Zu Beginn von Mathieu Kassovitz’ Film „Hass“ von 1995, der 24 Stunden im Leben von drei jugendlichen Banlieue-Bewohnern zeigt, deren Welt von Gewalt, Drogen und Polizei-Schikanen geprägt ist, sieht man, wie ein Molotowcocktail Richtung Erde fliegt und diese in Brand setzt. In Ladj Lys Spielfilmdebüt „Die Wütenden – Les Misérables“ sieht man so einen Molotowcocktail in der letzten Szene, erfährt aber nicht, ob dieser die Hand seines Besitzers verlässt. Wie „Hass“ spielt auch Lys „Die Wütenden“ in einem der berüchtigen Vororte von Paris. Seit Kassovitz’ Film hat sich in dieser Hinsicht leider nicht viel geändert, denn der soziale Sprengstoff in den benachteiligten Randgebieten der französischen Großstädte entlädt sich regelmäßig in kollektiver Gewalt. Während Kassovitz einen Vorfall aus dem Jahr 1993 für seinen Film aufgriff, bei dem ein junger Zairer während eines Verhörs auf einem Polizeirevier von einem Polizisten erschossen wurde, dienten Ly die Unruhen von 2005 als Inspiration, wo zwei Jungen auf der Flucht vor der Polizei starben. Lys Hauptfiguren sind allerdings drei Polizisten, die ihren Dienst in einem Vorort von Paris ableisten, und deren menschenverachtender Umgang mit den Bewohnern ein Grund für die dortigen Spannungen ist. Als ein Junge bei einem Polizeieinsatz durch ein Gummigeschoss schwer verletzt wird und dies von einer Drohne gefilmt wird, beginnt eine Jagd auf diese Filmaufnahmen, denn die Cops befürchten eine weitere schwere Gewalteskalation. Mit Victor Hugos Roman „Les Misérables“ („Die Elenden“) hat Lys Film zwar wenig zu tun, zeigt dafür aber ähnlich eindringlich und schonungslos wie „Hass“ die soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung in den Banlieues, ohne als ernstzunehmende soziale Studie zu taugen, denn dafür wirkt die Geschichte trotz des authentischen Milieus letztendlich viel zu unplausibel.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #150 Juni/Juli 2020 und Thomas Kerpen