (Chuck Dukowski) und Brian Migdol 1978 im Media Art Studio mit Glen „Spot“ Lockett jene vier Songs auf, die anschließend als „Nervous Breakdown EP“ (SST 001) veröffentlicht wurden. Das Cover von Ginns Bruder Raymond Pettibon, das einen in die Ecke gedrängten Mann zeigt, der einen Angreifer mit einem Stuhl abzuwehren versucht, stand stellvertretend für die „Wir gegen den Rest der Welt“-Mentalität, mit der SST Records in den kommenden Jahren zum bedeutendsten Independentlabel der Welt aufsteigen sollte. Bis weit in die Achtziger Jahre galt das Motto: „Ist die Band auf SST, dann kaufe ich die Platte!“ Dafür bekam man unter anderem MINUTEMEN, HÜSKER DÜ, SONIC YOUTH, BAD BRAINS, DINOSAUR JR., MEAT PUPPETS, DESCENDENTS und SOUNDGARDEN. Jim Ruland, unter anderem Co-Autor der lesenswerten Keith Morris Biografie „My Damage“, begleitete den rasanten Aufstieg wie auch den schleichenden Niedergang des Labels und widmet sich in „Corporate Rock Sucks“ chronologisch den einzelnen Gegnern, mit denen die Labelbetreiber über die Jahrzehnte in den Ring gestiegen sind (SST vs. Bomp!, Hollywood, Media, College Radio, MTV ...). Greg Ginn steht schon lange nicht mehr für Interviews zur Verfügung und scheint spätestens seit dem Umzug nach Texas sämtliche Brücken hinter sich abgebrannt zu haben. Die Arbeit des Autors bestand daher zum überwiegenden Teil aus akribischer Recherche, dokumentiert durch ein zwanzigseitiges Quellenverzeichnis, ohne dass dies den Erkenntnisgewinn für den Leser schmälern würde. Die Gründe für den Niedergang von SST Records sind zahlreich und umfassend dokumentiert; neben ausstehenden Tantiemenzahlungen und zahlreichen Rechtsstreitigkeiten (U2, NEGATIVLAND) sieht Ruland vor allem zwei strategische Fehler: Erstens das Zerwürfnis zwischen Ginn und seinen einstigen Mitgesellschaftern Joe Carducci, Steve „Mugger“ Corbin und Chuck Dukowski, die für das Label stets durchs Feuer gegangen waren. Zweitens weder „Daydream Nation“ von SONIC YOUTH veröffentlicht noch NIRVANA unter Vertrag genommen zu haben, obwohl Mark Lanegan Ginn hierzu mehrfach geraten hatte. Die zunehmend erratische Veröffentlichungspolitik des Labels war sicher zum Problem geworden, allerdings haben NIRVANA- und GREEN DAY-Tantiemen Labels wie Sub Pop und Lookout! Records auch nicht davor bewahrt, jede Menge Unsinn anzustellen. Ruland widersteht auch der Versuchung, Ginn als alleinigen Sündenbock hinzustellen; vielmehr versucht er, ihm als Fan eine Brücke zu bauen, indem er ihm zur Herausgabe der Originalaufnahmen an die Bands seines Labels rät, bevor im Urheberrecht versierte Rechtsanwälte dies erledigen. In diesem Zusammenhang wirft der Autor dann noch eine durchaus beunruhigende Frage auf: Weshalb hat Ginn sich nicht schon längst der Jubiläums-Manie angeschlossen und Luxuseditionen von „Damaged“, „Zen Arcade“ oder „Double Nickels On The Dime“ veröffentlicht? Eine Vermutung geht dahin, dass die Originalaufnahmen wegen des Klimas in der South Bay und unzureichender Lagerung nachhaltigen Schaden genommen haben könnten.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #164 Oktober/November 2022 und Norbert Johannknecht